Dies ist der Einführungstext zum Projekt „Wider die heiligen Kühe“ der Berliner Zeitung. Aus Anlass des 35. Jahrestages der deutschen Einheit und zum 36. Jahrestag des Mauerfalls prüft die Redaktion, was Deutschland ändern und welche Grundregeln das Land überdenken muss, um als geeinte Nation wieder erfolgreich und für die Zukunft gewappnet zu sein. Die nächste Wochenendausgabe der Berliner Zeitung vom 8./9. November 2025 widmet sich dem Thema ausgiebig.
Schlag nach bei Shakespeare heißt heutzutage bei der KI. Auf die Frage nach „heiligen Kühen“ antwortet sie (unter anderem) mit der Definition: „Eine umgangssprachliche Redewendung für ein unantastbares Tabu oder eine Sache, an der man nicht rütteln darf.“ Kann es das geben in einer offenen Gesellschaft, die dem Pluralismus frönt? Sachen, an denen man nicht rütteln darf? Unantastbares?
Für Journalisten, von Berufs wegen neugierig und angstfrei (wenn es nur so wäre), sollten Tabus eine Herausforderung sein. Das unterscheidet ja die Demokratie von der Diktatur: dass man über alles schreiben darf. So steht es in der Betriebsanleitung – aber wer liest die schon? In der Realität schleift sich doch ein Meinungskanon ein, willkommene Meinungen, herrschende Meinungen, die richtige Denkungsart (es gab Zeiten, da hätte man „fromm“ gesagt).
Der Meinungskanon wird immer von den Herrschenden geprägt, und die vom herrschenden Zeitgeist. Der Philosoph Leander Scholz hat kürzlich auf den kulturellen Wandel seit Gründung der Grünen 1980 hingewiesen. Von einer breiten Bewegung getragen habe die Partei „viele Kultureinrichtungen, wichtige Bereiche der Universitäten und auch weite Teile der medialen Öffentlichkeit erobert“.
Grüne Macht und Deutungshoheit
Die Eroberungen begründeten Macht. Auch Deutungshoheit, Herrschaft über das, was gesagt werden kann und soll – und was nicht. Vor fünf Jahren ergab eine Umfrage unter Nachwuchsjournalisten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, dass 92 Prozent von ihnen Grün-Rot-Rot nahestanden. Allein die Grünen kamen auf 57 Prozent. Die grüne Generation, konstituiert aus Teilen der Boomer und der Generation Golf, hat sich nicht nur die Chefsessel gesichert – sie hat sich reproduktiv etabliert.
Inzwischen schiebt erneut eine breite Bewegung den Zeitgeist vor sich her, dieses Mal in Gestalt eines europa-, wenn nicht weltweiten Rechtsschwenks. Während in den ÖRR-Redaktionen gut 80 Prozent des kreativen Personals linksgrün ticken, scharen die Parteien rechts der Mitte, Union, FDP und AfD, mehr als die Hälfte der Wähler hinter sich.
Plötzlich sind es die Rechten, die Konservativen, eigentlich ja die Beharrenden, die vehement Reformen fordern, Veränderung bis zur Disruption: Bildung, Industrie- und Energiepolitik, Sozialsysteme, Medien- und NGO-Finanzierung, Migration und Integration, Steuerpolitik, Europa und was nicht noch.
Gegenstand des Unmuts ist ein Reformstau, dem das Mitte-links-Establishment hilflos gegenübersteht. Die letzte einschneidende Sozialreform liegt zwei Jahrzehnte zurück, das war Gerhard Schröders Agenda 2010. Die letzte kollektive Politikanstrengung war Angela Merkels Grenzöffnung vor zehn Jahren; über deren Sinnhaftigkeit wird man noch Jahre streiten.
Der Unwille wächst. Die AfD, Magnet der Unzufriedenen und Enttäuschten, kann auf ihren Händen sitzen; die Wähler laufen ihr zu. Die Reformblockade wird den „Progressiven“ angelastet, den Grünen, der SPD und der Merkel-Fraktion in der CDU. Deren verwässertes Markenbewusstsein gilt vielen als das eigentliche Übel. Eine Union, die nicht mehr auf bürgerliche Werte setzt, wirkt ebenso verzichtbar wie eine Sozialdemokratie, der Minderheiten wichtiger sind als das werktätige Volk.
Kanzler Friedrich Merz, vor der Bundestagswahl noch ein mutig springender Löwe, ist als Bettvorleger gelandet. Die Eliten mauern und verteidigen ihre Besitzstände, die Errungenschaften ihres Fortschritts. Zugleich werden Rufe nach der Kettensäge laut. Was tun?
