Mobilität

Giftanschlag aufs Straßengrün: Wenn die verkehrsberuhigte Zone zum Kampfplatz wird

In der Ackerstraße in Mitte ist dem Autoverkehr Platz entzogen worden. Das finden manche Anwohner gut, andere protestieren – zum Teil brachial.

Wo zuvor Autos parkten und fuhren, stehen jetzt Sitzbänke und Pflanzkübel. Doch die temporäre Sommerstraße, die in der Ackerstraße in Mitte entstand, ist offenbar ein trügerisches Idyll.
Wo zuvor Autos parkten und fuhren, stehen jetzt Sitzbänke und Pflanzkübel. Doch die temporäre Sommerstraße, die in der Ackerstraße in Mitte entstand, ist offenbar ein trügerisches Idyll.Volkmar Otto

Die Kampfzone sieht eigentlich gar nicht wie eine Kampfzone aus. Holzbänke stehen dort und fünf Tische. Mit ihren rot-weiß karierten Decken verbreiten die Sitzgruppen die Gemütlichkeit eines Kleingartens. In der Tat gibt es viel Grün. In großen Pflanzkübeln sprießt es farbig und wild. Rote Erdbeeren leuchten in der Sonne. Kleine Schilder klären darüber auf, dass auch Rosenthals langtraubige schwarze Johannisbeeren und Schönemann-Himbeeren hier wachsen.

Ein städtisches Idyll, mitten in Mitte, in der Ackerstraße. In dem ruhigen Wohngebiet, das von Cafés und diversem Gewerbe belebt wird, ist dem Autoverkehr Platz entzogen worden. Wo gefahren und geparkt wurde, trennen seit Mai Betonteile ein Stück Asphalt ab. Zuletzt gab es in dem Abschnitt zwischen Tor- und Invalidenstraße Stellplätze für 90 Autos, jetzt sind es zwölf weniger. Neben der schmalen Durchfahrt, die geblieben ist, wehen am Zaun farbige Wimpel im Wind. Jemand hat einen Sonnenschirm aufgespannt. Sommerstraßen: So nennen Bezirk und Senat das, was in der Ackerstraße und an zwei anderen Stellen in Berlin entstanden ist. Bis Ende Oktober sollen sie so bleiben.

Doch der schöne Schein trügt. In der Sommerstraße in Mitte sind Dinge geschehen, die nicht zu dem idyllischen Bild passen. In der Nacht wurde die Idylle mit Gift beschädigt.

In der Ackerstraße tobt eine Art Straßenkampf, wie er auch anderswo im Gange ist. Stets lautet die Frage: Wem gehört die Straße? Wie soll der Platz auf Fußgänger, Radfahrer und Autofahrer aufgeteilt werden? Der Konflikt um die Friedrichstraße, deren Mittelteil zweimal für Fußgänger geöffnet wurde, hat gezeigt, dass dieses Thema ein stadtweites Konfliktpotenzial hat. Er beweist auch, wie fragil Erfolge für die Verkehrswende sein können – dort dürfen seit Juli wieder Autos fahren. Das Besondere in der Ackerstraße ist, dass dort der Konflikt nicht immer mit offenem Visier geführt wird.

„Hier wurde am grünen Tisch entschieden, ohne die Bürger zu beteiligen“

An diesem Vormittag haben zwei ältere Herren an einem der Tische Platz genommen. Sie sind nicht hier, um sich zu entspannen. Ganz im Gegenteil: Die beiden Mitte-Bewohner möchten deutlich machen, dass sie sich über diese Aktion des von den Grünen geleiteten Bezirksamts Mitte ärgern, und sie wollen ihren Ärger begründen. „So ein Blödsinn“, sagt Karl-Heinz Kohl. „Hier wurde am grünen Tisch entschieden, ohne die Bürger zu beteiligen.“ Nebenan sei eine Grünanlage. Wer sich erholen will, könne dorthin gehen. Kohl: „Wir müssen etwas gegen diesen Populismus unternehmen.“

„Akt politischer Willkür“: Karl-Heinz Kohl (l.) und Wolfram Wickert lehnen die Sommerstraße in Mitte ab.
„Akt politischer Willkür“: Karl-Heinz Kohl (l.) und Wolfram Wickert lehnen die Sommerstraße in Mitte ab.Peter Neumann/Berliner Zeitung

„Die Sommerstraße sorgt für Unmut, vor allem unter Anwohnern, die schon in DDR-Zeiten im Kiez gewohnt haben“, meint Wolfram Wickert. Was der Bezirk „par ordre de mufti“ durchgesetzt habe, erinnere sie an „SED und Befehl von oben“. „Das Auto stellt seit 1990 die neue Freiheit dar. Die enge Verkehrsführung und Parkplatzwegnahme behindern die Bewegungsfreiheit des Autos, eine Errungenschaft der Einheit.“ Auf der schmalen Fahrbahn komme es immer wieder zu gefährlichen Situationen.

