Politik-Check zur Abgeordnetenhaus-Wahl

Bettina Jarasch: Die Frau, die Antje Kapek und Ramona Pop jetzt die Show stiehlt

Bettina Jarasch wirkt wie die Patentante, die jeder haben sollte: absolut patent. Doch reicht das, um Regierende Bürgermeisterin zu werden? Der Check.

Bettina Jarasch, Spitzenkandidatin der Berliner Grünen für die Abgeordnetenhauswahlen 2021
Bettina Jarasch, Spitzenkandidatin der Berliner Grünen für die Abgeordnetenhauswahlen 2021DAVIDS/Sven Darmer

Berlin-Bettina Jarasch macht auch in der Abendsonne am Ende eines langen Sommerwahlkampftages klar: Sie will es wissen. Einsatz und Ausdauer zeichnen den Wahlkampf der 52 Jahre alten Frau mit den schwarzen Locken aus. Fast so häufig, wie man sie auf Plakaten sieht, kann man ihr auch in echt begegnen. Keine Pressestelle schickt mehr Termine. Und sie erläutert ihre Sichtweise auch gerne noch nach Veranstaltungsende. 

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Dann referiert die Spitzenkandidatin der Berliner Grünen an der Moabiter Bordsteinkante aus Einwanderungsgesetzen und zitiert aus Migrationsstatistiken, bevor sie in das für den Wahlkampf angemietete E-Auto einsteigt und zum nächsten Termin düst. Bei solchen Szenen und in den öffentlichen Runden mit Konkurrenten, der Zivilgesellschaft oder Wirtschaftsverbänden verströmt die gebürtige Augsburgerin die Großzügigkeit im Sprechen und Denken jener gutsituierten Patentante, die jedes Kind haben sollte, aber viel zu wenige besitzen. In einem Wort, sie wirkt: patent. Lange schien es so, als würde das für das schönste Büro im Roten Rathaus reichen. Doch zuletzt wuchsen die Zweifel, ob die Wahlberlinerin die Erwartungen erfüllen kann. Doch von Anfang an.

Ramona Pop ist im Urlaub

Mit einiger Überraschung wurde die studierte Philosophin und ehemalige Redakteurin der Augsburger Allgemeinen im Oktober 2020 von der Führung der Berliner Grünen als Spitzenkandidatin vorgeschlagen. Statt der prominenteren und mächtigeren Parteifrauen Ramona Pop oder Antje Kapek sollte sie die erste weibliche Regierende Bürgermeisterin der Stadt werden. Der Grund gilt in Berlin als offenes Geheimnis: Verkehrssenatorin Pop und die Fraktionsvorsitzende Kapek konnten sich einfach nicht einigen, wer von beiden an der Spitze stehen darf – so freute sich Jarasch. Was es im Bund nicht mehr gibt, existiert immer noch in Berlin: das Realo- und Fundilager.

Im April wurde Jarasch mit kommunistisch anmutenden 97,87 Prozent auf dem Landesparteitag auf Platz 1 der Liste gewählt. Kurz darauf erreichten die Grünen mit 27 Prozent die bisher beste Umfragewerte seit fünf Jahren. Die Stimmung schien der Partei bei ihrer Entscheidung für die lachende Dritte Recht zu geben. Mittlerweile zeigt sich jedoch, wieviel Bundestrend in dem Berliner Höhenflug steckte. Seit Annalena Baerbocks Niedergang geht es auch in der Hauptstadt für die Grünen abwärts.

Vergangene Woche überholte die SPD Bündnis 90 erstmals in diesem Wahlkampf. Rächt sich nun, dass man auf eine Politikerin gesetzt hat, die im Vergleich zu Franziska Giffey, abgesehen von der Beliebtheit, einfach viel weniger Bürgern überhaupt bekannt ist? Ramona Pop befindet sich aktuell übrigens im Urlaub und konnte sich zu dieser Frage leider nicht äußern.

Eine grün-glühende Katholikin

Wohin die Reise geht, wusste Jarasch aber wahrscheinlich schon früher. Zwar wurde der Öffentlichkeit zwischen Mitte Juni und Ende August nur eine belastbare Umfrage zur Abgeordnetenhauswahl bekannt, doch beschäftigen alle Parteien Meinungsforschungsinstitute, die durchgehend Stimmungsbilder einfangen. So ließe sich zumindest erklären, weshalb Jarasch vor drei Wochen plötzlich und ungefragt mitteilte, sie wolle am 26. September für die Initiative „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ stimmen – wobei sie eine Umsetzung des Volksbegehrens im Falle des Erfolgs gleichsam nicht versprechen mochte. Dieser Position scheinen daher eher wahltaktische Überlegungen zugrunde zu liegen als die echte Überzeugung, am Grundrecht auf Eigentum rütteln zu wollen.

Auf dem Gebiet Mieten versucht Jarasch sich derzeit einen Namen zu machen. Gleichzeitig mit der Abstimmungsabsicht stellte sie das Konzept eines „Mietschutzschirms“ nach Wiener Vorbild vor. Ob Schirme besser wirken als Bremsen oder Deckel, war nicht sofort klar.

Klar, Jarasch will (wie alle Grünen) den Klimawandel abfedern, Berlin grüner machen, mehr investieren in Fahrradwege und E-Mobilität. Doch ihre Expertise liegt eigentlich auf dem Gebiet der Migration. Als Sprecherin für Integration, Flucht und Religion – in dieser Reihenfolge auf der Website – machte sie sich einen Namen. Aktuell unterstützt sie zum Beispiel die Kabulluftbrücke, um Ortskräfte aus Afghanistan nach Berlin zu holen. Ihr Einsatz für Geflüchtete speist sich aus ihrem christlichen Menschenbild. Die katholische Jarasch wirkte viele Jahre als Pfarrgemeinderatsvorsitzende von St. Marien-Liebfrauen in der Wrangelstraße in Kreuzberg. Im Bundesvorstand der Grünen leitete sie die Religionskommission. Und obwohl die Grünen traditionell den Protestanten näherstehen, wählte der Zentralrat der Katholiken sie in seinen Kreis.

Jarasch ist einen Weg gegangen, den die Grünen insgesamt gehen wollen. Von der unmittelbaren Gemeindearbeit im grünen Stammkiez bin ins höchste Gremium der Katholischen Kirche in Deutschland. Von den Sponti-Ecken Friedrichshain-Kreuzbergs, wo Jarasch früher wohnte, bis in die Gründerzeit-Gegenden Wilmersdorfs, wo Jarasch heute wohnt. Mit Rad oder U-Bahn keine ganz kurze Strecke.

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