Auf der Straße vor Roland Stimpels Wohnung unweit vom Bahnhof Friedrichstraße wird gebaut. Ein Auto bremst, gleich stauen sich dahinter die nächsten Fahrzeuge. Von seinem Fenster aus kann der Sprecher des Fachverbands Fußverkehr Deutschland beobachten, wie sich Kraftfahrer gegenseitig ausbremsen. Der 64-Jährige wünscht sich, dass es überall in Deutschland langsamer zugeht. Wenn alle 22,5 Kilometer pro Stunde fahren würden, wären die Straßen am leistungsfähigsten, sagt er. Der aus seiner Sicht fällige Abschied vom Tempokult ist nicht das einzige Thema seines Buches, das jüngst erschienen ist. Er möchte mit gängigen, aber falschen Verkehrsmythen aller Art aufräumen. Roland Stimpel nimmt einen Schluck Kaffee und fängt an zu erzählen.
Schon wieder ein Buch über den Straßenverkehr! Seitdem es ihn gibt, wird darüber geklagt und lamentiert. Warum haben Sie jetzt auch noch über dieses Thema geschrieben?
Roland Stimpel: Das Verrückte ist, dass es seit Jahrzehnten wissenschaftliche Erkenntnisse über den Straßenverkehr gibt, doch Politik, Planung und Verwaltung weigern sich, sie zu beachten. Da hat es mich gereizt, alles aufzuschreiben, was bekannt ist – und das dann mit der Praxis zu konfrontieren.
„Wer langsam macht, kommt eher an“: Das ist der Titel Ihres Buches. Der Untertitel lautet: „Verkehr abrüsten, Mobilität gewinnen“. „Abrüsten“ – das klingt nach Krieg. Ist das nicht übertrieben?
Ein bisschen Zuspitzung muss schon sein. Abrüsten heißt für mich: weniger gefährliche Apparate, weniger Aggressivität. Die Formulierung ist kein Angriff auf einzelne Verkehrsteilnehmer, sie bezieht sich auf das System, das uns belastet. Die Menschen, die sich darin bewegen, sind keine Krieger. Aber das System ist verkehrt und voller Gewalt.
Beim Lesen bekommt man den Eindruck, dass Sie nie ein Auto besessen haben. Wie sieht Ihre ganz persönliche Mobilitätsbiografie aus?
In meiner Heimatstadt Göttingen bin ich als Kind und Jugendlicher viel Rad gefahren. Mit 18 habe ich den Führerschein gemacht, das gehörte damals dazu. Zweimal im Leben hatte ich ein eigenes Auto. Erst als Korrespondent der Zeitschrift Stern für Nordrhein-Westfalen, als ich ständig über Land fahren musste. Das zweite Mal mit kleinen Kindern in Berlin. Seit acht Jahren haben wir kein Auto mehr.
Sie sind Sprecher der deutschen Fußgängerlobby. In Berlin werden die meisten Wege zu Fuß zurückgelegt, auch anderswo ist der Anteil beachtlich. Trotzdem ist der Fachverband Fußverkehr Deutschland (FUSS) mit bundesweit gerade mal rund 800 Mitgliedern einer der kleinsten Lobbyvereine im Bereich Verkehr. Wie sind sie zu FUSS gekommen?
Ich bin immer schon viel zu Fuß gegangen. In Berlin pendelte ich zehn Jahre lang von Steglitz nach Kreuzberg und zurück, 16 Kilometer pro Tag. Meist mit dem Rad, doch einmal im Jahr bin ich die Strecke auch gelaufen, zwei Stunden pro Weg. Ich war jedes Mal erstaunt, wie viel mehr von der Stadt ich dabei sah. Als Fußgänger kam ich besser gelaunt an, als ich losgelaufen war. In der Tat hat eine Umfrage gezeigt, dass bei keiner Fortbewegungsart die Zufriedenheit so groß ist wie beim Zu-Fuß-Gehen. Jahre später traf ich den damaligen FUSS-Bundesgeschäftsführer Bernd Herzog-Schlagk, den ich einst in der Bürgerinitiative Westtangente kennengelernt hatte. Nach dem Gespräch wusste ich: Bei FUSS mitzuarbeiten ist das Ding für die Lebensphase nach der Erwerbsarbeit!

In der Bürgerinitiative Westtangente Berlin hat sich Roland Stimpel erstmals verkehrspolitisch engagiert. Er war Redakteur unter anderem bei der Bauwelt, beim Stern und der Wirtschaftswoche sowie Chefredakteur des Deutschen Architektenblatts.