Der Schriftsteller und Maler ist mit einem alten Klapprad, das einst seinen Eltern gehörte, zum Gespräch gekommen. Der 82 Jahre alte Wolfram Wickert fährt auch Auto, genauso wie Karl-Heinz Kohl, sein Mitstreiter aus der Senioren-Union. Der 73 Jahre alte Ur-Berliner, der in der Torstraße lebt, hat seinen Wagen aber lieber vor der Stadt geparkt, in Erkner unweit seines Gartens. Schon vorher sei es schwer gewesen, in der Ackerstraße einen Stellplatz zu finden, erzählt er. Jetzt sei die Lage unerträglich.

CDU-Kreisparteitag Mitte lehnt Sommerstraße einstimmig ab

Es ist ein bemerkenswertes Ost-West-Duo, das da auf der Sommerstraße in der Sonne sitzt. Wenn es darum geht, das Auto zu verteidigen, scheint die Einheit zu funktionieren. Links „Kalle“ Kohl, der gern berlinert. Rechts Wolfram Wickert, aufgewachsen in Heidelberg und Paris. Der frühere „Tagesthemen“-Moderator Ulrich Wickert ist sein Bruder, der einstige Bundeskanzler Konrad Adenauer war sein Großonkel.

Er denke manchmal an eine „zweite friedliche Revolution“, bei der das Mobiliar abgeräumt würde, sagt Wickert. „Aber dafür bräuchte man einen Kran, die Kübel sind einfach zu schwer.“ Die CDU Mitte setze auf den demokratischen Weg. Am 17. Juni nahm der Kreisparteitag den Antrag der Senioren-Union an, den „Akt politischer Willkür“, den „teuren, völlig absurden Schildbürgerstreich“ sofort zu beenden. Ohne Gegenstimmen. 

Doch offenbar will sich nicht jeder Kritiker auf den langwierigen Weg durch die Institutionen begeben. Anwohner wehren sich, so formuliert es Wolfram Wickert. Und er fragt: „Ist mehr zu erwarten?“

„Achtung!!! Säureanschlag. (Wer macht sowas?)“

Tilmann Häußler ärgert sich immer noch, wenn er daran denkt, was bislang schon passiert ist. „Das geht gar nicht“, sagt der Mitte-Bewohner. Wut an Pflanzen auszulassen, an lebenden Wesen, die keine Schuld tragen – das findet er unmöglich.

Der 35 Jahre alte Politikwissenschaftler, der bei der SPD Berlin arbeitet, ist in der Ackerstraße aufgewachsen. Er gehört der Gruppe von Bürgern an, die sich ehrenamtlich um die Sommerstraße kümmert, Pflanzen gießt, den Müll wegräumt. Aus den Nachrichten, die sie bei Signal austauschen, geht hervor, dass die erste Tat am 12. Juni entdeckt wurde. Jemand hatte eine Flüssigkeit in einen der Pflanzkübel gegossen, Essigsäure möglicherweise, erzählt Häußler. Eine Woche später, am 19. Juni, wurde ein zweiter Vorfall bekannt. Diesmal traf es einen anderen Pflanzkübel. „Erneut starben sämtliche Pflanzen“, so der Bericht. Nicht nur Häußler war fassungslos.

