Normalerweise ist der Rackebüller Weg im Süden von Berlin so ruhig und verträumt wie das inzwischen dänische Dorf, nachdem er benannt worden ist. Doch wenn in der Bruno-H.-Bürgel-Grundschule der Unterricht beginnt, drängen sich dort die Elterntaxis.
Jetzt steht die Lichtenrader Wohnstraße auch noch im Fokus der Fachöffentlichkeit. Damit die Autos draußen bleiben, stellten Eltern im Frühjahr fünf Wochen lang morgens Sperren auf. Was hat das für Berlin bislang einzigartige Pilotprojekt gebracht? Und wie geht es weiter? Im Rathaus Schöneberg wurde ein erstes Fazit der Schulstraße gezogen.
„Es hat Spaß gemacht. Und zum Abschluss haben wir ein Fest gefeiert, mit Musik und Kuchen“, sagt Marie Voigt. Die Bilanz der Elternvertreterin, die in der Strategieabteilung eines großen Unternehmens arbeitet, überrascht. Schließlich wurden in Lichtenrade Themen berührt, die normalerweise nicht die Laune heben. Es ging um die Schulweg- und Verkehrssicherheit, denn Elterntaxis können für Kinder eine Gefahr sein. Debattiert wurde aber auch darüber, wie sich die Menschen durch die Stadt bewegen und mit welcher Form von Mobilität sie ihren Alltag gestalten. Das sind streitträchtige Themen.
In London gibt es mehr als 500 Schulstraßen, in Deutschland gerade mal zwei
Voigt und ihr Mitstreiter Finn Gerlach, die zu dem Treffen im Willy-Brandt-Saal gekommen sind, ist das Erstaunen heute immer noch anzumerken. „Wir haben uns darüber gefreut, wie viele Eltern mitgemacht haben“, erzählen sie. Schulstraßen sind Projekte, die ohne ehrenamtliches Engagement nicht gelingen. Lehrern und Hausmeistern fehlt morgens meist die Zeit, um Straßen mit Barrieren zu sperren und die Elemente später wieder wegzuräumen. Obwohl auch sie meist anderes zu tun hatten, fanden sich im Fall des Lichtenrader Pilotprojekts 40 Mütter und Väter zusammen. In Friedrichshain-Kreuzberg, wo es ebenfalls Schulstraßen geben sollte, gelang das nicht.
Der Modellversuch „temporäre Schulstraße“ dauerte vom 18. April bis zum 17. Mai. An jedem Schultag war ein halbes Dutzend Freiwillige auf dem Rackebüller Weg im Einsatz. Um 7.15 Uhr stellten sie die rot-weißen Kunststoffbarrieren auf, die das Bezirksamt beigesteuert hatte. Um 7.45 Uhr wurden die Sperren wieder weggeräumt. „Auch Großeltern waren dabei und Eltern von Kindern, die erst jetzt eingeschult werden“, erzählt Rechtsanwalt Finn Gerlach, dessen Kind die erste Klasse besucht.
„Fuß-Kekse“ zur Besänftigung - aber sie wurden nicht gebraucht
Für den Fall, dass es Ärger zum Beispiel mit Autofahrern gibt, hatten die Ehrenamtlichen von Eltern gebackene „Fuß-Kekse“ dabei. Doch am Ende wurden die ausgestochenen Backwaren in Fußform, die zum Gehen animieren sollten, Kindern gegeben. „Wir brauchten die Kekse nicht“, erinnert sich Marie Voigt. „Es gab wenige Diskussionen und kaum Ärger.“ Gut möglich, dass das mit der guten Informationsvermittlung zu tun gehabt habe. Vor Ostern seien die unmittelbaren Anwohner ins Bild gesetzt worden.
Vielleicht lag es auch daran, dass das Pilotprojekt in der Nachbarschaft verankert war. Mit rund 600 Schülerinnen und Schülern ist die Bruno-H.-Bürgel-Grundschule ein Zentrum des Lichtenrader Dorflebens. Dort wuchs in zehn Jahren immer mehr Druck, im Rackebüller Weg Berlins erste Schulstraße einzurichten, erzählt Jens Otte, der seit zehn Jahren Schulleiter ist. „Es gab nicht eine einzige böse Mail“, sagte er. Stattdessen kamen Journalisten, Politiker, Wissenschaftler nach Lichtenrade – und lobten das Pilotprojekt.

