Kommentar

Chaos im Berliner Ausflugsverkehr: Bankrotterklärung mit Ansage

Am Wochenende herrschen in den Zügen zwischen Berlin und der Ostsee menschenunwürdige Zustände. Muss das für immer so sein? Eine Analyse.

Gedränge im Berliner Hauptbahnhof: Fahrgäste warten am Bahnsteig
Gedränge im Berliner Hauptbahnhof: Fahrgäste warten am BahnsteigRüdiger Wölk/imago

Alle Jahre wieder derselbe Stress. Alle Jahre wieder dieselbe Enttäuschung. Alle Jahre wieder dieselbe Frage: Ginge das nicht besser? Wenn das Wetter am Wochenende gut ist, drängen viele tausend Berliner zu den Bahnhöfen, weil sie den nachvollziehbaren Wunsch hegen, ins Grüne oder ans Wasser zu reisen. Eigentlich müsste man ihnen gratulieren, dass sie ein Verkehrsmittel wählen, das nicht nur klimafreundlich ist, sondern auch sehr leistungsfähig sein kann. Leider spielt die Bahn ihre Vorteile nicht aus. In Zügen, die für den Andrang zu kurz sind und zu selten fahren, wird es voll. Sehr voll. Nicht nur Zartbesaitete empfinden die Zustände oft als menschenunwürdig.

Faustkämpfe unter Fahrgästen

Das ist ein Problem. Allerdings keines, das neu oder extrem überraschend ist. Es gab es schon, kurz nachdem 1838 erstmals ein Zug durch Berlin rollte und „Lustfahrten“ in Mode kamen. 1896 hieß es im Standardwerk „Berlin und seine Eisenbahnen“, dass der „Vergnügungsverkehr eine große Rolle“ spielte. Von Faustkämpfen zwischen Fahrgästen war die Rede, und davon, dass Bahnhöfe vorübergehend geschlossen werden mussten. Herausgestellt wurde aber auch, dass Bedarfszüge an Wochenenden und Feiertagen das reguläre Fahrtenangebot ergänzten – zuweilen in größerer Zahl.

Sicher lässt sich nicht jede Nachfragespitze abfangen. Doch richtig ist auch, dass man im Nordosten Deutschlands in den 1990er- und 2000er-Jahren schon einmal weiter war. So setzte die Bahn an den Wochenenden lange Ausflugszüge ein. Sie fuhren von Berlin nach Binz auf Rügen, nach Wolgast kurz vor Usedom, in den Harz, in die Sächsische Schweiz, nach Świnoujście (Swinemünde) in Polen, zuletzt nach Stralsund und Warnemünde. Doch die Finanzierung wurde immer schwieriger.

Neuer Verkehrsvertrag – aber die Kapazität nach Rostock nimmt kaum zu

Denn das Land Mecklenburg-Vorpommern meinte, dass die Zusatzzüge fast nur Berlinern dienen würden – als führen nicht auch Wochenendpendler vom Land mit und als wären Berliner Ausflügler Fahrgäste zweiter Klasse. Auch bei der Bahn wuchs der Widerstand, sie befürchtete Konkurrenz für ihren Fernverkehr. So fiel bis 2014 ein Ausflugszug nach dem anderen weg.

Immerhin: Als im Sommer 2022 zu befürchten war, dass Massen von 9-Euro-Ticket-Inhabern die Lage eskalieren lassen, rang sich Mecklenburg-Vorpommern dazu durch, sich an der Bestellung neuer Zusatzzüge zu beteiligen. Zum Start des Deutschlandtickets kehrten sie zurück. 2024 müssen es mehr werden. Doch die Chancen stehen schlecht.

Personalmangel, Baustellen und Fehler der Vergangenheit wie die Verkürzung von Bahnsteigen erschweren es, die Kapazität spürbar zu erhöhen. Zwar tritt 2026 ein neuer Verkehrsvertrag in Kraft, der aber für den Regionalexpress nach Rostock nur eine marginale Erhöhung der Platzzahl pro Zug vorsieht. Noch ungewiss ist, wie sich der Sparkurs auf Bundesebene auswirken wird. Doch Auswirkungen wird es geben.  

Wesentliche Verbesserungen sind auf absehbare Zeit nicht zu erwarten

So trist es klingt: Wesentliche Verbesserungen sind auf absehbare Zeit nicht zu erwarten. Es ist eine Bankrotterklärung – und ein Dämpfer für all jene, die ihren Teil zum Klimaschutz beitragen und sich ohne Auto erholen wollen. Ostseetouristen sollten darüber nachdenken, ob sie in Fernzugtickets mit Platzreservierung investieren. Ansonsten gilt: Wer im vollen Regionalzug sein Gepäck vom Fahrrad abnimmt und Sitzplätze nicht mit Taschen belegt, trägt seinen Teil dazu bei, die Lage zumindest etwas zu entspannen. In der Not muss man zusammenrücken. In diesem Sinne: Gute Reise!