Nach dem zweiten Giftanschlag gegen einen Pflanzkübel: Anwohner machen ihrem Zorn Luft.
Nach dem zweiten Giftanschlag gegen einen Pflanzkübel: Anwohner machen ihrem Zorn Luft.Susanne Nissen

„Achtung!!! Säureanschlag. (Wer macht sowas?)“ schrieb damals jemand mit Kreide auf den Asphalt. Daneben prangte hellblau auf grau in Großbuchstaben: „Tatort!“

Damit Kinder etwas Essbares ernten können, waren im Mai Erdbeeren, Himbeeren und andere Beerensträucher gepflanzt worden, erzählt Katja Smacka, die in der Ackerstraße lebt und ebenfalls zum Bürgerteam gehört. „Die Pflanzen gingen alle ein. Vielleicht war es Apfelessig, vielleicht Glyphosat.“

Das Straßen- und Grünflächenamt kam und nahm Proben. Nachdem eine Strafanzeige eingegangen war, erschien auch die Polizei. Sie sperrte den Tatort mit rot-weißem Flatterband ab. Ein Mitglied der Bürgergruppe schrieb bei Signal eine Nachricht: „War gestern 1 1/2 Stunden bei der Polizei, die ihre Schwierigkeiten hatte, diese Tat in ihre Verwaltungsstruktur einzustufen.“

Der Boden wurde nicht ausgetauscht und neu bepflanzt. Doch die Frage bleibt: Wer hat die Pflanzen vergiftet? Drei Anwohner hätten ihm erzählt, dass in ihrem Haus „alle“ von der Sommerstraßenaktion „gepestet“ seien, sagte ein Gesprächspartner der Berliner Zeitung. „Entweder waren es Jugendliche – oder wirklich Menschen, die militant gegen die Sommerstraße vorgehen wollten“, überlegt Ingo Siebert. Der 52 Jahre alte Stadtsoziologe, der wie Tilmann Häußler SPD-Mitglied ist, lebt direkt nebenan.

Er gehört zu den Anwohnern, die sich offen für die Umgestaltung aussprechen. „Mir macht dieser Ort Freude“, sagt Siebert. Seine sechsjährige Tochter möge ihn auch. In der Grünanlage nebenan könne es voll werden, dann sei die Sommerstraße mit ihren Sitzbänken und dem Sonnenschirm ein willkommenes Zusatzangebot. Er habe zweimal dort gefeiert, unter anderem mit seiner Frau den zehnten Hochzeitstag. Als Nicht-Autofahrer falle es ihm schwer, die Kritik am vorübergehenden Wegfall der Stellplätze nachzuvollziehen. Für Siebert ist klar: „Parkplätze nehmen Lebensqualität aus der Stadt.“

Mitte – ein schwach motorisierter Bezirk

So viel steht fest: Ein Autobezirk ist Mitte nicht. Das zeigen Zahlen des Amts für Statistik Berlin-Brandenburg. Mit rund 0,2 Pkw pro Einwohner gehört Mitte zu den Bezirken mit der niedrigsten Motorisierungsrate im ohnehin schon schwach motorisierten Berlin. Damit nicht genug: Während in ganz Berlin die Zahl der Pkw von Ende 2017 bis Juni 2021 um 3,36 Prozent auf mehr als 1,2 Millionen stieg, sank sie den Angaben zufolge in Mitte um 1,4 Prozent. Doch weiterhin bestimmen Autos auch dort das Straßenbild.

Auch Sandra Schuck besitzt ein Auto. „Ich bekomme selten einen Parkplatz vor der Tür, ob mit oder ohne Sommerstraße“, erzählt die Fotografin, die seit 2001 in der Ackerstraße lebt. Ihr mache es aber nicht viel aus, ein paar Minuten zu laufen. In der Straße seien zu viele Fahrzeuge unterwegs gewesen: Lieferverkehr, Müllabfuhr, Busse, Taxis und Fahrradgruppen mit Touristen, Anwohner-  und Polizeiautos. Andere Anlieger berichten, dass Touristenbusse auf der Fahrt zur Mauer-Gedenkstätte in der Bernauer Straße diese Route nahmen. Die 48-Jährige findet die jetzige Planung „nicht optimal“, sie hätte sich eine Einbahnstraßenregelung gewünscht. „Doch durch die Sommerstraße hat sich der Verkehr deutlich reduziert und gezwungenermaßen entschleunigt.“

„Eine aktive Nachbarschaft ist entstanden“

„Sie hat zur Verkehrsberuhigung beigetragen“, sagt Britta Elm, Sprecherin der neuen Berliner Verkehrssenatorin Manja Schreiner (CDU). Möglicherweise habe sich auch eine benachbarte Baustelle ausgewirkt.