London habe mehr als 500 Schulstraßen, Belgien über 170, sagte Verena Röll von der Technischen Universität Berlin. In Deutschland gebe es nur zwei – im Rahmen eines Pilotprojekts in Köln. Ein Verkehrszeichen „Schulstraße“ gebe es hierzulande nicht, sagte Saskia Ellenbeck, die für Straßen zuständige Stadträtin in Tempelhof-Schöneberg. „Wir mussten uns eines Tricks bedienen. Rechtlich galt der Rackebüller Weg als Spielstraße“, so die Grünen-Politikerin. Weil die meiste Zeit Fahrzeugverkehr erlaubt ist, sei dies ein milderes Mittel als zum Beispiel die Schulzone, die in der Singerstraße in Mitte geplant ist. Dort soll privater Autoverkehr künftig nicht mehr zulässig sein.
Zählung ergab: In einer Querstraße nahm der Autoverkehr ab
Wie hat das Pilotprojekt in Lichtenrade den Verkehr beeinflusst? In der Schillerstraße, wo sich der zweite Zugang zum Schulgelände befindet, zählten Eltern den Verkehr. Die Befürchtung, dass sich dort während der Sperrung der Parallelstraße Autos drängen werden und der Verkehr zunimmt, sei nicht eingetreten, erklärte Marie Voigt. Im Gegenteil: „Vor dem Projekt zählten wir zwischen 7.15 und 7.45 Uhr im Schnitt 61 Autos und 19 Fahrräder, während des Projekts 47 Autos und 37 Fahrräder.“ Die Anzahl der Fahrräder habe sich fast verdoppelt, mehr Eltern mit Kindern seien zu Fuß gegangen.
Isabelle Stein vom Bezirksamt hat einst die Bruno-H.-Bürgel-Grundschule besucht. Jetzt schreibt sie an der Technischen Universität ihre Masterarbeit über das Projekt in Lichtenrade. An zwei Querstraßen nördlich und südlich des zeitweise gesperrten Abschnitts ließ der Bezirk mobile Anlagen aufstellen, die nicht nur das Tempo der Autos anzeigen, sondern sie auch zählen. Die Ergebnisse waren unterschiedlich, sagte sie.
In der Lessingstraße wurden in einer Richtung während des Projekts morgens weniger Autos gezählt als danach, so Stein. „Unterm Strich waren dort weniger Kraftfahrzeuge unterwegs.“ Die Zahl der Fahrräder war höher. In der Goethestraße war die Belastung durch Kfz-Verkehr während und nach dem Pilotprojekt ungefähr gleich: plus minus null.
Schulstadtrat: „Aus ganz Deutschland gab es Fragen zu dem Projekt“
Im Mai, während der letzten Woche des Projekts, verteilte Stein 540 Fragebögen, 452 kamen zu ihr zurück. Auf die Frage, ob die Schulstraße eine gute Idee war, antworteten 70 Prozent mit Ja und 20 Prozent mit Nein. Die anderen gaben keine Antwort. Die Umfrageteilnehmer äußerten sich auch dazu, ob sie eine Weiterführung der Schulstraße wünschen. Mit Ja antworteten 79 Prozent der Anwohner und 71 Prozent des Schulpersonals. Bei den Eltern war der Wunsch deutlich weniger ausgeprägt. Von ihnen äußerten sich 51 Prozent zustimmend und 21 Prozent ablehnend.
„Aus ganz Deutschland gab es Fragen zu dem Projekt“, sagte Schulstadtrat Tobias Dollase. „Aus unserer Sicht war es erfolgreich“, fasste der parteilose, von der CDU nominierte Bezirkspolitiker zusammen. „Schulen, die das möchten, sollte man es ermöglichen, Maßnahmen wie Schulstraßen umzusetzen“, forderte Gabi Jung vom Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND). „Man muss jeweils schauen, was zur Schule passt. Jede Schule braucht ihre individuelle Lösung, Maßnahmen sollten in ein Gesamtkonzept eingebunden sein.“
Bleibt da noch die rechtliche Hürde, rief Stadträtin Saskia Ellenbeck in Erinnerung. Sie gehört zu den Berliner Bezirkspolitikerinnen und -politikern der Grünen, die den Verkehrsministern, wie berichtet, einen Brief geschickt haben. Die Landespolitiker sollten sich im Bundesrat dafür einsetzen, dass die Straßenverkehrsordnung so geändert wird, dass in einem Umkreis von einem Kilometer um Schulen Maßnahmen zur Verkehrssicherheit künftig erleichtert werden. Ellenbeck hofft, dass es auch 2024 eine Schulstraße in Tempelhof-Schöneberg geben kann – oder mehrere. Ihr Bezirk wolle Vorreiter sein, sagte sie. „Was hier geschieht, hat bundespolitisch Relevanz.“
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