Die Berliner Zeitung hat die Frage diskutiert. Resultat ist das Projekt „Wider die heiligen Kühe“. Schließlich haben viele der Missstände, die man unter „Reformstau“ zusammenfasst, mit den heiligen Kühen unserer Gesellschaft zu tun. Ihnen wollen wir an die Hörner.
Ein Monstrum, eine feudale „Pfründe“
Das beginnt mit der heiligsten Kuh, eigentlich einem Elefanten – dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Pfründe wie in feudaler Vergangenheit: 21 Fernsehsender, 69 Radioprogramme, zehn Orchester, fünf Chöre und vier Big Bands, an die 300 Angebote in sozialen Medien. Ein Monster, dem wir 8,6 Milliarden zwangsfinanzierte Euro in den Rachen werfen, Jahr für Jahr.
Jawohl: zwangsfinanziert – auch wenn der ARD-Journalist Georg Restle das Wort Zwangsbeitrag als „ultrarechte Kampagne gegen den ÖRR“ diffamiert. Die je Haushalt zu berappenden 18,36 Euro im Monat sind eben keine „Demokratieabgabe“, sondern ein Zwangsgeld, dessen Nichtzahlung der Staat mit Beugehaft bestraft.
Restles Gleichsetzung von Kritik am ÖRR und ultrarechter Gesinnung hat Methode. Wer den heiligen Kühen der Reformverweigerer zu nahe tritt, ist wahlweise Nazi oder Faschist. Ein Kriegsverbrecher im Kulturkampf. Die „Nazikeule“ ist ein Instrument der Meinungshygiene. Sie schüchtert ein. Wer mag schon als Hitler-Versteher gelten? Das wiederum reinigt den öffentlichen Raum von unliebsamen Ansichten. Laut einer aktuellen Allensbach-Umfrage sind nur 46 Prozent der Deutschen der Ansicht, ihre Meinung frei äußern zu können. Man darf annehmen, dass es die mit den willkommenen, den herrschenden Meinungen sind.
„Wider die heiligen Kühe“ – das bedeutet auch, die Dinge beim Namen zu nennen. Ein Zwangsbeitrag ist ein Zwangsbeitrag ist ein Zwangsbeitrag. Wortklauberei und Nazikeule helfen den Mächtigen für den Moment, aber Lügen haben kurze Beine. Dagegen setzen wir unsere fünf Sekunden Ehrlichkeit, wie das Kind im Märchen: „Der Kaiser hat ja gar nichts an!“
Bleiben wir beim ÖRR. Dessen Aufgaben hat das Bundesverfassungsgericht in seinem vierten Rundfunkurteil 1986 als „unerlässliche Grundversorgung“ definiert: „Die essenziellen Funktionen des Rundfunks für die demokratische Ordnung ebenso wie für das kulturelle Leben in der Bundesrepublik. Darin finden der öffentlich-rechtliche Rundfunk und seine besondere Eigenart ihre Rechtfertigung.“
Das kann man unterschreiben. Aber reichen da nicht sieben Milliarden Euro im Jahr? Oder fünf? Schlimmstenfalls drei? Es ginge. Natürlich. Man müsste es nur wollen.
Zu konsequenter Kritik lädt auch der Sozialstaat ein, eine weitere heilige Kuh. Wobei weder Ausländer noch Drückeberger das Thema sind, keineswegs. In den westlichen Industrieländern (OECD) berappt der Staat im Schnitt etwas mehr als 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Soziales: Renten, Transferleistungen und ähnliches. In Deutschland, das bestätigt sogar die taz, sind es rund 30 Prozent. OECD-weit wächst die Zahl seit etwa 1930, dem amerikanischen New Deal.
Ermöglicht wurde das durch eine Mischung aus Produktivitätszuwachs und Ausbeutung. Die Globalisierung und neue, mächtige Wettbewerber stellen nun alles infrage. In China liegen die staatlichen Sozialkosten bei rund 13 Prozent des BIP – auch deshalb ist uns die chinesische Volkswirtschaft an Wettbewerbsfähigkeit voraus. Sozialkosten sind weder produktiv noch investiv; sie sind ein Luxus, den man sich leisten können muss.