Die Verwaltung, die bis April von der Grünen-Politikerin Bettina Jarasch geleitet wurde, war im Juni zu verschiedenen Zeiten fünf Mal für Stichpunktkontrollen vor Ort. Die Beobachter vermerkten „viel Radverkehr in der Ackerstraße, auch Kinder auf dem Weg zur Schule“. Außerdem stellten sie fest, dass es weniger motorisierten Individualverkehr als Radverkehr gebe. „Nach anfänglichen Schwierigkeiten direkt nach Einführung der Sommerstraße werden die Vorfahrtsregeln durch Autofahrende nun berücksichtigt.“ Und: „Die Sitzgelegenheiten wurden morgens nicht genutzt, nur abends.“

Auch das regt Karl-Heinz Kohl und Wolfram Wickert auf: „An Wochentagen sitzt hier kaum jemand“, sagen sie. „Die Sommerstraße wird von der Bevölkerung nicht angenommen.“ Müll gebe es dort allerdings. Am Montag stehen eine leere Sekt- und eine leere Whiskyflasche auf einem der Tische.

„Dass in den letzten Wochen nicht so viel los war in der Sommerstraße, liegt hauptsächlich an den Ferien“, entgegnet Sandra Schuck. Sie betont, dass das Projekt zahlreiche Menschen zusammengebracht habe. Etwa bei einem Sommerfest: „Es wurde gegrillt, es gab Livemusik und ein Spieleprogramm für Kinder. Viele Leute sind gekommen. Genau das macht für mich das Leben in der Stadt noch lebenswerter.“

Anwohner machen regelmäßig sauber. Doch Besucher der Sommerstraße lassen immer wieder Müll zurück. 
Anwohner machen regelmäßig sauber. Doch Besucher der Sommerstraße lassen immer wieder Müll zurück. Volkmar Otto

„Eine kleine Gruppe von Nachbarn, zu der ich auch gehöre, kümmert sich“, sagt die Anwohnerin. „Wir wässern die Pflanzen, übrigens auf eigene Kosten, und halten den Platz sauber.“ In Eigeninitiative wurde der Platz aufgehübscht, die Volkssolidarität unterstützt die Bürger. „Eine aktive Nachbarschaft ist entstanden, wir kennen uns nun nicht mehr nur vom Sehen.“ In Zeiten der vielbeschriebenen Spaltung der Gesellschaft sei das für sie der schönste Nebeneffekt, sagt Sandra Schuck.

Wolfram Wickert kann sich an ein Fest erinnern. „Im gemütlichen Gespräch stellte sich allerdings rasch heraus, dass die Sommerstraße eine absurde Idee ist, die weder die Nachbargemeinschaft fördert noch den Kohlendioxidausstoß senkt“, sagt er. Mit Karl-Heinz Kohl ist er sich einig: 2024 dürfe es keine Sommerstraße geben.

Senat zieht ein positives Fazit der Berliner Sommerstraßen

Die Christdemokraten hoffen, dass die neue Verkehrssenatorin Manja Schreiner auf ihrer Seite ist. Doch in der Verwaltung der CDU-Politikerin fällt das erste Fazit zu den Sommerstraßen positiv aus, wie die Sprecherin Britta Elm mitteilt. Zwar bieten die Projekte „Potenzial für Verbesserungen“. Aber klar sei auch: „Eine Einrichtung von Sommerstraßen im nächsten Jahr ist vorgesehen.“

Wolfram Wickert und Karl-Heinz Kohl verlassen die Sommerstraße nach dem Gespräch schnell wieder, bleiben wollen sie nicht. Nach all dem, was sie berichtet haben, wirken Rosenthals langtraubige schwarze Johannisbeeren und Schönemann-Himbeeren jetzt ziemlich schutzlos.

„Im Bereich 10115 Berlin, Ackerstraße 158-160, wurde eine Strafanzeige aufgenommen. Bei der Anzeige geht es um den Tatvorwurf der gemeinschädlichen Sachbeschädigung gemäß Paragraf 304 Strafgesetzbuch“, bestätigt die Polizei. „Die Ermittlungen, die bislang nicht zur Namhaftmachung eines Täters führten, wurden durch den hiesigen Abschnitt 56 zunächst abgeschlossen und an die Amtsanwaltschaft Berlin übersandt. Ein Aktenzeichen der Amtsanwaltschaft ist noch nicht bekannt.“