Die kleine Musikeinlage scheint den beiden Sportlern aus Hongkong gefallen zu haben. Während einer von ihnen weiterhin die Fahrtrichtung mit dem Smartphone überwacht, kramt sein Teamkollege die Geldbörse aus dem Rucksack und wirft ein paar Münzen in den Becher des Straßenmusikanten. Noch sieben Stationen, dann haben die beiden Fußballer mit ihren Teamkollegen ihr Reiseziel mit der Berliner S-Bahn erreicht.
Deren Bahnhöfe im südöstlichen Teil der Hauptstadt zeigen seit ein paar Tagen wieder ihr normales Bild. In Adlershof, Schöneweide und Baumschulenweg vermischen sich Berliner auf dem Weg in die Innenstadt mit Besuchern, die deutlich an ihren Koffern, dem Benutzen von Apps zum Navigieren durch den öffentlichen Nahverkehr und spätestens an ihren ausländischen Sprachen zu erkennen sind. Vom bis vor wenigen Wochen störenden Pendelverkehr und Umsteigen in überfüllte Regionalbahnen auf dieser Route vom Flughafen BER in die Innenstadt und umgekehrt ist zum richtigen Zeitpunkt nichts mehr zu sehen.
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Viele Hotels und Wettkampfstätten der Weltspiele liegen an der S9
Das hilft nicht nur den Berlinern aus dem Südosten und den Besuchern der Stadt, sondern vor allem den vielen Teilnehmern der Weltspiele der Special Olympics. Den rund 7000 Athleten aus 190 Ländern, den 20.000 Volontären, den Familienangehörigen und Zuschauern, die die Linie S9 nutzen, weil diese nicht nur den Flughafen BER und Spandau miteinander verbindet, sondern die perfekte Möglichkeit zur An- und Abreise zu den meisten Hotels und Wettkampfstätten bietet. In Kombination mit den Berlinern sowie sonstigen Besuchern der Hauptstadt machen sie die S9 dieser Tage zu einer der meist genutzten Bahnen der Stadt. Und damit zu einem fahrenden Symbol gelebter Inklusion.
Die wird jeden Vormittag erstmals am Ostbahnhof stark beobachtbar. Wenn sich die ersten Sportler aus den nahe liegenden Hotels in ihren bunten Trainingsanzügen und um den Hals baumelnden Akkreditierungen auf die Reise durch die große Stadt begeben. Auf der Fahrt zum Messegelände oder dem Olympiapark vermischen sich die Farben Orange, Grün und Weiß der Elfenbeinküste unter das dunkle Blau der Athleten, Familienangehörigen und Trainer aus Hongkong. Regelmäßig fahren, da beginnt die Inklusion, geistig und mehrfach Behinderte neben nicht Behinderten täglich aus ihren Athletenhotels, die sich entlang der S-Bahn-Strecke nicht nur am Ostbahnhof, sondern auch am Alexanderplatz, wo unter anderem die deutsche Delegation untergebracht ist, oder am Hauptbahnhof befinden, zu ihren Wettkampfstätten.
In der S-Bahn-Linie 9 sind sie Passagiere, genau wie jeder Berliner oder Tourist. Bei den Weltspielen sind sie Fußballer, Basketballspieler oder Leichtathleten. Sportler, die in ihren Disziplinen zwar auch Medaillen bekommen, deren stärkste Währung vor, während und nach den Wettkämpfen aber ein Lächeln oder eine Umarmung ist und für die andere Werte wichtiger sind. Sie sind bei den Weltspielen in Berlin ein Teil der Gesellschaft, nicht herausgehoben, wie im kommenden Jahr die Fußballer bei der Europameisterschaft in Deutschland, sondern gleichgestellt und nicht, wie so häufig im täglichen Leben, isoliert. „Hier herrscht nicht der große Druck, sondern es geht wirklich um den sportlichen Gedanken, um Zusammenhalt, Akzeptanz und voneinander lernen, neue Freunde kennenlernen aus der ganzen Welt“, sagt der Basketball-Superstar Dirk Nowitzki.

