Mobilität

Neue Bahnverbindung Berlin–Usedom: Droht dem Projekt ein Begräbnis erster Klasse?

In zwei Stunden an die Ostsee: Dafür kündigt das Land Mecklenburg-Vorpommern jetzt weitere Schritte an. Doch das Vorhaben muss eine hohe Hürde nehmen.

Die Hubbrücke bei Karnin. Hier querten die Züge von Berlin nach Heringsdorf den Peenestrom, der Usedom vom Festland trennt. 1945 sprengte die Wehrmacht die anderen Brückenteile. 1990 wollte die Deutsch Reichsbahn das Bauwerk abreißen. Doch Inselbewohner protestierten erfolgreich.
Die Hubbrücke bei Karnin. Hier querten die Züge von Berlin nach Heringsdorf den Peenestrom, der Usedom vom Festland trennt. 1945 sprengte die Wehrmacht die anderen Brückenteile. 1990 wollte die Deutsch Reichsbahn das Bauwerk abreißen. Doch Inselbewohner protestierten erfolgreich.Stefan Sauer/dpa

Eine schöne Vorstellung: Nach dem Frühstück aufbrechen und schon am Vormittag in der Ostsee baden. Das Bahnprojekt Südanbindung Usedom soll beliebte Strände näher an Berlin heranrücken. Das hat Reinhard Meyer, Verkehrsminister von Mecklenburg-Vorpommern, jetzt bekräftigt. „Wir wollen gemeinsam mit dem Bund die Vision Berlin–Usedom in zwei Stunden zur Realität werden lassen“, so der SPD-Politiker. Er kündigte an, dass die Vorplanung und die Wirtschaftlichkeitsuntersuchung 2023 beginnen. Doch in der jetzigen Form könnte das Projekt scheitern, fürchtet Jürgen Murach, Vizepräsident des Verbands Deutscher Eisenbahn-Ingenieure. Es drohe ein „Begräbnis erster Klasse“.

Ein sonniger Sonnabend in Karnin am Peenestrom, der die Ostseeinsel vom Festland trennt. „Um zwölf Uhr machen wir wat“, kündigt Günther Jikeli an. Die Usedomer Eisenbahnfreunde, deren Vorsitzender er ist, haben Spaten mitgebracht und einen Rasenmäher, an dem ein Schild prangt: Eisenbahn statt Autowahn. Und tatsächlich, kurz darauf geht es los. Symbolisch befreien Jikeli und seine Mitstreiter alte Schienen, die sich im Gestrüpp verbergen, von Bewuchs. „Hier müssen wieder Züge fahren“, laute die Forderung, seit 1990 schon, wie Jikeli unterstreicht. Jetzt müsse es endlich vorangehen.

Der Mann hat Ausdauer. Mehr als drei Jahrzehnte setzen sich der Sozialdemokrat und andere Insulaner schon dafür ein, dass die kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs unterbrochene direkte Bahnverbindung zwischen Berlin und Usedom wieder hergestellt wird. Günther Jikeli stammt aus einer Usedomer Fischerfamilie. 1956 ging seine Mutter mit ihm aus der DDR weg. Er wurde Chemiker und wohnte mit seiner Familie in Köln. Nach der Wende kehrte Jikeli zurück, seit 2010 lebt er wieder in der Stadt Usedom. Heute ist er 78, aber das sei für ihn kein Grund, die Hände in den Schoss zu legen, erzählt der lebhafte Mann mit dem Basecap. „Wir machen weiter. Was auch sonst?“

Hinter ihm ragt ein 33 Meter hohes riesiges Stahlgerüst düster aus dem Wasser. Es ist das weithin sichtbare Relikt der einstigen Brücke. Züge, die in rund drei Stunden von Berlin nach Swinemünde, Ahlbeck und Heringsdorf fuhren, kreuzten dort den Meeresarm. Die alten Gleistrassen verharren 25 Meter über dem Wasser – wie früher im Sommer, damit Schiffe passieren konnten. Kam ein Zug, ließen die Elektromotoren der Hubbrücke die Überbauten in zwei Minuten nach unten. Als die Wehrmacht die fast 338 Meter lange Brücke am 28. April 1945 im Zeichen der Taktik der verbrannten Erde sprengte, blieb das Hubgerüst erhalten. Die anderen Überbauten wurden nicht wieder errichtet.

Der Swinetunnel spült weiteren Autoverkehr auf die Insel

Heute müssen Bahnreisende aus Berlin einen Umweg über Wolgast in Kauf nehmen. Nach Heringsdorf, Ahlbeck und Swinemünde, das seit dem Krieg in Polen liegt und Świnoujście heißt, rund vier Stunden einplanen. Nachdem die Direktverbindung vor Jahren eingestellt wurde, ist zudem stets in Züssow umzusteigen – ebenfalls nicht jedermanns Sache. Und so ertrinkt Usedom auch in diesem Sommer wieder in einer Flut von Autos, erzählt Jikeli. Der im Juni eröffnete Swinetunnel spült weiteren Autoverkehr auf die Insel. Doch Bund und Land mauerten jahrzehntelang. Der Bund hält sich bis heute heraus. Andere Projekte seien wichtiger, es gehe nur um ein Regionalstrecke, heißt es.