Sein Buch „Wer langsam macht, kommt eher an“ ist in der Edition FUSS in Berlin erschienen. Gedruckt kostet das 220-Seiten-Werk 14,49 Euro, als E-Book 9,49 Euro.
Die meisten Menschen wollen zügig ans Ziel, aber Sie scheinen etwas gegen den Tempokult zu haben. „Je schneller wir sein wollen, desto mehr bremsen wir uns aus.“ Was meinen Sie damit?
Wenn ich auf die Tube drücke, dann bin ich früher zu Hause: Das stimmt nur, wenn die Straße leer ist. Sobald auch andere unterwegs sind, stimmt es nicht mehr. Dann müssen die Fahrzeuge auseinanderrücken, die Sicherheitsabstände werden zwangsläufig größer, bremsende und regelnde Elemente wie Ampeln werden erforderlich. Und wer quer zu den schnellen Fahrzeugen unterwegs ist, wartet ewig oder muss große Umwege machen.
Fahren ohne Limit ist ein deutscher Mythos, ein nationales Symbol für Freiheit und Wohlstand.
Der Streit ums Tempolimit zeigt, dass dieses Thema in Deutschland hochpolitisch ist. In einem Kapitel erzählen Sie die Geschichte der Geschwindigkeitsbeschränkungen. Lassen Sie mich daran teilhaben?
Ein wichtiges Jahr ist 1934, als unter den Nazis alle generellen Geschwindigkeitsbeschränkungen aufgehoben wurden. Das änderte sich im Zweiten Weltkrieg, als innerorts Tempo 40 und außerhalb geschlossener Ortschaften Tempo 80 eingeführt wurden. 1952 hieß es in der Bundesrepublik: Die Notzeit ist vorbei, wir schaffen die Tempolimits wieder ab! Auch in den Städten durften die Leute so schnell fahren, wie sie wollten. Das führte natürlich dazu, dass die Zahl der Kollisionen, der Verletzten und der Toten rapide anstieg. Und so wurde 1957 innerorts Tempo 50 eingeführt, aber die Autobahnen blieben ohne Beschränkung. Während der Ölkrise 1973 galt dort Tempo 100, aber nur hundert Tage lang. Nachdem der ADAC „Freie Bürger fordern freie Fahrt“ gefordert hatte, fiel dort das Tempolimit wieder weg. Nach der Wiedervereinigung wurde es auch auf den ostdeutschen Autobahnen abgeschafft, obwohl dort es angesichts der aufkommenden Raserei vielen nicht geheuer war.
Warum ist die Debatte in Deutschland so heikel?
Wichtige Argumente, zum Beispiel dass ein Tempolimit die Verkehrssicherheit erhöhen und den Spritverbrauch senken würde, werden meist gar nicht oder nur am Rande behandelt. In den 1950er-Jahren ging es symbolisch um die Überwindung von Not und Mangel im Krieg, überhaupt nicht um Sicherheit. Zugleich hieß es oft: Es war doch nicht alles schlecht bei den Nazis – immerhin haben sie Autobahnen gebaut und freie Fahrt erlaubt. Seitdem wird über das Tempolimit in Deutschland nicht rational diskutiert. „Fahren ohne Limit“ ist ein deutscher Mythos, ein nationales Symbol für Freiheit und Wohlstand, das tief in den Köpfen und im Unterbewusstsein verankert ist. Dagegen sind in den USA 75 Meilen, also rund 120 Kilometer pro Stunde, das höchste der Gefühle. In dieser freiheitsliebenden Nation stört sich fast niemand daran.
Eine Straße hat die größte Leistungsfähigkeit, wenn alle Tempo 22,5 fahren.
Sie halten Tempo 70 auf der Landstraße und in der Stadt Tempo 25 für sinnvoll, wo Menschen zu Fuß und per Rad auf der Fahrbahn sind. Wo sind die Politiker, die das durchsetzen wollen und können?
Wenn man etwas vorschlägt, müssen Umsetzbarkeit und Akzeptanz nicht an erster Stelle stehen. Ich erwarte nicht bis übermorgen eine Mehrheit. Ich sage nur: Nach alldem, was wir wissen, hat eine Straße die größte Leistungsfähigkeit und ein hohes Maß an Sicherheit, wenn alle 22,5 Kilometer pro Stunde fahren. Streng mathematisch gesehen wäre die Kapazität bei diesem relativ niedrigem Tempo am größten.
Viele Menschen sagen: Neue Straßen bauen, Autobahnen verbreitern, dann wird der Verkehr schon flüssiger! Sie halten dagegen und nennen das Beispiel einer Autobahn im texanischen Houston.
