Kriminalität: Die vergessenen Fälle

Wie der Staat das Opfer eines Sprengstoff-Anschlags allein lässt

Dieter G. bemüht sich seit nunmehr acht Jahren um eine Opferentschädigung. Der Täter, der ihn schwer verletzte, wurde nicht bestraft.

Allein in Berlin-Neukölln.
Allein in Berlin-Neukölln.Sebastian Wells/OSTKREUZ

Raub, Körperverletzung, Einbruch oder sexuelle Übergriffe: Etwa 70.000 Gewalttaten registriert die Berliner Polizei in jedem Jahr. Aufmerksamkeit erregen aber meist nur die spektakulären Kriminalfälle. Viele „kleine“ Fälle sind allenfalls eine Kurzmeldung im Polizeibericht. Doch wie geht es den Betroffenen alltäglicher Kriminalität? Was machen ihre Erfahrungen mit ihnen? Die Berliner Zeitung am Wochenende hat mit Menschen gesprochen, die ihr von der Opferhilfe-Organisation Weißer Ring vermittelt wurden. Die Serie: Die vergessenen Fälle.

Am 29. August 2014 feierten die Bewohner des Neuköllner Mietshauses ein Hoffest. Es gab Kaffee und Kuchen, am Abend wurde gegrillt, die Stimmung war gut. Allerdings fühlte sich ein Nachbar gestört. Er rief die Polizei. Das Fest war jedoch ordnungsgemäß angemeldet, sodass die Polizisten nichts unternehmen mussten.

Also unternahm der Nachbar selbst etwas: Gegen 22 Uhr warf er einen Sprengsatz – wahrscheinlich einen Polenböller – aus dem Fenster. Er detonierte unmittelbar am Oberschenkel von Dieter G. Er erlitt Verbrennungen dritten Grades und eine offene Wunde. Dieter G. wurde bewusstlos und fiel auf seine Schulter, die gerade frisch operiert war.

Seitdem hat sich sein Leben komplett geändert. Er lebt in Armut, er ist ein körperliches Wrack, er hat Angst- und Schlafstörungen. Er leidet an einer sogenannten Posttraumatischen Belastungsstörung.

In seinem früheren Leben war der heute 58-jährige Dieter G. Maler- und Lackierermeister. Er hatte in einem Handwerksbetrieb gearbeitet und vor allem Wohnungen renoviert. Sein Leben verlief in normalen 40-Stunden-Wochen.

Doch seit der Detonation kann er schon wegen der kaputten Schulter den linken Arm nur noch eingeschränkt bewegen. Er kann ihn nicht einmal mehr um 90 Grad anheben, zu groß ist die Gefahr, dass die Bizepssehne reißt.

14 Seiten Antragsformular und viele Gutachten

Nach dem Bölleranschlag, der auch weitere Gäste der Party verletzt hatte, befragten die Polizisten des Abschnitts 54 die Anwesenden und leiteten ein Verfahren ein. Dieter G. wurde zur polizeilichen Vorgangsnummer 140829-2200-023060.

Im Februar 2015 sah er im Fernsehen einen Bericht über die Opferhilfe-Organisation Weißer Ring e.V. Er rief bei dem Verein an. Der Weiße Ring gab ihm als Soforthilfe einen Scheck über 190 Euro für eine Erstberatung bei einer Rechtsanwältin. Man riet ihm, beim Versorgungsamt einen Opferentschädigungsantrag zu stellen. Das entsprechende Opferentschädigungsgesetz beruht auf dem Gedanken, dass der Staat für den Schutz seiner Bürger vor Gewalttaten und kriminellen Handlungen verantwortlich ist. Wer unschuldig Opfer einer Gewalttat wird oder Hinterbliebener eines Tötungsdeliktes ist, hat ein Recht auf Entschädigung für gesundheitliche und wirtschaftliche Folgen, etwa durch die Zahlung einer Rente. Der Antrag an das Versorgungsamt, das zum Landesamt für Gesundheitsschutz (Lageso) gehört, ist ein 14 Seiten langes Formular. Dieter G.s Bemühen um eine Opferentschädigungsrente geht nun ins achte Jahr.

Das Amt wollte von ihm Gutachten sehen. Eines erstellte ein Orthopädie-Professor. Dieser befand, dass der Mann aufgrund der kaputten Schulter nicht mehr arbeiten könne. Sechs weitere Ärzte, darunter zwei von der Krankenkasse, erarbeiteten psychologische Gutachten und kamen alle zu demselben Schluss: Posttraumatische Belastungsstörung.

Das Lageso sieht das anders: Es befand, dass die Straftat nicht die Ursache dafür sei, dass Dieter G. seinen Arm nicht mehr bewegen könne. Dies sei vielmehr eine Folge der vorherigen Operation – eine Restsymptomatik. „Aus meiner Sicht sagen sie das, um sich der Verantwortung zu entziehen“, sagt G., der von Hartz IV lebt. Weil er nicht mehr arbeiten kann, konnte er auch keine Rentenpunkte ansammeln. Das wird ihm später fehlen. Je nach Grad der Schädigung könnte er einige Hundert Euro Opferentschädigungsrente monatlich dazu bekommen. Das Opferentschädigungsgesetz sieht verschiedene Leistungen vor.