Günther Jikeli (l.)  setzt sich seit Jahrzehnten für den Wiederaufbau der Südanbindung ein. Während einer Bootsfahrt zur alten Hubbrücke erläutert er Tom Schröter von der Ostsee-Zeitung seine Pläne.
Günther Jikeli (l.) setzt sich seit Jahrzehnten für den Wiederaufbau der Südanbindung ein. Während einer Bootsfahrt zur alten Hubbrücke erläutert er Tom Schröter von der Ostsee-Zeitung seine Pläne.Peter Neumann/Berliner Zeitung

Immerhin: 2020 setzte das Verkehrsministerium in Schwerin endlich ein Verfahren in Gang. Das Land gab bei der Deutschen Bahn (DB) eine Grundlagenplanung in Auftrag, bei der eine Vorzugsvariante für eine Strecke ins Seebad Heringsdorf  erarbeitet wurde. Anders als früher soll sie elektrifiziert und statt für Tempo 110 auf Tempo 120 ausgelegt werden. Ein Gleis ist geplant, das bei Karnin einen zweigleisigen Abschnitt erhalten soll. Das zugrunde gelegte Betriebsprogramm sieht alle 60 Minuten einen Regionalzug aus Rostock vor – sowie alle zwei Stunden einen Fernverkehrszug aus Berlin.

Am Sonnabend wurde die Vorzugsvariante erläutert. Wie früher soll die Südanbindung auf dem Festland von der Vorpommernmagistrale Berlin–Stralsund abzweigen, hieß es. In Ducherow soll auch eine Nordkurve entstehen, damit die Züge aus Rostock nicht ihre Fahrtrichtung wechseln müssen. Bei Karnin würde der Peenestrom überquert, künftig auf einer Klappbrücke. Das seit 1990 wieder denkmalgeschützte Hubgerüst, das immer noch der Bahn gehört, kann nicht weiter verwendet werden. Es ließe sich aber umfahren, was eine 684 Meter lange neue Brücke erfordern würde. Weniger wahrscheinlich ist, dass das Land entscheidet, das Bauwerk aus dem Weg zu räumen, also etwa zu versetzen. Aber auch für diese Variante gibt es einen Plan: Dann würde die neue Brücke 356 Meter lang.

Neubauabschnitt war schon zu DDR-Zeiten geplant

Auf 29 Kilometern soll die neue Trasse auf der alten verlaufen. Zumindest der unmittelbare Dammbereich blieb als Bahnstrecke gewidmet, was dort ein langwieriges Planfeststellungsverfahren erspart. Allerdings kommen ihm heute Häuser sehr nahe. Bei Zirchow soll die Strecke dann nach Norden abbiegen. Dort würde sich ein fünf Kilometer langer Neubauabschnitt, wie er schon zu DDR-Zeiten erwogen worden war, anschließen. Bislang hieß es, dass der Hasenberg umfahren werde. Doch es mehren sich Argumente, dort den ersten Bahntunnel von Mecklenburg-Vorpommern zu bauen. Nach weiteren zwei Kilometern würde die Trasse in Heringsdorf an zwei 405 Meter langen Gleisen enden. In dem Kopfbahnhof gäbe es Anschluss an die Usedomer Bäderbahn. 

Die DB hält es für möglich, dass auf der Südanbindung in zehn Jahren der erste Zug fährt. Mit dem Projekt soll es vorangehen, das hat Verkehrsminister Meyer in seinem Brief an Jikeli bekräftigt. „Im Hinblick auf die Verkehrssituation auf der Insel Usedom eint uns das gemeinsame Ziel, bei dem Schieneninfrastrukturprojekt Erfolge zu erzielen“, schreibt der SPD-Politiker. Im März 2023 habe die Landesregierung beschlossen, die nächsten Planungsschritte in Angriff zu nehmen.

Wird das Projekt die Wirtschaftlichkeitsuntersuchung bestehen?

So soll die DB damit beauftragt werden, eine „vertiefend qualifizierte Vorplanung“ durchzuführen. „Die hierfür zu schließende Finanzierungsverhandlung wird derzeit endverhandelt“, berichtet Meyer. „Das Land wird auch für diese wichtige Planungsphase in finanzielle Vorleistung gehen.“ Parallel dazu soll eine Wirtschaftlichkeitsuntersuchung stattfinden, das Vergabeverfahren soll im Frühherbst 2023 beginnen. „Abhängig vom Fortgang der Vorplanungen sind Ergebnisse Ende 2024/Anfang 2025 zu erwarten“, heißt es in dem Brief des Ministers.

