Kriminalität: Die vergessenen Fälle

„Nach dem Wohnungseinbruch ging die Angst nie wieder weg“

Das Ehepaar aus dem Süden Berlins war im Urlaub, als es geschah. Wie es sich anfühlt, wenn sogar die Unterwäsche durchwühlt ist.

Der Horror für jeden: Mehr als 7000 Fälle von Wohnraumeinbruch erfasst die Polizei jedes Jahr. Die Aufklärungsquote liegt bei etwa 12 Prozent.
Der Horror für jeden: Mehr als 7000 Fälle von Wohnraumeinbruch erfasst die Polizei jedes Jahr. Die Aufklärungsquote liegt bei etwa 12 Prozent.imago stock&people

Raub, Körperverletzung, Einbruch oder sexuelle Übergriffe: Etwa 70.000 Gewalttaten registriert die Berliner Polizei in jedem Jahr. Aufmerksamkeit erregen aber meist nur die spektakulären Kriminalfälle. Viele „kleine“ Fälle sind allenfalls eine Kurzmeldung im Polizeibericht. Doch wie geht es den Opfern alltäglicher Kriminalität? Was macht das Geschehene mit ihnen? Die Berliner Zeitung am Wochenende hat mit einigen Betroffenen gesprochen. Die Serie: Die vergessenen Fälle.

Anna Müller* und ihr Mann waren auf Hiddensee im Urlaub, als es passierte. Es war Anfang September 2015. Müde vom Wandern wollte das Paar in eine Gaststätte einkehren. Als beide vor der Tür die Speisekarte lasen, klingelte das Handy. „Bei euch wurde eingebrochen, die Terrassentür stand offen“, sagte die Nachbarin am anderen Ende. Sie habe auch gleich die Polizei gerufen.

Das Ehepaar erstarrte. Die 51-jährige Anna Müller dachte: So etwas passiert doch immer nur anderen! Das war’s mit dem Urlaub, den sie jetzt zwei Tage früher abbrechen werden. Entsetzen breitete sich langsam in ihnen aus und mit dem Entsetzen die Bilder vorm inneren Auge: vom verwüsteten Zuhause, den durchwühlten Sachen – und was ist mit der Briefmarkensammlung?

Jetzt telefonierten sie mit der Polizei, kündigten das Ferienhaus, packten die Reisetaschen. Im Hafen verpassten sie die Fähre. Zwei Stunden später dann endlich das nächste Schiff. Das Auto stand auf dem Parkplatz in Schaprode. Der Mann trat auf das Gaspedal. Die Fahrt zurück nach Berlin - endlos. Und immer wieder diese Bilder. Und die Vorstellung, dass Fremde im Haus waren.

Ihr Einfamilienhaus, das sie sich gebaut haben, steht in einer Siedlung in Treptow-Köpenick, auf einem sogenannten Hammergrundstück in zweiter Reihe. Vom Wohnzimmer tritt man durch eine Tür auf die gepflasterte Terrasse. Die Einbrecherbande hatte sich damals durch die Siedlung gearbeitet und ein Haus nach dem anderen heimgesucht. Sie waren von zwei Seiten gekommen und hatten sich wohl im Haus des Ehepaares getroffen, wie die Polizisten vermuten, als sie die Tatorte besichtigen: Denn auf der einen Seite war die Terrassentür offen, auf der anderen das Toilettenfenster. Die Täter hatten mit einem Gasbrenner Löcher in den Tür- und den Fensterrahmen aus Kunststoff gebrannt und dann mit einem Haken die Verriegelung aufgezogen. So waren sie auch in sieben anderen Häusern vorgegangen, auch bei Annas direktem Nachbarn.

Sogar in der Waschmaschine hatten die Einbrecher nachgeschaut

Gegen 22 Uhr kam das Ehepaar endlich daheim an. Annas Vater hatte solange Wache gehalten. Die Polizei war längst weg. Nun sahen sie die Verwüstungen. Alle Schubladen im Wohnzimmer und der Küche waren herausgerissen und ausgekippt. Auf dem Boden lagen ärztliche Laborberichte, Bankunterlagen, Briefe und Fotos vom letzten Urlaub. Die Brotbüchse war offen, so wie alle Blechbüchsen, in denen die Einbrecher Geld vermuteten, Töpfe standen durcheinander. Auch im Kühlschrank und sogar in der Waschmaschine hatten sie nachgeschaut. Im Schlafzimmer war die Unterwäsche durchwühlt, die Schlafanzüge, die Bettwäsche, die Handtücher lagen draußen. Im Bad war der Fön aus einer Holzkiste geräumt.

Die Briefmarkensammlung war noch da, auch das Teleskop, mit dem sie manchmal in die Sterne geschaut hatten. Wie in den meisten Fällen stahlen die Einbrecher auch hier die kleinen Dinge, die schnell in Taschen zu verstauen sind. Dinge, an denen das Paar hängt: Erbstücke von der Oma wie eine vergoldete Spangenuhr, Broschen aus Silber und Emaille. Der Bilderrahmen mit dem Kunstdruck „Gotische Kirchenruine im Walde“ war abgehängt und stand an die Wand gelehnt. Die Täter hatten dahinter wohl einen Tresor vermutet.

