Raub, Körperverletzung, Einbruch oder sexuelle Übergriffe: Etwa 70.000 Gewalttaten registriert die Berliner Polizei in jedem Jahr. Oft stehen nur die Täter im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Doch wie geht es den Betroffenen noch nach Jahren? Die Berliner Zeitung hat mit Menschen gesprochen, die ihr unter anderem von der Opferhilfeorganisation Weißer Ring vermittelt wurden. Die Serie: Die vergessenen Fälle.
Da ist dieses kluge dumme Sprichwort: „Die Zeit heilt alle Wunden.“ Bei Karin G. ist das nicht so. Am 7. März 2018 tötete Hannes E.*, der damals 15 Jahre alt war, ihre 14 Jahre alte Tochter Keira. Er hatte sich mit ihr, die nichts Böses ahnte, in der Wohnung in Hohenschönhausen verabredet, angeblich, um zusammen Hausaufgaben zu machen. Sein Vorhaben hatte er sorgsam geplant, hatte sich eine Kopfhaube und Handschuhe mitgenommen, um keine Spuren zu hinterlassen. Er wollte wissen, wie es ist, einen Menschen umzubringen, wie das Gericht später feststellte. Mehr als 20 Mal stach er auf das Mädchen ein. Als Karin G. von der Arbeit nach Hause kam, fand sie ihre sterbende Tochter.
Die Tat an sich, das Alter des Opfers und des Täters sorgten bundesweit für Entsetzen und machen auch vier Jahre danach noch immer ratlos. An diesem Donnerstag jährt sich Keiras Beisetzung, zu der damals 300 Menschen gekommen waren. Hannes E. wurde einige Tage nach der Tat festgenommen. Eine Jugendkammer des Landgerichts verurteilte ihn später zu neun Jahren Haft.
Vier Jahre später sind wir mit der Mutter in einem Café verabredet, gegenüber der Eishalle im Sportforum, wo Keira Eisschnelllauf trainiert hatte. Sie war ein hoffnungsvolles Talent.
Karin G. sitzt aufrecht, sie scherzt und kann auch lachen. Sie trägt Keiras Jacke. Etliche Interviews hat sie schon gegeben, weil sie im Gegensatz zu anderen Hinterbliebenen und Opfern von Kriminalität sprechen will, auch wenn das Reden darüber – und das ist noch so ein Mythos – nicht wirklich hilft. Denn bei manchen Leuten wäre es besser gewesen, nichts zu erzählen, weiß die Frau inzwischen. Wenn sie ihr danach wieder begegnen, wissen sie nicht, wie sie mit ihr umgehen sollen. Einer erzählte, er kenne das Gefühl. Seine Oma sei neulich auch gestorben. Andere umschiffen alle Klippen, indem sie nicht mehr vom Kindergeburtstag daheim berichten, aus Angst, Karin G. zu verletzen. Aber wenn jemand sie fragt, dann bekommt er auch eine Antwort. Karin G. verleugnet ihre Tochter nicht. Doch selbst enge Freunde kennen die ganze brutale Wahrheit nicht. Weil die nicht auszuhalten wäre.
Die kennt nur die mutige Karin G., die gezwungen wurde, ihr Leben neu zu organisieren.
Der Täter behauptet: Keira wollte sterben
Der Täter ist inzwischen 19 Jahre alt. Er habe den Slang seiner Mitgefangenen angenommen, heißt es aus Justizkreisen. Er bekomme regelmäßig Besuch von seiner Familie. Auch eine Berufsausbildung werde ihm zuteil. Um Täter kümmert man sich. Vier von neun Jahren hat er schon abgesessen. Seine Eltern finden, dass ihr Sohn zu Unrecht im Gefängnis ist. Sie zogen gegen das Urteil bis vor den Bundesgerichtshof und sind jetzt beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte angekommen.
Der Täter behauptete von Anfang an: Keira wollte sterben. Sie wollte erstochen werden. Doch alle, die Freunde, die Trainer, die Mutter, die Polizisten, die Staatsanwaltschaft, die Richter sagen: Dieses lebensfrohe Mädchen wollte sich nicht umbringen. Niemals!
„Wenn die Eltern nicht akzeptieren können, was der Sohn getan hat, sondern dagegenreden, dann wird er darin bestärkt, dass er zu Unrecht in Haft sitzt“, sagt Karin G. Sie glaubt, dass er wieder etwas Schlimmes tun wird, wenn er draußen ist. „Denn ich bin der Meinung, dass er nichts aus dem Prozess gelernt hat.“ Bis heute ist nicht aufgeklärt, warum Hannes E. es tat und was er empfand.
