Der Anruf kommt überraschend: Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag gehe auf Ost-Tour, sagt sein Referent, und würde dabei gerne unsere Redaktion besuchen.
Ob das ginge? Normalerweise ist es eher andersherum. Journalisten gehen zu Politikern. Aber Sepp Müller ist auch ein ungewöhnlicher Politiker.
Er wurde im Wendejahr 1989 in Wittenberg geboren, wuchs mit einem bayerischen Vornamen in Sachsen-Anhalt auf, machte im Januar dieses Jahres seine Beziehung zu dem CSU-Bundestagsabgeordneten Wolfgang Stefinger öffentlich. Die beiden sind das erste offen gleichgeschlechtliche Paar in der Unionsfraktion. Aber darüber, sagt sein Referent, möchte Sepp Müller nicht sprechen.
Es geht ihm um den Osten, seine Herzensangelegenheit. Die Tour ist die dritte ihrer Art, seit Müller 2017 stellvertretender Fraktionsvorsitzender wurde. In seiner Heimatstadt Wittenberg geht es los, dann weiter nach Rostock, Greifswald, Grevesmühlen, Berlin. Er besucht Unternehmen und spricht mit Bürgern. Im Berliner Verlag informiert er sich über die Arbeit der Redaktion und schaut von der Dachterrasse über die Stadt.
Herr Müller, Sie kommen gerade aus Mecklenburg-Vorpommern. Wie ist die Stimmung dort?
Da brennt die Hütte wegen der Krankenhausstrukturreform. In Mecklenburg-Vorpommern gibt es 37 Krankenhäuser, nach der Lauterbach’schen Reformidee müsste mehr als die Hälfte weg. Und die Leute haben jetzt schon teilweise 50 Minuten Fahrzeit bis ins nächste Krankenhaus. Das 49-Euro-Ticket schmeckt vielen auch nicht. Sie sagen: Der ländliche Raum finanziert die Großstadt mit. In Grevesmühlen fährt alle zwei Stunden der Bus. Wenn er fährt.

Nach dem Willen der Bundesregierung soll vor Rügen ein LNG-Terminal installiert werden. Auch das kommt nicht gut an.
Die Leute sind alle auf 180. Robert Habeck und Olaf Scholz haben in ihrer Kommunikation alles falsch gemacht, was man falsch machen kann. Erst reden sie gar nicht mit den Leuten, und als sie endlich nach Rügen fahren und alle denken, sie reden, kommt wieder nichts. Jetzt sind alle noch mehr auf der Zinne.
Auf der Zinne?
Das sagt man so bei uns in Sachsen-Anhalt. Auf der Palme, dem oberen Dachfirst. Sie kennen sicher das Buch von Dirk Oschmann. Der hat sehr gut beschrieben, warum der Ostdeutsche so sensibel ist.
Warum denn?
Weil Vermögen und Einkommen so unterschiedlich sind im Vergleich zum Westen. Im Osten haben wir im Durchschnitt 52.000 Euro Erbschaft, im Westen haben wir Spitzenwerte beim durchschnittlichen Erbe von 176.000 Euro. Hinzu kommt, dass das Ost-Einkommen im Schnitt 15 Prozent niedriger ist. Es gibt im Osten einfach viel größere Existenzsorgen, vor allem wenn jetzt noch ein Heizungsaustausch für 80.000 Euro verlangt wird. Bei Verboten sind die Ostdeutschen total sensibel. In der DDR wurde so viel verboten. Verbote sind ein rotes Tuch.
Und die Wärmepumpe ist sowas wie die neue Corona-Impfung?
Es gibt ja schon die ersten Videos im Internet: Ich lasse mich nicht zwangsimpfen und ich lasse mir auch keine Zwangswärmepumpe einbauen, ruft eine Frau in einem. Die Leute haben wenig auf der hohen Kante und hören jetzt noch, dass sie im nächsten Jahr ihre funktionierenden Heizungen, die sie vor 30 Jahren gekauft haben, wieder rausschmeißen müssen.
Das Bild, das über Ostdeutsche in den Medien gezeichnet wird, spiegelt nicht die Realität wider.
Man will lieber wieder russisches Gas statt einer Wärmepumpe?
