Mobilität

Neuer Streit in Mitte: Warum diese Straße bald für Autos tabu sein soll

In der Singerstraße soll eine Schulzone für Sicherheit und Ruhe sorgen. Doch Anwohner legen Widerspruch ein. Nun droht ein Konflikt wie in der Friedrichstraße.

Die Singerstraße in Mitte mit der Gutsmuths-Grundschule (l.). Noch dürfen hier Autos fahren und abgestellt werden.
Die Singerstraße in Mitte mit der Gutsmuths-Grundschule (l.). Noch dürfen hier Autos fahren und abgestellt werden.Sabine Gudath

Auf den ersten Blick haben die beiden Straßen in Mitte nichts miteinander gemeinsam. Die Friedrichstraße in der historischen Mitte wird von Büro- und Geschäftsgebäuden gesäumt, die Singerstraße östlich vom Alexanderplatz von Wohnhäusern und einer Schule. Trotzdem gibt es etwas, das sie eint: Für beide Straßen hat das Bezirksamt Mitte verfügt, dass dort teilweise keine Autos mehr fahren dürfen. In der Friedrichstraße wurde die Sperrung aufgehoben, nachdem Rechtsanwalt Marcel Templin dagegen vorgegangen war. Jetzt nimmt er die Singerstraße aufs Korn. Wird sie zur zweiten Friedrichstraße?

Es ist dasselbe Rechtsinstrument wie in der Friedrichstraße, das dort zum Einsatz kommt: eine Verfügung, mit der motorisierter Individualverkehr ausgeschlossen wird. Und es ist dieselbe Situation, wie sie auch an der Friedrichstraße besteht: Manche Anrainer finden neue Verkehrsregelungen gut, andere fühlen sich nicht richtig informiert, und nicht wenige lehnen die Maßnahmen ab. Immer geht es auch um Grundsatzfragen: Wem gehören Berlins Straßen? Wie soll der Platz verteilt werden?

„Im Auftrag von zehn Anwohnern habe ich beim Bezirksamt Widerspruch gegen die Teileinziehung der Singerstraße eingelegt“, sagte Marcel Templin. Ziel sei es, dass die Singerstraße für Autos offen bleibt. Das war auch in der Friedrichstraße sein Ziel. Dort ließ es die Senatsverwaltung für Mobilität, die wegen der Lage im zentralen Bereich in diesem Fall die Widerspruchsbehörde ist, aber gar nicht erst zu einer Gerichtsentscheidung kommen: Sie öffnete den für Autos gesperrten 500 Meter langen Abschnitt am 1. Juli wieder für sie. Bereits im vergangenen Oktober hatte Templin im Auftrag der Weinhändlerin Anja Schröder einen Erfolg errungen: Das Verwaltungsgericht erklärte die damalige erste Sperrung der Straße für rechtswidrig.

„Aus überwiegenden Gründen des öffentlichen Wohls gerechtfertigt“

In der Singerstraße geht es um den 300 Meter langen Abschnitt zwischen der Iffland- und der Lichtenberger Straße – knapp einen Kilometer vom Haus 51 entfernt, in dem einst der DDR-Kultfilm „Paul und Paula“ gedreht wurde. Vor der Gutsmuths-Grundschule möchte das Bezirksamt eine sichere Schulzone einrichten. Für Fußgänger, Radfahrer und E-Scooter soll der Bereich offen bleiben, auch für einige Arten von Kraftfahrzeugen wie Müll- und Polizeiwagen sowie BVG-Busse. Auch Anliegerverkehr zur Erschließung der Grundschule bleibt erlaubt – anderer Autoverkehr dagegen nicht.

Die Teileinziehung sei „aus überwiegenden Gründen des öffentlichen Wohls gerechtfertigt“, heißt es in der Verfügung vom 12. Juli. Die Aufenthaltsqualität und die Verkehrssicherheit nehmen zu, die Luft- und Lärmbelastung nehmen ab, so der Bezirk.

Bäume und Grün auf der Friedrichstraße. Auf dem autofreien Abschnitt zwischen der Leipziger und der Französischen Straße wurden Pflanzkübel und Sitzbänke aufgestellt. Im Juni 2023 wurden sie wieder abgeräumt.
Bäume und Grün auf der Friedrichstraße. Auf dem autofreien Abschnitt zwischen der Leipziger und der Französischen Straße wurden Pflanzkübel und Sitzbänke aufgestellt. Im Juni 2023 wurden sie wieder abgeräumt.Markus Wächter/Berliner Zeitung

Damit reagiert das Bezirksamt auf Forderungen aus der Gutsmuths-Grundschule in der Singerstraße 8, deren Gesamtelternvertretung sich für mehr Schulwegsicherheit einsetzt. Deren Problem gibt es auch anderswo: Wenn Eltern ihre Kinder mit dem Auto zum Unterricht bringen, werden andere Kinder gefährdet. An der Gutsmuths-Grundschule gab es deshalb bereits eine Aktion, bei der die Autofahrer gebeten wurden, nicht vor dem Gebäude zu parken, zu halten und zu wenden. Beamte des örtlichen Polizeiabschnitts kamen zu Kontrollen vorbei. Zwar habe sich die Lage inzwischen gebessert. Doch Eltern fordern weiterhin, dass ein verkehrsberuhigter Bereich entsteht.