Mit den Eltern des Täters konnte Karin G. bisher nicht sprechen. Wenn sie die Möglichkeit dazu hätte – was würde sie sagen? Sie überlegt lange bei der Frage. „Was soll man Leuten sagen, die so morallos, so empathielos, so anstandslos und mutlos sind? Denn sie sind nie auf mich zugegangen, dazu gehört auch Mut und ein Arsch in der Hose!“
Vier Jahre nach der Mordtat: Zeit heilt keine Wunden
Ein Jahr nach dem Mord an Keira gab es auf Usedom eine ähnliche Tat. Ein 19- und ein 21-Jähriger töteten heimtückisch – „aus Mordlust“ – eine 18-jährige Bekannte mit zahlreichen Messerstichen. Sie wollten einen Menschen sterben sehen, befand das Gericht. Genau wie bei Keira hatten sie sich mit der jungen Frau zuvor verabredet. Karin G. dachte sofort an eine Nachahmer-Tat.
Nein, Zeit heilt keine Wunden. Nichts wird gut. „Sie können einen Teller runterwerfen und ihn wieder kleben. Aber er wird nie wieder der alte Teller sein. Wunden auf der Haut hinterlassen Narben. Und das ist hier keine Wunde, sondern ein Teil des Herzens fehlt. Wenn man sagt, etwas heilt, dann heißt es ja, alles ist wieder gut.“ Karin G. passt sich lediglich ans Leben an. Und der Schmerz verändert sich. Aber nicht zum Guten.
Nach dem Tod ihrer Tochter trat sie in den Eislaufverein ein und lernte Schlittschuhlaufen. Die früheren Trainingspartner von Keira seien geduldig mit ihr, sagt sie. Von Beruf ist die 45-Jährige Kauffrau für Büromanagement. Seit der Tat ist sie in psychotherapeutischer Behandlung.
Der 7. März dieses Jahres war so schwer wie kein Todestag vorher. Karin G. behauptet von sich, dass sie nicht normal sei und anders als andere, dass sie sich nicht ablenke und jedes Mal bewusst in diesen 7. März gehe. Die stundenlangen Aussagen bei der Polizei, die Interviews, die sie nach Keiras Tod den Medien gab, seien nur möglich gewesen, weil sie von Anfang an strukturiert war. Sie fing auch einige Wochen später wieder an zu arbeiten. Bis zum Prozess. Dann ging es nicht mehr.

Aber gehen lassen wollte sie sich nicht. „Es gibt drei Wege, wie man mit so etwas umgeht: Man springt von der Brücke, man versinkt in Drogen und Alkohol oder man macht irgendwie weiter. Wenn man diesen Weg wählt, muss man sich Hilfe holen, man kann es nicht allein verarbeiten. Ohne den Therapeuten wäre ich nicht mehr da“, sagt sie. Sie hat sich dazu entschlossen, weiterzumachen – Keira zuliebe. „Abgesehen davon, dass Keira mir in den Hintern getreten hätte, wenn nicht.“
Wäre der Mord an Keira zu verhindern gewesen?
Bei Kapitalverbrechen wie diesem steht des Öfteren die Frage im Raum: Wäre die Tat zu verhindern gewesen, wenn alle vorher richtig hingesehen hätten? Eltern, Jugendämter, Lehrer, Freunde und so weiter. Karin G. sieht die Eltern in der Verantwortung und nicht so sehr die Schule. Denn der Täter war nicht isoliert, kein Einzelgänger wie jener 24-Jährige, der vor zwölf Jahren auf einem Berliner Recyclinghof eine Kollegin ermordete, weil er laut Gutachter wissen wollte, wie es ist, „in echt zu töten“, wofür er zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt wurde.
Auf ihre Tochter, die den Mörder in die Wohnung ließ, kann die Mutter auch nicht böse sein. Denn es gab keine Anzeichen, dass Hannes E. sie umbringen wollte. Manchmal wirft sich die Mutter vor, dass sie nicht zu Hause war. Aber wenn sie eine Stunde früher da gewesen wäre, dann hätte der Täter sich wohl zu einem anderen Zeitpunkt mit Keira verabredet. Und so drehen sich die Gedanken auch heute noch im Kreis.