Der Katy Freeway in Houston ist die breiteste Autobahn der USA. Zu Beginn, in den 50er-Jahren, fing sie mit sechs Fahrstreifen an. Weil sie stets zugestaut war, wurde sie immer weiter ausgebaut. Heute hat sie bis zu 23 Fahrstreifen, trotzdem wird die durchschnittliche Fahrzeit immer länger. Offensichtlich haben die Ausbauten immer mehr Verkehr angelockt. Ihr könnt ruhig in die Vororte ziehen und Auto fahren, diese Botschaft kam an.
Straßen erzeugen Verkehr. Wo die A100 längst fertig ist, hat sie nichts entlastet.
In Berlin wird ähnlich argumentiert. Um die Anwohner an der Köpenicker Straße in Biesdorf zu entlasten, soll zwischen Marzahn und Köpenick die Tangentialverbindung Ost (TVO) entstehen. Die neue rot-grün-rote Koalition will das Projekt beschleunigen. Werden sich die Hoffnungen erfüllen?
Nein, die Illusion wird platzen. Die geplante vierspurige Straße wird dazu führen, dass im Osten der Stadt noch mehr Auto gefahren wird und weiteren Verkehr anziehen. Die Situation wird schlimmer werden, wie überall, wo man Straßen zur angeblichen Entlastung gebaut hat. Wer mit dem Lkw von Stettin nach Stuttgart will, nimmt künftig den kürzesten Weg über die TVO, die als Stadtstraße nicht mal Maut kostet. Und in den Straßen von Biesdorf werden mehr Menschen Auto fahren – einfach weil sie hoffen, dass es wegen der TVO schneller zum Flughafen geht, nach Adlershof oder Marzahn. Auch in den angrenzenden Wohngebieten wird es mehr Autoverkehr geben. Die Biesdorfer leiden schon heute unter zu viel Verkehr. Wenn sie mehr Ruhe haben wollen, sollten sie nicht für eine neue Straße kämpfen, sondern sich für Tempo 30 auf der Köpenicker und Chemnitzer Straße einsetzen, für mehr Busse, Bahnen, bessere Fuß- und Radwege.
Ich nehme an, dass Sie auch vom Weiterbau der Autobahn A100 nach Ost-Berlin wenig halten.
Das stimmt. Heute fährt man mit der S-Bahn in neun Minuten von der Frankfurter Allee nach Neukölln, mit dem Auto braucht man dagegen in Stoßzeiten eine halbe Stunde. Wenn es auf dieser Relation eine Autobahn gibt, werden mehr Menschen mit dem Auto fahren. Straßen erzeugen Verkehr. Wo die A100 längst fertig ist, hat sie nichts entlastet, das sieht man an parallelen Straßen im Westen. Zum Beispiel dem Sachsendamm mit neun Fahrspuren. Oder der Neuköllner Silbersteinstraße, die die höchste Feinstaubbelastung Deutschlands hat – weil hier so viele von der Autobahn kommen oder zur Autobahn fahren. Das gilt übrigens auch andersherum: weniger Straßen, weniger Verkehr. Weltweite Studien zeigen, was passiert, wenn eine Straße wegfällt. Beispiele sind San Francisco und Seoul, wo Stadtautobahnen abgerissen wurden. Anfangs gab es fast immer Chaos, aber danach zeigten sich wundersame Effekte. Ein Großteil des Verkehrs fand nicht mehr statt. Der andere Teil der Autofahrer nahm andere Routen, fuhr zu anderen Zeiten oder mit anderen Verkehrsmitteln.
Um den Klimaschutz voranzubringen, müsse der Verkehr schnell langsamer werden, schreiben sie – und fordern „physische Entschleunigungsanreize“, „schmalere, kurvige, weniger glatte Fahrbahnen“. Habe ich das richtig verstanden: Sie wollen schlechte Straßen?
Gegenfrage: Wann ist eine Straße schlecht? Ich bin für Straßen, auf denen alle gut miteinander auskommen und auf denen keiner den anderen stark behindert. Und ich bin aus Klima- und anderen Gründen dafür, diejenigen zu privilegieren, die sich langsam fortbewegen und relativ kurze Wege haben. Ich will Autos nicht verbieten. Alle sollen sich auf den Straßen bewegen dürfen. Doch die am wenigsten Raum zum Bewegen und Fahren brauchen, weder Lärm noch Abgas ausstoßen, andere fast gar nicht gefährden und dazu noch die Straßen am stärksten beleben – die sollen die privilegierten Verkehrsteilnehmer sein.