Enteignungen befrieden nur den Neid
Was richtig ist: In China wird die Sozialversorgung auf die Familien abgewälzt. Den selbstbestimmten Lebensstil, den wir pflegen, können sich die Chinesen in dem Umfang gar nicht leisten. Nun stellt sich die Frage: Wie lange können wir es noch? Selbst wenn wir alle Milliardäre rupften, wäre das Geld binnen kurzem aufgebraucht. Enteignungen befrieden nur den gelben Neid.
Und noch eine heilige Kuh: der Föderalismus. Der Wirtschaftshistoriker Hartmut Berghoff fordert seit Jahren föderale Verschlankung und Fusion. Fast 1900 Abgeordnete sitzen in den 16 Landtagen, 131 Ministerien verwalten unser bundesstaatliches Dasein, Schüler lernen nach 16 unterschiedlichen Lehrplänen. Gartenzäune, so Berghoffs Beispiel, dürfen in Niedersachsen höchstens 1,20 Meter hoch sein und in Berlin fünf Zentimeter mehr, in Sachsen-Anhalt aber zwei Meter.
Offensichtlich fallen Strukturreformen nach Kriegen leichter. 1920 wurden acht Miniaturstaaten in das neue Land Thüringen eingegliedert, nach 1945 vier Länder zu Niedersachsen und drei zu Baden-Württemberg zusammengelegt. Bringen Kriege handlungsfähigere Politiker hervor? Unsere zeitgenössischen Amtsträger schaffen es nicht einmal, dass Vorkriegskonstrukt der Berliner Stadtverwaltung konsequent zu reformieren.
Mutlosigkeit, wo Entschlossenheit nottäte. Der Punkt ist doch: Uns geht das Geld aus. Vor unseren Augen erleben wir den Niedergang der Kfz-Industrie. Längst hat er andere Industrien, auch den mittelständischen Maschinenbau erreicht. Die paar Hidden Champions und KI-Einhörner machen den Kohl nicht fett. Wenn der Nachwuchs bald die volle Rentenlast der Boomer schultert, wird der letzte Optimist begreifen: Die fetten Jahre sind vorbei.
Spare in der Zeit, dann hast du in der Not
Spare in der Zeit, dann hast du in der Not. Doch die Zeit neigt sich dem Ende zu, und die Not steigt auf. „Wider die heiligen Kühe“ heißt auch: jetzt die Spitzhacke anlegen, wo es nicht ganz so wehtut, wo noch Reserven und Fettpolster vorhanden sind.
Ein weiterer Heiliger ist der Datenschutz. Nicht einmal vor den Russen haben wir solche Angst wie vor einer staatlichen Datenkrake, die alles über uns weiß: wo wir waren und sind, wen wir daten, mit wem wir wie oft und wie lange telefonieren – eine grauenhafte Vorstellung. Dann lieber krasse Ineffizienz, Behörden ohne Informationsaustausch, Strafverfolgung mit Handicap. Mit Enthusiasmus verzichten wir auf Gesichtserkennung und massenhaften Datenabgleich. Wir lieben das Klein-Klein. Es sichert uns geschützte Räume und die feierabendliche Gemütlichkeit.
So weit, so deutsch, so kauzig-biedermännisch wie im 19. Jahrhundert. Sind wir nicht sogar stolz darauf? Doch im zweiten Viertel des 21. taugt das nicht mehr. Das organisierte Verbrechen operiert global – unser Klein-Klein, unsere Schutzzonen, unser staatliches Nichtwissenwollen sind die Steigbügel seines Erfolgs. Derweil bedienen sich unsere internationalen Gegner, wer immer es gerade ist, aller Mittel der hybriden Kriegsführung – für ihren Erfolg gilt dasselbe.
Der technische Fortschritt dient Bösen und Guten
Seit es technischen Fortschritt gibt, dient er den Bösen und den Guten. Und in Deutschland glauben wir, mit der Absage an massenhafte Datenerfassung und an digitale Ontologien bei der Bekämpfung des Bösen mithalten zu können? Wie naiv kann man sein.
Hinzu kommt unsere schwächelnde Wettbewerbsfähigkeit. Wir konkurrieren nicht mehr (nur) mit kulturnahen Gesellschaften. Das Privileg war einmal. Wenn wir mit China mithalten wollen, wo die Proliferation von Informationen einen völlig anderen Stellenwert genießt, müssen wir unser Verhältnis zum Datenschutz revidieren.
Eine Alternative bleibt immer: erhobenen Hauptes in die Bedeutungslosigkeit zu schreiten. Doch auch das ist leichter gesagt als getan. Dann ist nämlich bald der Wohlstand dahin, die Basis des Sozialstaats, der Selbstbestimmung und der Work-Life-Balance.