Jedenfalls ist es schwierig, wenn man im Osten so gleichgültig sagt: Kein Gas und kein Öl mehr aus Russland. Ich habe festgestellt, man ist mehr pro Putin, als man pro Ukraine ist. Und es gibt einen Antiamerikanismus, den ich persönlich nicht verstehen kann. Ich bin in einem freien Europa aufgewachsen, durfte mit dem deutsch-französischen Jugendwerk vier Wochen in Frankreich verbringen, habe Freunde in ganz Europa. Meine Generation, die Wendekinder, sehen einiges anders als unsere Eltern und Großeltern. Wie man mit dem Krieg und mit den Auswirkungen umgeht, führt auch zu Streit in den Familien.

Die AfD würde, wenn jetzt Wahlen wären, im Osten stärkste Partei werden. Wie stark beunruhigt Sie das?
Das Bild, das über Ostdeutsche in den Medien gezeichnet wird, spiegelt nicht die Realität wider. Wenn 25 Prozent in den Umfragen angeben, AfD wählen zu wollen, heißt das, 75 Prozent wollen sie nicht wählen.
Trotzdem, die Zustimmungswerte für die AfD im Osten sind sehr hoch.
Die Menschen sind schneller bereit, Protest zu wählen, auch, weil sie es 1989 geschafft haben, friedlich einen Staat zu Fall zu bringen. Sie nutzen die demokratischen Mittel. Befragungen nach Wahlen aber zeigen: 75 Prozent der Menschen, die AfD gewählt haben, sagen, sie haben die Partei nicht wegen der Inhalte gewählt, sondern aus Protest. Das lässt mich ein Stück weit zuversichtlich zurück.
Wie wollen Politiker wie Sie mit so einer starken AfD umgehen?
Die AfD ist für mich eine Partei, mit der ich nicht zusammenarbeiten will und kann. Das Denken von Figuren wie Björn Höcke ist gefährlich. Aber wir müssen diejenigen wieder zurückgewinnen, die nur aus Protest die AfD wählen und demokratische Alternativen sehen wollen. Das sind 75 Prozent der AfD-Wähler. Wir müssen um die Wähler der Mitte kämpfen und uns gleichzeitig nach rechts hart abgrenzen, und zwar durch Inhalte.
Wenn es uns zu bunt wird, dann kappen wir die Stromleitungen, die in den Westen gehen.
Haben Sie ein Beispiel?
Die AfD will keine Einwanderung, sondern am liebsten alle Grenzen schließen. Fragt man, wie es ohne Zuwanderung gehen soll im Gesundheitswesen, sagen sie: Automatisierung. Als könnte man 80-Jährige demnächst vom Pflegeroboter füttern und waschen lassen! Zum Heizungschaos sagt die AfD, alles soll so bleiben, wie es ist. In Zeiten von Klimawandel, Seen, die Wasser verlieren, Ernteausfällen in den Obstplantagen – das bekommen auch die Menschen im Osten mit und sind bereit, den Weg zu gehen. Aber nicht mit Vorschriften!

Wie dann?
Durch Befähigung, finanzielle Unterstützung und Kommunikation. Die Leute aus der ehemaligen DDR können eins und eins zusammenrechnen. Das Bildungssystem war da doch ein wenig besser. Sie wissen, dass es dunkel wird, wenn man Wärmepumpen ans Stromnetz anschließt plus E-Autos. Aber wir Ostdeutschen müssen uns da weniger Gedanken machen. Wir haben Fläche, wir haben erneuerbare Energien und ganz viel Braunkohleverstromung. Wenn es uns zu bunt wird, dann kappen wir die Stromleitungen, die in den Westen gehen.
Sind Sie sowas wie der Ostbeauftragte der CDU/CSU-Fraktion?
Können Sie so sagen, ja. Wobei es auf dem Papier noch „neue Länder“ heißt.
Immer noch?
Ja, aber wir haben die Gruppe der ostdeutschen Fraktionsabgeordneten umbenannt. Bei uns heißt es jetzt: Zukunft Ost, weil wir 26 Abgeordnete aus dem Osten in der Fraktion der Meinung sind, dass uns die Zukunft gehört.
26 von wie vielen insgesamt?