Doch die Anwohner, die Marcel Templin vertritt und die mehr als 100 Unterschriften gesammelt haben, lehnen den Plan des Bezirksamts ab. Wenn der Abschnitt gesperrt wird, verlagere sich der morgendliche Autoverkehr auf andere Wohnstraßen, so ein Argument. Auch der Umbau des Bereichs um die Kinderplansche, der im September beendet werden soll, stößt auf Skepsis. Dies könnte das falsche Publikum anziehen, hieß es. Zudem fehlten sanitäre Anlagen. Das Bezirksamt habe angekündigt, dass eine Trockentoilette aufgestellt wird. Diese reiche aber nicht aus, so die Anwohner.

Rechtsanwalt: Die Begründung des Bezirks sei „ziemlich dünn“

Für Montag lädt das Bezirksamt zu einer Informationsveranstaltung ein. Von 17 bis 18 Uhr möchten sich Verkehrsstadträtin Almut Neumann (Grüne) und Schulstadtrat Benjamin Fritz (CDU) den Bürgern stellen – vor der Gutsmuths-Grundschule, bei Regen im Rathaus Mitte. Mit der geplanten Änderung werde ein Beschluss der Bezirksverordnetenversammlung umgesetzt, betonte  die Stadträtin. „Dadurch entsteht hier ein Kiezblock“ – Durchgangsverkehr bleibt draußen. Auch aus einem anderen Grund biete sich dieser Bereich an: „Zwischen der Schule und der Plansche, die zu einem Wasserspielplatz ausgebaut wird, ist eine schöne Verbindung möglich“, sagte Neumann.

Die Anlieger fühlen sich trotzdem überrumpelt, berichtet Marcel Templin. Denn die Allgemeinverfügung, mit der das grün regierte Bezirksamt die Teileinziehung anordnet und für sofort vollziehbar erklärt, ist bereits am 21. Juli im Berliner Amtsblatt veröffentlicht worden. Zwar wurde die Umwidmung bislang noch nicht vollzogen, momentan ist die Singerstraße für Autos noch befahrbar. Doch nach jetzigem Stand wolle der Bezirk im September Nägel mit Köpfen machen, so der Anwalt.

Stadträtin: Schulstraßentest in Lichtenrade war erfolgreich

Deshalb habe er nun reagiert. Wie im Fall der Friedrichstraße wurde Widerspruch gegen die Allgemeinverfügung des Bezirksamts eingelegt. Als Nächstes könnte es darum gehen, die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit aufheben zu lassen, berichtete Templin. Die Begründung des Bezirks sei mit einem Dutzend Zeilen „ziemlich dünn“. Der Jurist schließt nicht aus, dass er diesen Schritt empfehlen werde. Zuständig wäre das Verwaltungsgericht Berlin. Weitere gerichtliche Schritte könnten folgen.

Auch im sächsischen Bielatal sind Elterntaxis ein Thema. Dieses Schild bittet Autofahrer, ihre Kinder nicht unmittelbar vor der Schule abzusetzen.
Auch im sächsischen Bielatal sind Elterntaxis ein Thema. Dieses Schild bittet Autofahrer, ihre Kinder nicht unmittelbar vor der Schule abzusetzen.Sebastian Kahnert/dpa

Auch in Tempelhof-Schöneberg geht das Bezirksamt neue Wege, damit Schulwege sicherer werden. Der Bereich vor der Bruno-H.-Bürgel-Grundschule in Lichtenrade wurde im Frühjahr fünf Wochen lang zu einer Schulstraße erklärt. Das bedeutete, dass der Abschnitt vor Unterrichtsbeginn von 7.15 bis 7.45 Uhr für Kraftfahrzeuge gesperrt wurde. Ein Projekt der Technischen Universität Berlin hat den Versuch begleitet. „Die finalen Ergebnisse bestätigen dabei die positive Bilanz“, stellt Stadträtin Saskia Ellenbeck (Grüne) fest. An diesem Mittwoch soll die Auswertung vorgestellt werden.

Brief an die Vorsitzende der Verkehrsministerkonferenz

Zusammen mit den sieben anderen Stadträtinnen und Stadträten der Grünen, die in Berliner Bezirken für die Straßen zuständig sind, setzt sich Ellenbeck für eine Änderung der Straßenverkehrsordnung ein. Es geht um den Paragrafen 45. Danach sind Beschränkungen und Verbote des fließenden Verkehrs nur dann zulässig, „wenn auf Grund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der in den vorstehenden Absätzen genannten Rechtsgüter erheblich übersteigt“. Die Forderung aus Berlin lautet nun, den Paragrafen so zu ändern, dass im Umkreis von einem Kilometer rund um Schulen künftig keine besondere Gefahrenlage mehr nachgewiesen werden muss.

„Wir dürfen an vielen Stellen erst aktiv werden, wenn detailliert nachgewiesen ist, dass an genau dieser Stelle bereits Unfälle passieren oder eine Gefahrenlage besteht“, heißt es in einem Schreiben an alle Länderverkehrsminister, das der Berliner Zeitung vorliegt. Die FDP-Politikerin ist Vorsitzende der Verkehrsministerkonferenz. „Wir brauchen mehr Handlungssicherheit vor Ort und wollen den Bürgern und Bürgerinnen mit einer zügigen Umsetzung von verkehrlichen Maßnahmen zur Schulwegsicherheit Vertrauen in die behördliche Handlungsfähigkeit geben. Daher würden wir uns sehr freuen, wenn Sie diesen Vorschlag der unbürokratischen und rechtssicheren Anordnung von Maßnahmen zur Schulwegsicherheit mit in die Beratungen des Bundesrates einbringen würden.“