Berlin-Raub, Körperverletzung, Einbruch oder sexuelle Übergriffe: Etwa 70.000 Gewalttaten registriert die Berliner Polizei in jedem Jahr. Aufmerksamkeit erregen aber meist nur die spektakulären Kriminalfälle. Viele „kleine“ Fälle sind allenfalls eine Kurzmeldung im Polizeibericht. Doch wie geht es den Betroffenen alltäglicher Kriminalität? Was machen ihre Erfahrungen mit ihnen? Die Berliner Zeitung am Wochenende hat mit Menschen gesprochen, die ihr von der Opferhilfe-Organisation Weißer Ring vermittelt wurden. Die neue Serie: Die vergessenen Fälle.
Doris B. wäre fast totgeschlagen worden. Am Nachmittag des 12. August 2015 war die heute 83-jährige Berlinerin im Neuköllner Ortsteil Rudow eigentlich auf dem Weg zur Krankengymnastik. Die gehbehinderte Frau ging an Krücken durch die Einfamilienhaus-Siedlung in ihrer Nachbarschaft.

Am 11./12. Dezember 2021 im Blatt:
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Plötzlich stürmte ein Mann aus einem der angrenzenden Häuser. Mit einem Messer bewaffnet rennt er auf eine Frau zu, die vor Doris B. auf dem Gehweg läuft. Er sticht mehrmals auf die Frau ein, fügt ihr Schnittwunden an der Brust und am linken Arm zu. Als er dazu ansetzt, ihr das Küchenmesser in die Brust zu rammen, wehrt sich das Opfer und schützt sich mit einer Ledertasche – das Messer des Täters bricht ab, die Frau kann fliehen. Doch jetzt wendet sich der Mann der schockierten Doris B. zu. Er entreißt ihr eine Krücke und schlägt damit auf sie ein. Immer und immer wieder. Selbst als sie bereits am Boden liegt, tritt er noch mehrmals zu, auch gegen den Kopf der Rentnerin. Die Tritte des Täters hören erst auf, als sie jemanden schreien hört. „Ich machte die Augen auf und sah drei Männer, die ihn festhielten“, erinnert sie sich. „Die haben mich gerettet.“ Es waren drei Kroaten, die vom Zwickauer Damm herübergerannt gekommen waren.
Sie hätte sich so gern bei den Helfern bedankt
Doris B. sitzt bei unserem Gespräch auf dem Sofa in dem Haus, das ihr Vater erbaut hat und in dem sie seit ihrer Geburt ohne Unterbrechung lebt. Sie spricht viel und schnell. Im Gegensatz zu vielen anderen Betroffenen von Straftaten möchte sie über ihre Erlebnisse reden. Es hilft ihr dabei, das Geschehen zu verarbeiten. Früher war Doris B. Gehilfin für Buch- und Rechnungswesen. Das macht sich auch im Gespräch mit der Berliner Zeitung am Wochenende bemerkbar. Sauber und ordentlich hat sie den nervenaufreibenden Briefwechsel mit den Behörden abgeheftet – samt Kopien, man weiß ja nie, wofür man sie noch braucht.
Doris B. breitet Fotos auf dem Sofatisch aus. Sie zeigen die vielen Blutergüsse an ihrem Körper, die beiden großen genähten Platzwunden, die sich über ihren an diesen Stellen rasierten Kopf ziehen. Sie hatte eine Gehirnerschütterung, ihr rechter Mittelhandknochen war gebrochen, ein Finger ihrer rechten Hand wurde ausgekugelt, sie kann ihn nicht mehr bewegen. Nachts kann sie bis heute nicht mehr richtig schlafen. Sie hat Kopfschmerzen.
„Ich bin den drei Männern, die mir geholfen haben, beim Prozess nicht begegnet“, sagt Doris B. „Ich hätte mich so gern bei ihnen bedankt“, sagt sie, während ihre Stimme bricht. „Ich habe überall angerufen und wollte, dass sie eine kleine Anerkennung kriegen oder wenigstens bleiben dürfen. Die mussten im Winter zurück, sie wurden abgeschoben.“
Der Täter musste einen Christen töten
Der damals 36-jährige Mann, der Doris B. zusammenschlug, ist psychisch krank. Einige Tage zuvor hatte er im Klinikum Neukölln eine Krankenschwester verprügelt, nachdem er, wie das Berliner Landgericht feststellte, wegen seiner psychischen Erkrankung nicht adäquat behandelt worden war. Er konsumierte laut Gerichtsakte seit fast zehn Jahren regelmäßig Cannabis und Kokain. Er leidet an Schizophrenie und glaubte damals, dass es auf der Welt drei Mächte gäbe, die miteinander im Wettstreit stünden, nämlich das Christentum, der Islam und die Satanisten. Er selbst sei auserwählt und müsse dafür Sorge tragen, das Gleichgewicht dieser Mächte zu erhalten. Er hatte die Vorstellung, dass das Christentum mit „plus 1“ führe, sodass er einen unschuldigen Christen töten müsse, um das Gleichgewicht wiederherzustellen.
Nach der Tat wurde er kurzfristig im Maßregelvollzug untergebracht. Die Polizisten gaben Doris B. die Adresse des Weißen Rings, einer Organisation, die sich um Opfer von Straftaten kümmert. Sie erhalten bei dem gemeinnützigen Verein schnelle und direkte Hilfe. Der Weiße Ring unterhält ein deutschlandweites Netz von rund 2900 ehrenamtlichen Helfern in mehr als 400 Außenstellen. Der Verein stellte Doris B. einen Anwalt und empfahl ihr, einen Opferentschädigungsantrag zu stellen.