197.
Das klingt aber nicht unbedingt nach Zukunft.
Nein, die letzten Wahlen haben wir im Osten verloren.
Alles, was Oschmann in seinem Buch beschreibt, zeigt sich auch in der Volkspartei, der ich angehöre.
Und von den 26 Abgeordneten aus dem Osten sind vermutlich einige Westdeutsche, oder?
In Brandenburg sind zwei von vieren Westdeutsche, in Meck-Pomm einer von dreien, in Thüringen auch, in Sachsen sind alles Ostdeutsche, bis auf einen, der aber schon solange dabei ist, dass er fast zum Inventar gehört. Und wir in Sachsen-Anhalt sind vier von vier.
Ist es ein Unterschied, ob ein Ost- oder ein Westdeutscher ostdeutsche Politik macht?
Wenn man mit den Menschen gemeinsam dort lebt, deren Probleme verstanden hat und sie vertritt, gibt es für mich keinen großen Unterschied.
In Bayern gibt es vermutlich keine Abgeordneten, die gebürtige Ostdeutsche sind und bayerische Politik machen.
Da haben Sie recht, das trifft wahrscheinlich auf alle deutschen Führungseliten zu. Aber nach 1990 gab es nun mal einen Ost-West-Austausch. Und die Generation meiner Eltern hatte keinen Bock, in eine Partei zu gehen, die hatten die Nase voll von Parteien, es war allein wichtig, mit dem Rücken an die Wand zu kommen. Ganz wenige Jüngere sind dageblieben, haben sich entschieden, Politik zu machen und mitzugestalten. Jetzt ist es an der Zeit, in den Landesregierungen mehr ostdeutsche Gesichter zu präsentieren.
Gibt es in Ihrer Fraktion Stimmen, die sagen: Was soll diese Ost-Identitätspolitik mehr als 30 Jahre nach der deutschen Einheit?
Ja, alles, was Oschmann in seinem Buch beschreibt, zeigt sich auch in der Volkspartei, der ich angehöre. Ich bin in meiner Fraktion auch für Gesundheit zuständig und immer wieder überrascht zu sehen, wie schnell das Gesundheitssystem des Westens zusammenbrechen würde, wenn all diejenigen, die nach 1990 aus dem Osten in den Westen gegangen sind, wieder zurückgingen. Und dass eine Krankenschwester bei uns im Osten 20 Prozent weniger verdient als eine in Karlsruhe.
Sagen Sie das Ihren westdeutschen Kollegen?
Ja, und dann kommen so fadenscheinige Argumente wie: Eure Lebenshaltungskosten sind aber niedriger. Woraufhin ich erwidere: Kommen Sie doch mal nach Leipzig, das München des Ostens! Auch mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung finden Sie diese Vorurteile, denen man mit dem gleichen Selbstbewusstsein begegnen muss, mit dem auch die Westdeutschen auftreten.

Woher haben Sie dieses Selbstbewusstsein?
Ich bin über die Kommunalschiene in die Politik gekommen, musste mich im Stadtrat vor allem gegenüber älteren Männern durchsetzen, das hat mich geprägt.
Hilft im Westen Ihr bayerischer Name, Sepp Müller?
Als ich bei der ersten Fraktionssitzung 2017 als Neuer aufgerufen wurde, guckten alle Richtung Bayern. Aber dann ist da so eine lange Latte aus Sachsen-Anhalt aufgestanden. Da waren wir gleich ein Herz und eine Seele, die CSU und ich. Die Kollegen haben mir in tiefstem Bayerisch erklärt, dass ich die Wiedergeburt von Ochsen-Sepp bin, Josef Müller, der Mitbegründer der CSU. Sie haben mich gefragt, ob in meinem Taufschein Sepp oder Josef steht. Ich habe gesagt, kein Taufschein! Ich bin konfessionslos. Da war die Freude nicht mehr ganz so groß.
Wie sind denn Ihre Eltern in Wittenberg auf diesen Namen gekommen?
Mein Großvater war schon zu DDR-Zeiten Mitglied von Bayern München. Alle Cousins wurden nach Bayern-München-Spielern benannt. Ich nach Sepp Maier, mein Cousin nach Gerd Müller, und der jüngste Cousin heißt Olaf Nils, aber alle nennen ihn nur Olli, wie Oliver Kahn.