„Es gibt so einen Spruch: Engel kann man nicht sehen, aber man kann ihnen begegnen“, sagt die Mutter. „Keira war erst 14. Aber was sie für einen Fußabdruck hinterlassen hat, was sie mit ihrer Persönlichkeit den anderen Menschen gegeben und für einen Eindruck hinterlassen hat, das schaffen andere mit 80 nicht.“
Im Sportverein trifft Karin G. immer neue Leute, die Keira nicht vergessen. Es sind Jugendliche, die sich von Jahr zu Jahr weiterentwickeln. „Ich bin fasziniert und stolz auf meine Tochter, darauf, was sie geleistet hat, hier auf der Erde. Wenn sie aber sauer war, dann haben die Betreffenden es auch gemerkt. Sie hat die Jungs in der Klasse zurechtgestutzt, wenn der Lehrer bei ihnen nicht mehr weiterkam. Sie hat sich auch vor die Schwachen gestellt. Sie war so viel weiter als viele andere. Wenn viele sagen: Keira ist so wie du, dann sage ich immer: Nein, ich bin so wie Keira. Sie hat mir das beigebracht. Ich war vorher nicht so. Deshalb bin ich auch so dankbar für diese Zeit mit ihr.“
Karin G. hat seit einiger Zeit eine neue Arbeit. Sie mag den Job, hat nette Kollegen, von denen die meisten nicht wissen, was ihr widerfuhr. Dort ist sie einfach nur die Karin. Mehr als 30 Bewerbungen hatte sie geschrieben. Dass sie jetzt dort ist, wo sie ist, muss einen Grund haben. Und sie weiß, welchen: Keira. Sie hätte es cool gefunden, dass ihre Mutter so hartnäckig für ein gutes Leben kämpft und jetzt dort arbeitet.
Bis heute lebt sie in der Wohnung, in der der Mord geschah. Keiras Zimmer hatte sie bis vor Kurzem so belassen. Jetzt nahm sie eine ukrainische Freundin bei sich auf. Sie zog in Keiras Zimmer und machte ihr Schlafzimmer für die Freundin frei. Bei Keira räumte sie ein klein wenig um. Karin G. macht kleine Schritte bei den Veränderungen. „Ich schlafe jetzt auch in Mäuschens Bett, weil ich weiß, Keira hätte es gut gefunden, dass ich jemandem mein Zimmer gebe, sie hätte genauso gehandelt.“
Für Karin G. ist der Geburtstag von Keira schlimmer als der Todestag
Mit der Zeit wird nichts besser. Jedes Jahr wird es schlimmer. Der Geburtstag ist schlimmer für Karin G. als der Todestag. Der Todestag katapultiert sie jedes Mal wieder zurück in die Vergangenheit, zu dem Schrecken, der passierte. Aber der Geburtstag, das ist die Zukunft, die einem genommen worden ist. Jetzt wäre Keira schon 18. Sie wäre vielleicht auf dem Gymnasium.
Es gibt viele Dinge, die Karin G. an ihre Tochter erinnern. „Wenn ich einen Regenbogen sehe, dann denke ich: Ach, Mäuschen, könntest du den doch auch sehen!“ Sie habe sich um 180 Grad geändert, sagt die Mutter. Sie beachte Kleinigkeiten, zum Beispiel, wenn mal wieder eine Biene fliegt. Und sie bemerkte an sich, dass sie kälter geworden ist. „Wenn die Leute über alltägliche Probleme jammern, zum Beispiel, dass der Sprit teurer geworden ist, denke ich: Deine Probleme hätte ich gern“, sagt sie und lächelt schief. Hass auf alles würde ihr aber nichts bringen. Denn sie findet, es hätte noch schlimmer kommen können. Zum Beispiel, dass ihre Tochter verschwunden wäre wie damals Georgine Krüger aus Moabit. „Oder die Ukraine. Du bist mit deinem Kind auf der Flucht, und das Kind wird neben dir weggebombt.“
Das Grab ihrer Tochter liegt auf dem Friedhof direkt neben der Eishalle, in der das Mädchen früher trainierte. Freunde und Unbekannte bringen immer wieder frische Blumen. Karin G. steht vor dem Grab. Keiras Jacke passt ihr seltsamerweise, obwohl ihre Tochter einen halben Kopf kleiner war als sie. Auch die Schlittschuhe ihrer Tochter passen ihr.