Denn unschuldige Opfer einer Gewalttat und deren Hinterbliebene haben ein Anrecht auf Entschädigung für gesundheitliche und wirtschaftliche Folgen. So können Heil- und Krankenbehandlung gewährt werden oder Renten, wenn die Schädigungsfolgen einen bestimmten Grad erreichen. Das Gesetz beruht auf dem Gedanken, dass der Staat für den Schutz seiner Bürger vor Gewalttaten und kriminellen Handlungen verantwortlich ist, denn er hat das Gewaltmonopol.
Täter will sich „in tiefster Demut“ entschuldigen
„Mein Vater hat immer gesagt: Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott, auch wenn ich mit Religion und Kirche nichts am Hut habe. Ich bin auch von meinen Eltern nicht betüddelt worden, aber habe auch nie Schläge gekriegt“, sagt Doris B. „Ich bin sehr selbstständig und wollte eigentlich nach der Tat niemanden sehen, niemanden hören, kein Fernsehen, nichts. Ich wollte auch den Weißen Ring nicht in Anspruch nehmen und alles allein schaffen. Und dann kam von dem Täter ein Entschuldigungsschreiben. Da bin ich in Panik geraten. Der will raus. Und da habe ich mich erst an den Verein gewendet.“
Aus dem Maßregelvollzug hatte der Schläger Doris B. einen Brief geschrieben: „Ich möchte mich sehr gerne und in tiefster Demut für meine Taten entschuldigen. Ich muss anerkennen, dass dieser Mensch, der ich zur Tatzeit war, irgendwo tief in mir schlummert und danke Gott dafür, dass es nicht schlimmer gekommen ist.“ Schadensersatz oder Schmerzensgeld zahlte er jedoch nie. Weil der Täter in ihrer Nähe wohnt, fürchtet die Rentnerin seitdem, ihm auf der Straße zu begegnen.
Sie war im April 2016 im Landgericht, weil sie ihm in die Augen sehen wollte. Doch er versteckte diese hinter dem Geländer, das den Angeklagten-Stand vom Saal abtrennt. Weil keine Fluchtgefahr bestand, konnte er den Gerichtssaal ohne weitere Auflagen verlassen.
Doris B. kennt inzwischen viele bürokratische Begriffe
Nach Gewaltdelikten geht es vor allem um den Täter. Um ihn kümmern sich die Polizei, die Staatsanwaltschaft, das Gericht und auch das Gefängnis. Die Opfer spielen als Geschädigte oder Zeugen in den Mühlen der Justiz allenfalls eine Nebenrolle. Doch sie tragen die schwere Last der Tat manchmal Jahrzehnte mit sich herum.
Doris B. lag im Krankenhaus. Als sie nach Hause kam, lag ein Brief der Krankenkasse im Kasten, dass sie einen „Unfall“ gehabt habe. Doch es war ja kein Unfall, sondern ein Überfall. Doris B. füllte den Fragebogen nicht aus, dafür bekam sie eine Mahnung. „Die machen eigentlich die Menschen kaputt“, sagt sie. Von Opfern wird erwartet, dass sie sich um ihre Belange selbst kümmern. Vom Landesamt für Gesundheit (Lageso) bekam sie ein Schreiben, dass sie ein Recht auf Opferentschädigung habe und einen Antrag stellen könne.
Das tat sie, und es entspann sich ein schier endloser Briefwechsel. „Schädigungsfolgen, „Grad der Schädigung“, „Anerkennung“, „Bescheid“ , „nicht zuständig“ – die 83-Jährige ist mit der Opfer-Bürokratie und den im kühlen Amtsdeutsch verfassten Ablehnungsschreiben mittlerweile bestens vertraut. Ihr Kampf mit den Behörden füllt inzwischen einen dicken Leitz-Ordner. Allein der Opferentschädigungsantrag hatte 14 Seiten.
Täter verlässt das Gericht als freier Mann
Über die Tat kann Doris B. reden. Nur wenn etwas unvorbereitet auf sie zukommt, wirft es sie um. So war es, als sie vom Lageso zu einem psychologischen Gutachter geladen wurde, weil für die Zahlung nach dem Opferentschädigungsgesetz festgestellt werden sollte, inwieweit die Tat sie mental geschädigt hat. Im Nachhinein ärgert sie sich, dass sie ihr ganzes Leben offengelegt hat. Den Kampf mit den Ämtern hat sie aufgegeben. Sie sagt: „Ich habe nicht mehr die Kraft, zu kämpfen wie früher.“
Das Berliner Landgericht ordnete im Juni 2016 noch die Unterbringung des Täters im Maßregelvollzug an. Doch es setzte die Vollstreckung zur Bewährung aus. Das Gericht folgte der Einschätzung des Sachverständigen, wonach bei dem Angeklagten Einsicht bestehe, dass er dringend ärztlicher Behandlung bedürfe. Auch zeige der Beschuldigte eine gewisse Krankheitseinsicht und sei mittlerweile bereit, sich medikamentös behandeln zu lassen. Der Täter verließ das Gericht als freier Mann. „Draußen überholten er, seine Mutter und sein Halbbruder mich und lachten mir ins Gesicht“, sagt Doris B.