Der 45-Jährige ist Botschafter der Weltspiele und hat als Sportler in Peking 2008 an Olympischen Spielen teilgenommen, kennt das Erlebnis Multisport-Veranstaltung, das doch so anders ist als die Weltspiele der Special Olympics: „Es ist so, dass hier alles ein bisschen vermischt ist, dass die Betreuer bei den Athleten wohnen, dass auch die Familien teilweise da sind. Und alle nehmen die öffentlichen Verkehrsmittel zu den Events.“
Straßenmusiker in der Bahn unterhalten Sportler aus Hongkong
Eine Fahrt wie am Mittwochvormittag um kurz vor halb elf wird zwischen Bellevue und Tiergarten zu einem Erlebnis, das manch einer der Sportler und Betreuer nicht kennt: Ein paar Straßenmusiker betreten die Bahn, packen ihre Instrumente aus, animieren zum Mitklatschen und sorgen für Erinnerungsvideos auf dem einen oder anderen Handy. Dafür geben die Sportler aus Hongkong auch gerne etwas Kleingeld, bevor sie ein paar Minuten später als geplant – die S-Bahn fährt zwar wieder, aber ist weiterhin nicht immer pünktlich – an ihrem Zielort ankommen: dem Bahnhof Pichelsberg.
Von hier geht es für die kleine Gruppe mit den blauen Shirts zu den Kleinfeldern auf dem Maifeld, auf welchem sie sich unter die anderen Nationen mischen und irgendwann im Laufe des Tages das Publikum auf den Tribünen begeistern. Und auch Ex-Nationalspieler Philipp Lahm und Celia Sasic, frühere Nationalspielerin und DFB-Vizepräsidentin für Gleichstellung und Diversität, die sich ein Bild von der Veranstaltung machen wollen und für Fotos zur Verfügung stehen.
Noch etwas lauter wird es etwas später, als sich Team Irland für einen Sieg von seinen Anhängern feiern lässt. Inmitten der ganzen Emotionen und der Freude wirft ein Spieler sogar sein Trikot auf die Tribüne, bekommt es aber wieder, da er sonst keins mehr hätte. So emotional geht es zu dieses Jahreszeit auf dem Gelände des Olympiaparks im Dunstkreis der S-Bahn sonst nicht zu.
Auch nicht im Heinz-Korber-Sport-Zentrum, wo im vergangenen Jahr noch die deutsche Hockey-Nationalmannschaft Europameister geworden ist und einige Jahre zuvor Flüchtlinge eine Bleibe gefunden hatten. Am Nachmittag vor dem Spiel der Frauen aus Aserbaidschan gegen Deutschland II könnte die Atmosphäre kaum ausgelassener sein. Zu „Sweet Caroline“ singen die Zuschauer schon ohne Spielerinnen mit, Cindy Laupers „Girls Just Want to Have Fun“, welches kurz vor dem Anpfiff zu hören ist, dürfte wohl selten passender als in diesem Moment gespielt worden sein.

Der Spaß am Sport mit- und gegeneinander ist an allen Wettkampfstätten zu beobachten. Die Begegnung und der Austausch mit anderen Sportlern, mit Volontären und Familienangehörigen unterschiedlicher Nationen ist nicht nur auf den Tribünen, sondern auch auf der Rückfahrt in der S9 zu sehen. Was ab Pichelsberg noch als gewohnte Fahrt durchgehen würde, gleicht ab Olympiastadion, spätestens aber ab Messe Süd, wo sich die meisten Athleten bei Wettkämpfen im Basketball, Volleyball, Kraftdreikampf, Badminton, Tischtennis, Tennis, Judo, Boccia und Turnen aufhalten, einer Rückfahrt von einem Konzert oder einem Hertha-Spiel, wenn dorthin wie zuletzt auch viele Zuschauer kommen.
Die Enge in den Waggons lässt zwar die Temperatur steigen und erholsame Luftverwirbelungen aus den abgeklappten Fenstern nicht mehr zu, verhindert aber nicht die Gespräche zwischen belgischen Familienangehörigen, einer deutschen Volontärin und einem Badminton-Trainer von den Malediven, der sich kurz nach 16 Uhr mit seinem Sportler auf der Rückfahrt befindet. Da wird noch einmal über die „unglaubliche Eröffnungsfeier“ im Olympiastadion, aber auch über die Möglichkeit zur medizinischen Untersuchung des jungen Athleten im Rahmen des Projektes „Healthy Athletes“ gesprochen.
Am Bahnhof Zoologischer Garten endet zwar dieses Gespräch, nicht aber die Kommunikation mit Fahrgästen, die Platz machen, damit sich der kleine Sportler von den Malediven bei der schlechten Luft zumindest auf den Boden der Bahn setzen kann.