Sind Sie auch Bayern-Fan?
Ich bin eher Handballer. Aber es macht mich sehr stolz, dass mit RB Leipzig ein ostdeutscher Fußballverein wieder um den DFB-Pokal spielt, auch wenn er von einem Milliardär gekauft wurde.
Die Zukunft der Republik liegt hier und nicht in Bayern.
Wie ist es, als Sepp Müller auf Osttour zu gehen?
In Dessau wurde ich 2017 an einem Wahlkampfstand beschimpft: Der ist von der CSU! Jemand aus Bayern! Kann nicht sein! Ich habe gesagt, ich weiß ja nicht, wen Sie meinen, aber ich komme aus Sachsen-Anhalt.
Finden Sie, dass es das Amt des Ostbeauftragten in der Bundesregierung geben sollte?
Als Privatperson glaube ich, dass die Jammerattitüde, die so einem Ostbeauftragten anhängt, weg muss und wir mit viel mehr Selbstbewusstsein auftreten müssen. Als Fraktion sagen wir: Wir sollten so lange am Amt festhalten, wie es Unterschiede zwischen Ost und West gibt.
Wie lange wird es die Unterschiede noch geben?
Ich bin fest davon überzeugt, dass wir spätestens in zwei Jahrzehnten ostdeutsche Bundesländer sehen, die Nettozahler beim Länderfinanzausgleich sind. Sachsen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg werden, wenn die Entwicklung so weitergeht, Bayern und Baden-Württemberg überholen.

Wie das?
Tesla ist ein Baustein, Intel ist einer, und Sie werden überrascht sein, wie viele Bausteine in den nächsten Jahren dazukommen. Wir werden auch die Polikliniken wieder einführen, die heißen dann nur anders, und die Gemeindeschwester kommt auch wieder. Die Zukunft der Republik liegt hier und nicht in Bayern. Da sind die Menschen satt vom Wohlstand und definieren sich schon in meiner Generation darüber, wie wenig sie arbeiten gehen. Vier-Tage-Woche und so weiter. Das ist im Osten anders.
Klingt, als wollten Sie Bundeskanzler werden.
Wir haben mit Friedrich Merz einen sehr guten Parteivorsitzenden und Oppositionsführer, der Olaf Scholz nicht nur rhetorisch überlegen ist. Er kann auch unterschiedliche Positionen sehr gut zusammenbringen. Ich glaube, das braucht dieses Land mehr denn je.
Sind Sie in Kontakt mit Angela Merkel?
Leider nein. Aber ich bin einer der wenigen Abgeordneten, der noch aus Überzeugung ihr Bild auf dem Bürotisch zu stehen hat. Sie hat von mir auch einen handschriftlichen Brief bekommen, als sie als erste Frau die größte Auszeichnung der Bundesrepublik Deutschland bekommen hat. Sie hat das mehr als verdient. Ich bin Merkelianer zu 100 Prozent.
Trotz ihrer Russlandpolitik?
In die Abhängigkeit von Russland haben wir uns gemeinsam gebracht, Politik und Industrie. Wir haben damit Geld verdient. Die Alternative wäre fünfmal teureres LNG-Gas gewesen. Aber natürlich wissen wir jetzt, dass wir unsere Abhängigkeiten reduzieren müssen, das gilt auch für China. Ich denke da zum Beispiel an die Herstellung von Medikamenten. Wenn es zu einem Bruch mit China käme, würden wir vor einem riesigen Problem stehen.
Kann man das alles in der CDU auch so sagen?
Sie sehen doch, ich bin stellvertretender Fraktionsvorsitzender. Zwischen Friedrich Merz und mich passt kein Blatt Papier.
Und zwischen Sie und Kai Wegner?
Ich kenne Kai Wegner gut. Sein Erfolg in Berlin zeigt, dass man Wahlen in der Mitte gewinnen kann. Wie viele haben vorher über ihn gespöttelt! Ich glaube, die Stadt wird noch positiv von ihm überrascht werden. Und auch wir als Union werden noch positiv überrascht werden.