Panik brach aus, Kinder schrien

Immerhin erkannte das Sozialgericht drei Jahre nach der Tat an, dass er Opfer einer Straftat ist. 2017 begann dann sein Kampf um eine Opferentschädigung mit dem Versorgungsamt beim Lageso.

2019 stellte er bei der Deutschen Rentenversicherung einen Antrag auf Erwerbsminderungsrente. Der wurde abgelehnt mit der Begründung „Kur geht vor Rente“. Dieter G. durchlief eine Kur und wurde als krank entlassen – unterschrieben von vier Ärzten, die feststellten, dass er nicht mehr arbeitsfähig ist. Und er stellte erneut einen Antrag auf Erwerbsminderungsrente. Am 18. Dezember bekam er endlich den Bescheid, dass der Antrag genehmigt ist. Jetzt hat er pro Monat insgesamt rund 900 Euro zum Leben. Im Vergleich zu seinem Arbeitsleben sind es aber immer noch 900 Euro weniger.

Als der Böller im Hof neben ihm explodierte, brach Panik aus. Kinder schrien. Das Ganze hat sich in sein Hirn eingebrannt. Er hat Angst- und Schlafstörungen. Dieter G. kann auch nicht mehr mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren. Denn es könnte sein, dass er auf schreiende Kinder trifft. Auch bei dem Böller-Anschlag hatten Kinder geschrien. „Diese hohen Töne brennen sich ein“, sagt er. „Ich kann noch nicht einmal mehr den Hof betreten, um allein den Müll wegzubringen.“

„Man quält diese Menschen immer noch weiter“

Dieter G., geschieden, eine erwachsene Tochter, lebt in einer 63 Quadratmeter großen Wohnung im Parterre, für die er 499 Euro Warmmiete bezahlt. Das ist für Berlin günstig, weil es eine Genossenschaftswohnung ist. Bis sein Rentenbescheid kam, übernahm das Jobcenter die Miete. Zum Leben blieb ihm der Hartz-IV-Betrag von 356 Euro. Gegenüber vom Sofa steht ein großer Fernseher. Auf dem Couchtisch liegen zwei dicke Aktenordner, deren praller Inhalt vom Briefwechsel mit den Berliner Amtsstuben zeugt. Beim Lesen dieser Post hat er Probleme. Denn er kann sich nicht mehr richtig konzentrieren.

Er sitzt auf dem Sofa und spricht über die Fassade, die er nach außen wahrt: „Viele Leute wissen nicht, wie sie mit jemandem, der psychische Probleme hat, umgehen sollen“, sagt er. „Sie erkennen diese Krankheit nicht. Und dann steht man alleine da, verliert seine sozialen Kontakte, der soziale Abstieg ist vorprogrammiert. Und ich denke, dass es vielen anderen Opfern auch so geht.“

Während er spricht, macht er einen robusten Eindruck. „Aber wenn Sie nachher weg sind, bin ich so down, dann muss ich mich hinlegen und bin nicht ansprechbar. Da kann das Telefon klingeln oder sonst was sein“, sagt er.

Detlef Fritz kennt Dieter G. schon einige Jahre und hat den Eindruck, dass sein Mandant grundsätzlich gefestigt ist. „Ich kenne andere Opfer, denen man anmerkt, was ihnen widerfahren ist. Vor allem Frauen, die sexuell missbraucht worden sind, die dann wirklich fertig sind.“

35 Jahre lang war Detlef Fritz Polizist und ist jetzt pensioniert. Er leitet ehrenamtlich die Neuköllner Außenstelle des Weißen Rings und betreut den Mann. Er hat schon viele Papierkriege zusammen mit Opfern gegen die Behörden geführt. Doch inzwischen ist er selbst wütend: „Wie viele Gutachten müssen denn noch erstellt werden bei einem Sachverhalt, der inzwischen von vielen Ärzten beurteilt worden ist? Man quält diese Menschen immer noch weiter.“

An eine psychische Genesung ist im Moment nicht zu denken. Denn für die Opferrente muss Dieter G. dem Amt immer wieder nachweisen, wie krank er ist. Immer wieder wird in der Wunde gebohrt, jedes Mal wird er retraumatisiert. Deshalb brach sein Psychotherapeut die Therapie ab. „Das wäre genauso, als wenn ich jedes Jahr vor Heiligabend eine Frau anrufen würde, ob es ihr wieder besser geht, nachdem sie vor zehn Jahren vergewaltigt worden ist“, sagt Detlef Fritz.

Eine Information, was aus dem Verfahren wurde, bekam Dieter G. nicht. Auch nicht darüber, ob es jemals ein Ermittlungsverfahren gegen den Böller-Werfer gab, und ob dieser überhaupt vor Gericht stand. Selbst ein Aktenzeichen habe er von der Justiz nie erfahren, sagt er. „Ich weiß nicht, was aus dem Fall geworden ist“, sagt er.

Die Polizei konnte dem beschuldigten Nachbarn nicht gerichtsfest nachweisen, dass dieser den Böller geworfen hat. Nach Auskunft eines Sprechers der Staatsanwaltschaft wurde das Verfahren nach Paragraf 170, Absatz 2 der Strafprozessordnung eingestellt.

Dieser Text ist in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung erschienen – jeden Sonnabend am Kiosk oder hier im Abo.