Doch die Wirtschaftlichkeitsuntersuchung könnte sich als Achillesferse erweisen, befürchtet Jürgen Murach, der an diesem Sonnabend mit Mitgliedern des Fachausschusses Mobilität der SPD Berlin und der AG Polen nach Karnin gereist ist. Der Ingenieur, der in der Senatsverwaltung drei Jahrzehnte für Bahnthemen zuständig war, sieht einen Risikofaktor: Anders als früher soll die Südanbindung das heutige Świnoujście aussparen. Die Fahrgastnachfrage der mehr als 40.000 Einwohner zählenden Stadt, die ein wichtiges Touristikzentrum ist, werde also nicht in die Prüfung eingehen, warnt Murach. Auch Potenziale für den Güterverkehr, etwa für Getreide- und Militärtransporte zum Hafen, blieben dann unberücksichtigt. Als EU-Projekt hätte die Südanbindung zudem deutlich mehr Geldquellen zur Verfügung.

Protestaktion auf der alten Bahntrasse: Vor der Kulisse der Hubbrücke demonstrieren Bürger mit dem SPD-Bundestagsabgeordneten Erik von Malottki (Mitte) für die Reaktivierung der Strecke.
Protestaktion auf der alten Bahntrasse: Vor der Kulisse der Hubbrücke demonstrieren Bürger mit dem SPD-Bundestagsabgeordneten Erik von Malottki (Mitte) für die Reaktivierung der Strecke.Peter Neumann/Berliner Zeitung

Mecklenburg-Vorpommern beziffert die Baukosten auf 560 bis 580 Millionen Euro, die Planungskosten auf 110 bis 120 Millionen Euro. Das ist eine Menge Geld. Es gebe die Gefahr, dass das Vorhaben in seiner jetzigen Form die Wirtschaftlichkeitsprüfung nicht bestehe, warnt Murach. Die Hürden bei der standardisierten Bewertung seien hoch, ruft er in Erinnerung. „Selbst S-Bahn-Projekte in der Hauptstadt-Region wie die geplanten Strecken nach Rangsdorf und Finkenkrug haben diese Prüfung nicht bestanden.“ Er regt einen Plan B an, der in einer zweiten Variante eine Streckenführung über Swinemünder Stadtgebiet vorsieht.

Das polnische Infrastrukturministerium habe einen Wiederaufbau der Eisenbahnlinie in Polen als nicht durchführbar eingeschätzt, so das Verkehrsministerium in Schwerin. Teile der Trasse seien bebaut. Die  Strecke erspare den Reisenden nach Heringsdorf einen Umweg - und den Planern komplizierte internationale Abstimmungen. Swinemünde werde viel schneller als jetzt erreichbar sein - nur mit Umsteigen. Im Vergleich zur heutigen Situation sei die geplante Strecke ein echter Mehrwert. Jürgen Murach, der die polnische Botschaft in Bahnfragen berät, hält dagegen eine Streckenführung über Swinemünder Stadtgebiet für möglich. Das Landesministerium habe die Untersuchung  an Polen vorbei in Auftrag gegeben, ohne die Regierung und den zuständigen Woiwoden einzubeziehen, kritisiert er. Polen wurde nicht gefragt, obwohl es durchaus Interesse gebe – vor allem in Swinemünde, aber auch im übrigen nordwestlichen Polen.

Nordkurve ermöglicht Direktzüge von Hamburg nach Heringsdorf

Günther Jikeli hielte zumindest eine Stichstrecke in die polnische Hafenstadt für sinnvoll. Zur Vorzugsvariante kommt von ihm aber keine Kritik. „Wir unterstützen alle, die auf unserer Insel die Infrastruktur verbessern wollen“, sagt der Usedomer. Jikeli ist optimistisch, dass das Projekt die Hürde nimmt und der errechnete Nutzen die Kosten deutlich übersteigt. So werde die Nordkurve bei Ducherow die Wirtschaftlichkeit erhöhen, weil sie neue Direktverbindungen ermöglicht – etwa aus Hamburg. Wenn die Hauptstrecke Berlin–Stralsund auf Tempo 160 ausgebaut wird, könnte sich das in der Kalkulation ebenfalls positiv auswirken. Denn das erhöhe die Chancen, dass es einen ICE-Taktverkehr nach Usedom geben wird. Berlin–Heringsdorf in zwei Stunden und zehn Minuten: Jürgen Murach hält das für möglich. 

Minister Meyer hofft, dass das Bundesverkehrsministerium die Planung für die Beschleunigung der Vorpommernmagistrale freigibt. Dies wäre die Voraussetzung für „regelmäßige, attraktive Fernverkehrsleistungen von und nach Heringsdorf“, betont der Landespolitiker in seinem Brief nach Usedom. Die Signaltechnik der Hauptstrecke von Berlin nach Stralsund ist bereits seit 2010 für Tempo 160 ausgelegt, der Oberbau lasse jedoch derzeit höchstens 120 Kilometer in der Stunde zu, erklärt ein Eisenbahner.

Mecklenburg-Vorpommern brauche die Hilfe des Bundes, mahnt Meyer. Dann werde das Projekt gelingen.