An seinem Ziel angekommen, hat aber auch er sicher den Weg in sein Hotel gefunden und vielleicht später am Abend noch den vom Alexanderplatz zum Neptunbrunnen. Allein die ausgeschilderte Strecke dorthin könnte inklusiver kaum sein und zeigt den Besuchern jeden Tag ohne Filter nahezu alle Gesichter, die Berlin zu bieten hat. Dazu gehören Straßenmusiker und Obdachlose genauso wie Touristen und eilig durch die Gegend laufende Berliner, die von der Arbeit kommen oder auf dem Weg zu dieser sind.
Der eingezäunte, aber frei zugängliche Bereich rund um den Neptunbrunnen gleicht einem Sportfest. Die Hauptattraktion ist 3x3-Basketball. Dort hat Tom Hauthal, Delegationsleiter Team Special Olympics Deutschland, eine Situation erlebt, die er mit einem weinenden und lachenden Auge betrachtete. Einige Zuschauer hätten draußen stehen müssen, weil die Tribünen voll besetzt waren und sie nicht mehr in die Sportstätte kamen. „Das war einerseits schade. Aber: Ich bin seit 14 Jahren bei Special Olympics – wenn mir am Anfang jemand gesagt hätte, dass wir das Problem haben, nicht genügend Plätze zur Verfügung zu haben, hätte ich das nicht geglaubt“, so Hauthal. Dennoch war es ihm wichtig, dass auch weiterhin möglichst viele Leute zu den Wettkampfstätten kommen, um „Begegnungen zu schaffen, Barrieren abzubauen und Mauern in den Köpfen einzureißen. Das geht am besten, wenn man vor Ort dabei ist“.
Zumal es um den Neptunbrunnen mehr als nur Basketball gibt. Vereine wie die BR Volleys präsentieren sich, der Berliner Handballverband ist vor Ort und lässt auf ein Tor werfen. Und auch hier zeigt sich das Bild aus der S-Bahn: Es gibt keine Unterschiede zwischen behinderten oder nicht behinderten Menschen. Gemeinsam versucht man sich beim Stocksport oder beim Pickleball, setzt sich eine Brille auf, um einen kleinen Blindenfußball-Parcours, der von Hertha BSC betrieben wird, zu bewältigen. Begegnungen entstehen bei den Angeboten automatisch und werden nicht künstlich geschaffen.

So wie rund um die Fläche, die vom Theater Thikwa aus Kreuzberg, in dem seit 1991 Künstler mit oder ohne Behinderungen aktiv sind, bespielt wird. Schon bei den nationalen Spielen in vergangenen Jahren war die Gruppe dabei, wurde auch für dieses Jahr angefragt und präsentiert sich diesmal abermals mit mehreren Künstlern. In den kurzen Stücken an diesem Abend sind Tanz-, Text- und Musikelemente enthalten, auch der Sport bekommt einen Platz. Was die Passanten als kleine Kostproben zu sehen bekommen, „das ist schon Choreografie, die wir in den einzelnen Gruppen proben“, erzählt Tobias Brunwinkel. „Wenn ich hier meinen Sport mache, kommen meine Bewegungen spontan – dazu gehören auch Emotionen.“
In Kreuzberg wird Inklusion im Theater Thikwa seit 1991 gelebt
Zu den Vorstellungen im Theater in der Fidicinstraße kämen normalerweise mehr Zuschauer als an diesem sonnigen Abend am Neptunbrunnen. Aber: „Hier kommen Leute her, die uns wahrscheinlich noch nicht kennen. Deshalb ist es sehr wichtig, dass wir uns nach außen zeigen. Wir haben bestimmt schon neue Zuschauer dazugewonnen“, sagt der 35-jährige Künstler, der in puncto Inklusion trotz der schönen Bilder und Begegnung im Rahmen der Weltspiele noch Nachholbedarf sieht.
„Ich finde, dass das Thema in Deutschland zu positiv dargestellt wird. Gerade wenn es um das Thema Bezahlung in Werkstätten geht, ist es eine Katastrophe. Es gibt es so viele U-Bahn-Stationen, wo die Fahrstühle nicht funktionieren. Barrierefreiheit ist ein großes Thema, was besser werden muss.“ Begeistert zeigte er sich von der Eröffnungsfeier im Olympiastadion. Allerdings blieb auch die aus seiner Sicht nicht ohne Schönheitsfehler: „Es gab ein paar Probleme mit der S-Bahn, weil offenbar kein Sonderverkehr eingerichtet worden ist.“

