Für Sie ist das, was wir auf deutschen Straßen und Autobahnen vorfinden, Gewalt. Fußgänger und Radfahrer müssten die „Unterwerfung unters Auto“ lernen, es herrsche das „Steinzeitrecht des Stärkeren“. Doch auch dieses System ist vollkommen okay für die meisten Menschen. Warum?
Es kommt darauf an, in welchem Umfeld man sich bewegt. Für immer mehr Menschen ist die Gewalt im Straßenverkehr nicht mehr okay.
Könnten wir nicht die Nachteile des Autos beheben und dessen Vorteile bewahren?
Auf der anderen Seite fühlen sich viele Menschen eingeengt und überfordert von einer Gesellschaft, die immer mehr Geschwindigkeit, Mobilität und Anpassung an eine immer größer werdende Dynamik erzwingt. Die meisten haben keine Idee, wie sie dem Hamsterrad entkommen können. Haben Sie eine?
Diese Verhältnisse kann man in der Tat nicht von einem Tag auf den anderen aufbrechen. Ich habe Verständnis und manchmal auch Mitleid mit denen, die sich in diesem Hamsterrad befinden. Dem Hamsterrad entkommt man individuell nur schlecht. Gemeinsam brechen wir es auf, wenn kurze Wege zum Laden im Kiez, zu Fuß zur Schule oder zur Erholung an der grünen Straße besser möglich sind.
Ein Schwachpunkt in Ihrem Buch ist aus meiner Sicht das Plädoyer für „Schlankmobile“, kleine Elektro- oder Pedalmobile mit Platz für ein oder zwei Menschen. Wie aussichtsreich ist es, eine radikale Änderung der privaten Pkw-Flotte in den städtischen Gebieten vorzuschlagen?
Eine häufige Parole ist: „Weg mit dem Auto“. Doch für Strecken, die für das Fahrrad zu weit sind und auf denen es keine akzeptablen Nahverkehrsverbindungen gibt, brauchen wir eine Alternative. Könnten wir nicht die Nachteile des Autos beheben und dessen Vorteile bewahren? Auto – das ist: Hülle, Motor und bei rund 90 Prozent der Fahrten sitzt nur ein Mensch drin, dafür reicht ein Fünftel eines SUV. Wir brauchen einen neuen Autotyp, der weniger Energie und Platz verbraucht: das Schlankmobil. Schlanke Fahrzeuge sollten eigene Fahrstreifen bekommen, auf denen sie an den breiten Fahrzeugen vorbeifahren können. Für Sharing in der City oder für Strecken wie von Bernau nach Oranienburg, für die ich mit der S-Bahn viel Zeit brauche, wären sie gut geeignet. Wer dann einmal im Jahr mit der Familie ans Mittelmeer fährt, kann immer noch den Tesla mieten.
Nach dem, was Sie fordern, müsste es eine Revolution der Fußgänger geben.
Die unglaubliche Devotheit vieler Fußgänger ärgert mich. Seit Jahrzehnten lernen die Menschen: Wenn du zu Fuß gehst, sei vorsichtig. Zuck’ zusammen, trau’ dich nicht! Darum signalisieren so viele am Zebrastreifen mit ihrer Körpersprache den Autofahrern: Du darfst Gas geben! Anstatt klar zu zeigen: Ich trete gleich auf die Fahrbahn – und du trittst jetzt in die Eisen! FUSS setzt sich dafür ein, mit vielen kleinen Veränderungen von Infrastruktur die Gewichte zu verschieben. Andere Arten von Verkehr als das Autofahren müssen vorteilhafter werden. In Deutschland gibt es keine freie Wahl der Verkehrsmittel. Wir fahren so viel Auto, weil die Bedingungen fürs Autofahren so gut sind – und in anderen Bereichen so schlecht.
Ein ganzes Kapitel widmen Sie den Ampeln. Sie bezeichnen sie als „blinkende Verkehrsmisere“ und „unfair programmierte Automaten“, die zum „großen Teil gefährlich“ seien. Woher kommt Ihr Zorn?
Ich verstehe die Menschen, die vor einer Schule oder einem Altenheim eine Ampel fordern, voll und ganz. Sie wollen sicher die Straße überqueren und sehen kein anderes Mittel. Doch wenn man sich das Verkehrssystem als Ganzes anschaut, dann sind Ampeln dazu erfunden worden, die Mobilität mit großen und schnellen Fahrzeugen zu regeln. Der zuständigen Kommission gehören fast ausschließlich Ingenieure an, keine Gerontologen, Urbanisten, Stadtplaner. Wer zu Fuß geht, wird von diesen Verkehrstechnokraten als „Kapazitätsminderungsfaktor“ denunziert. An vielen Ampeln wiegen sich Fußgänger in falscher Sicherheit. Zwei Drittel der Menschen, die an Ampeln bei Kollisionen verletzt oder getötet wurden, hatten grün. Ich bin dafür, den Verkehr generell zu verlangsamen und möglichst viele Ampeln durch Zebrastreifen zu ersetzen. Wo sie bleiben, sollte Rundum-Grün eingeführt werden. Dort bekommen Fußgänger in allen Richtungen gleichzeitig grün – wie am Oxford Circus in London, auf der Shibuya-Kreuzung in Tokio oder am Checkpoint Charlie in Berlin.