Eine freundliche Polizistin, die sich am nächsten Tag mit Anna über eine Stunde lang unterhielt, riet ihr, mechanische Sicherungen einzubauen, die es Einbrechern schwerer machen. „Wenn Sie richtig sicher sein wollen, müssen Sie Gitter vor die Fenster bauen.“ Inzwischen hat das Paar verschließbare Griffe an den Fenstern und der Terrassentür. Diese ist jetzt oben mit einem zusätzlichen verschließbaren Riegel versehen. Die Schließmechanik haben sie mit zusätzlichen Pilzköpfen nachrüsten lassen, die beim Zuschließen in Bleche greifen. Die Haustür ist jetzt mit einem neuen Schloss und einem Sicherheitsbeschlag versehen.

Ehemann schläft mit einer Axt unter dem Bett

„Bei Jalousien zum Runterlassen haben wir leider gespart“, sagt Anna. Die Polizistin hatten ihnen auch geraten, die hohen Hecken zu stutzen, so dass die Nachbarn besser hinsehen können. Denn hohe Hecken schützen nach Erfahrung der Polizei zwar vor neugierigen Blicken der Nachbarn, sie geben aber auch Einbrechern Deckung.

Die Angst ging trotzdem nie wieder weg. Der Ehemann hat seitdem eine kleine Axt unter dem Bett zu liegen. Für die nächsten Einbrecher – wissend, dass er im Ernstfall wegen Totschlags oder Mordes angeklagt werden könnte. Bei den Nachbarn waren die Täter eingebrochen, als sie oben schliefen, beim anderen Nachbarn, als der nur mal kurz einkaufen war, erzählt das Paar.

„Ich habe zwei Tage in dem Haus nur geputzt, die ganze Wäsche gewaschen, den Fußboden geschrubbt, die Wände im Bad. Ich wollte alles nur weg haben“, sagt Anna Müller. Auch die Spurensicherungsarbeiten der Polizisten hatten überall schwarze Flecken hinterlassen. Um die Fingerabdrücke der Einbrecher zu identifizieren, hatten die Beamten mit einem feinen Pinsel Rußpulver auf Türrahmen, Fenster, Büchsen in der Küche und alle Gegenstände gestrichen, die von den Tätern vielleicht angefasst worden waren.

Das Paar bekam später einen Brief von der Polizei. Es möge sich im Landeskriminalamt in Tempelhof melden, um die eigenen Fingerabdrücke abzugeben. So wollte die Polizei die eigenen Spuren der Eheleute bei den Ermittlungen ausschließen.

Anwohner gründeten Bürgerwehren

Die Fahrt zur Polizei war dann nicht mehr nötig. Denn die Fahnder hatten inzwischen Mitglieder einer albanischen Einbrecherbande ermittelt, die von Juli bis Oktober hunderte Einbrüche verübt hatte – meist nachts, wenn die Bewohner schliefen. Die Einbrecher hatten ihre Taten unter anderem in Bernau und Oranienburg und in Treptow-Köpenick verübt. Und zwar so zahlreich, dass Anwohner bereits Bürgerwehren gründeten angesichts der ausbleibenden Ermittlungserfolge der Polizei.

Immer waren die Täter auf die gleiche Weise vorgegangen: indem sie Löcher in Fenster- und Türrahmen schmolzen. Anhand dieses ungewöhnlichen Modus Operandi konnte die Polizei irgendwann einen Zusammenhang zwischen den Taten herstellen. Die Einbrecher waren besonders dreist. Wurde ein Hausbewohner doch einmal wach und rief die Polizei, so verschwanden die Täter nicht etwa aus dem Einbruchsgebiet. „Sie stiegen zwei Straßenzüge weiter erneut ein“, erzählte eine Kriminalbeamtin später vor Gericht. „So etwas habe ich noch nie erlebt. Das zeugt von einer unglaublichen Abgebrühtheit.“ Einer der Beschuldigten habe als Fahrer fungiert und die anderen Männer in das jeweilige Einbruchsgebiet gefahren. Zudem habe es einen Verwerter und Organisator gegeben, der das Diebesgut verkaufte und die Täter mit gefälschten griechischen Pässen und angemietetem Wohnraum versorgte.

Einige Wochen, nachdem bei Anna Müller und ihrem Mann eingebrochen wurde, konnte die Polizei vier Mitglieder dieser Bande in Brandenburg festnehmen. Sie waren gerade in ein Einfamilienhaus eingebrochen. Im Auto der 22 bis 31 Jahre alten Männer fanden die Ermittler Diebesgut, Einbruchswerkzeug und einen Gasbrenner. 2016 mussten die Täter sich dann vor dem Berliner Landgericht verantworten. Sie konnten bei weitem nicht für alle Fälle verantwortlich gemacht werden. Die Anklage listete 21 Einbrüche auf, in denen die Angeklagten Schmuck, Uhren, Geld, Goldbarren und Elektronikgeräte im Wert von 37.000 Euro erbeuteten. Die Albaner wurden zu Haftstrafen verurteilt. Ihren Schmuck hat Anna Müller nicht zurückbekommen.

„Jetzt, wenn ich darüber rede, wird mir speiübel. Dieser Einbruch hat unser Leben mächtig beeinflusst“, sagt sie. „Es bleibt das Gefühl von Ekel und absoluter Unsicherheit.“ Kurz dachten sie darüber nach, das Haus zu verkaufen. Wenn sie wegfahren, dann verstecken sie den Schmuck und alles, was ihnen wertvoll ist. Jedes Mal, wenn sie von der Arbeit kommen, inspizieren sie das Haus, ob noch alles in Ordnung ist. „Du hast nie wieder das unbeschwerte Gefühl, dass das hier alles deins ist“, sagt sie. „Alles ist befleckt.“

*Name von der Redaktion geändert


Dieser Text ist in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung erschienen – jeden Sonnabend am Kiosk oder hier im Abo.