Als langjähriger Journalist kritisieren Sie „irritierende Verkehrs-Begriffe“, mit denen in Deutschland über dieses Thema diskutiert wird. Können Sie ein paar Beispiele nennen?
Wenn über „den Verkehr“ gesprochen wird, bedeutet das meist: „die Autos“. Geht es um „die Straße“, meint man oft „die Fahrbahn“. Dass zumal in Berlin viele Fußgänger auf Gehwegen unterwegs sind, fällt nach dieser Begrifflichkeit weder unter „Verkehr“ noch unter „Straße“. Doch zum Verkehr gehört mehr, als Auto zu fahren.
Sie sprechen von Pseudoauswegen aus der Krise. Das Fahrrad sei „genial, aber stark überschätzt“. Es sei oft „nicht sozial“ und beschere uns mehr Schäden als Entlastung. Was meinen Sie damit?
Wenn ich zu Fuß gehe, freue ich mich über jedes Fahrrad auf der Fahrbahn. Fahrräder stinken und lärmen nicht. Man sieht den Menschen, man kann ihm etwas zurufen. Fahrräder sind schlanker als Autos, sie nehmen nicht so viel Platz weg und sind nicht so gefährlich. Doch sie könnten nur einen kleinen Teil des heutigen Autoverkehrs übernehmen. Außerdem ziehen viele aus den Vorteilen den falschen Schluss, dass Fahrräder immer toll sind. Fahrräder haben aber auch hässliche Eigenschaften. Wie E-Scooter können sie leichter in Räume eindringen, die der Autoverkehr bisher verschont hat. Auf Gehwegen, in Grünanlagen oder im Wald kommen einem selten Autos entgegen – Fahrräder dagegen schon. Ich finde es richtig, dass auch in diesem Bereich höhere Geldbußen fällig werden: für Gehwegradeln mindestens 55 Euro.
Wie Verkehrssysteme funktionieren, weiß Frau Giffey offenbar nicht oder will es gar nicht wissen.
Zweiter Pseudoausweg aus Ihrer Sicht: die Elektromobilität. Doch kann sie nicht tatsächlich zu Änderungen des Mobilitätsverhaltens beitragen?
Die Diskussion über E-Autos kommt mir so vor, als hätte Ende des 19. Jahrhunderts der deutsche Reichsverband der Pferdekutscher gesagt: Wir wechseln die Futtersorte, dann wird alles gut, weil der Dung besser riecht! Doch es reicht nicht aus, die Antriebsart der Autos auszuwechseln. Auch die meisten Elektroautos sind zu schwer, zu schnell, und sie zerren die Städte auseinander. Damit sich der Verkehr ändert, muss er langsamer und schlanker werden.
Um die Klimakatastrophe zu verhindern, muss sich unsere Mobilität schnell ändern. Haben Sie den Eindruck, dass die neue Koalition in Berlin dazu beitragen wird?
Franziska Giffey von der SPD, die nun Regierende Bürgermeisterin in Berlin wird, sagt: Der Autoverkehr muss fließen. Aus meiner Sicht ist das primitives Gerede im Ton der 1960er-Jahre. Sie glaubt, dass man damit ein paar Handwerker bei der SPD halten kann, damit sie nicht die AfD wählen. Wie Verkehrssysteme funktionieren, weiß Frau Giffey offenbar nicht oder will es gar nicht wissen.
Was erwarten Sie von der neuen Bundes- und Landesregierung?
Von einem FDP-geführten Verkehrsministerium erwarte ich theoretisch gleiche Chancen, Flächen und Rechte für alle Verkehrsteilnehmer, die damit Wahlfreiheit erhalten. In Berlin ebenso theoretisch Vorrang für die größte und stadtfreundlichste Gruppe im Verkehr, die zu Fuß unterwegs ist. Praktisch sehe ich beides nicht.
So viel zu den Politikern. Sie scheinen aber auch etwas gegen Aktivisten zu haben, die noch größere Umwälzungen fordern als Sie – zum Beispiel eine von den meisten Autos befreite Innenstadt.








