Interview

Berlins letzter linker Bürgermeister: „Mir wurde unterstellt, mit Nazis zu paktieren“

Sechs Jahre war Sören Benn Bürgermeister von Berlin-Pankow. Nun ist Schluss. Im Interview spricht er über seinen AfD-Skandal, seine kaputte Partei und westdeutsche Überheblichkeit.

Sören Benn
Sören BennBenjamin Pritzkuleit

Nur noch wenige Tage, dann wird Sören Benn seinen Posten als Bezirksbürgermeister von Berlin-Pankow abgeben. Seine Partei, die Linke, ist bei der Wiederholungswahl im Februar im Bezirk nur drittstärkste Kraft geworden, hinter den Grünen und der CDU. Das heißt: In Berlin wird es von nun an keinen einzigen linken Bürgermeister mehr geben. Zum Interview treffen wir Sören Benn im Rathaus von Berlin-Pankow.

Herr Benn, Sie werden nicht mehr als Bürgermeister antreten. Warum?

Die Linke hat einen Sitz im Bezirksamt verloren und wir mussten dem BVV-Vorsteher mitteilen, welches Amt wir behalten wollen. Das ist das meiner Kollegin Dominique Krössin, die als Bildungsstadträtin einen glänzenden Job macht und Ur-Pankowerin ist.

Sie hätten wie bei der letzten Wahl versuchen können, Bündnisse mit anderen Parteien zu schmieden, um Bürgermeister zu bleiben. Warum machen Sie das nicht mehr?

Das hat es noch nie gegeben, dass die Drittstärksten den Bürgermeister stellen. Das wäre nicht richtig.

Hat es auch mit dem AfD-Skandal bei Ihrer letzten Wahl zu tun?

Nein. Aber das wirkt dennoch nach. Was Schlimmeres hätte mir nicht passieren können, als dass mir unterstellt wird, mit Nazis zu paktieren.

Was heißt „unterstellt“? Haben Sie Zweifel daran, dass die AfD mit fünf Stimmen für Sie gestimmt hat, wie sie es selbst sagten?

Mit Unterstellung meine ich, ich hätte es billigend in Kauf genommen, darauf gesetzt oder wäre auf die Stimmen angewiesen gewesen. Darum geht es doch. Es reicht bei einer geheimen Wahl, es hinterher zu behaupten. Kann ja keiner nachprüfen. Die AfD wollte, dass ich zurücktreten muss, nachdem sie erklärt haben, dass ich mit ihren Stimmen gewählt wurde. Das allein war für mich Grund genug, es nicht zu tun.

Sören Benn
Sören BennBenjamin Pritzkuleit

Wenn die AfD nicht für Sie gestimmt hat, woher kamen dann die Stimmen?

Ich kann dazu nur sagen: SPD und Linke hatten die notwendigen Stimmen im Vorfeld bei anderen Parteien im demokratischen Spektrum eingeworben. Ohne diese Sicherheit hätten sie mich gar nicht als Bürgermeisterkandidaten eingebracht. Die vergiftete Liebeserklärung der AfD hat niemand vorausgesehen. Das war ein Fehler und klebt mir als Scheiße am Schuh. Im Zusammenhang mit dieser Wiederholungswahl ist es ein enorm hoher Preis gewesen, den ich bezahlen musste. Eine Wahl übrigens, die weniger legitimiert ist als die fehlerbehaftete davor.

Warum das?

Weil bei der Wiederholungswahl viel weniger Leute wählen gegangen sind und das Landesverfassungsgericht, das die erste Wahl für ungültig erklärt hat, nicht darauf geguckt hat, ob und wie die Fehler sich auf die Verteilung der Mandate auswirken.

Klingt, als fühlten Sie sich als Opfer der Wiederholungswahl?

Nee, aber ich ärgere mich und am meisten darüber, dass niemand für die Pannenwahl Verantwortung übernommen hat. Ich glaube, die Wiederholungswahlen wären anders ausgegangen, wenn Franziska Giffey den Mut gehabt hätte zu sagen: Dafür muss jemand politisch geradestehen. Und damit meine ich nicht die Landeswahlleiterin. Für mich ist das eine ganze Kette von Ereignissen: Man plagiert seine Doktorarbeit, man macht eine Wahl, die voller Fehler ist, und das alles hat überhaupt keine politischen Konsequenzen.

Die vergiftete Liebeserklärung der AfD klebt mir wie Scheiße am Schuh.

Sören Benn, Bezirksbürgermeister von Pankow

Die Pannenwahl lasten Sie Giffey an, die damals noch gar nicht Regierende Bürgermeisterin war?

Nein, aber dass sie keine Konsequenzen daraus gezogen hat, laste ich ihr an. Und die Stimmung in der Koalition. Das alles hat die CDU in Berlin stark werden lassen. Die Wähler wollten zeigen: So geht es nicht weiter. Der schlechte Bundestrend meiner Partei hat uns allerdings auch nicht geholfen.

In Pankow ist die Wahl so ausgegangen wie in ganz Berlin: die CDU als großer Gewinner, vor allem in den Außenbezirken. Woran liegt das?

An dem Streit zwischen SPD und Grünen auf Landesebene, dass nicht erkennbar war: Was hält die eigentlich zusammen? Klaus Lederer und Katja Kipping als linke Senatoren waren da eher der ausgleichende Faktor.

Sören Benn
Sören BennBenjamin Pritzkuleit

Gibt es nicht auch Ursachen in Pankow selbst?

Ich denke, dass wir Bezirkspolitiker unsere Wahrnehmung überschätzen. Viele Leute wissen nicht einmal, dass es eine Bezirksverordnetenversammlung gibt und wer ich bin. Aber es gibt sicher Leute, die mich nicht gewählt haben, weil sie mich kennen. Ich habe mich immer stark gemacht für Geflüchtetenwohnheime. Das hat vermutlich einigen nicht gefallen. Ein anderer Grund ist die Verkehrswende. Berlin hat hier in Pankow jahrelang nichts verbessert im öffentlichen Nahverkehr, ich habe deshalb im Wahlkampf auch nie auf die Autofahrer eingehauen. Ich finde, man muss erst mal liefern, Alternativen zum Auto schaffen und dann die Daumenschrauben anziehen. Nicht andersherum.

Es gibt nun keinen einzigen linken Bürgermeister mehr in Berlin, der Stadt, die immer linker war als der Rest des Landes. Was ist da los?

Die Bundeslinke ist kaputt. Ich weiß nicht, wie sehr. Das strahlt auch auf den Berliner Landesverband aus. Die Großkopferten unserer Partei haben zu lange versucht, den Laden aus den falschen Gründen zusammenzuhalten. Vor ein paar Tagen gab es wieder einen Aufruf zur Selbstdisziplin und Selbstbeherrschung, ohne Ross und Reiter zu nennen. Dieser Aufruf manifestiert die größtmögliche Hilflosigkeit.

In der Corona-Politik hat es dramatische Fehler gegeben, wie die Isolation der Alten in den Heimen. Das war grundfalsch.

Sören Benn, Die Linke

Liegt es am Streit um den Ukraine-Krieg?

Nein, es ging schon mit der Flüchtlingskrise los, Sahra Wagenknechts Bemerkungen, die klangen, als sei sie in der NPD. Mein Problem mit Wagenknecht ist nicht, dass sie andere Positionen als ich hat, sondern dass sie sich den Debatten nicht stellt, immer nur von außen agiert. Auch in der Corona-Krise wurde viel innerhalb der Partei gestritten, mit teilweise querdenkerischen Bezügen. Richtig ist aber, dass es auch dramatische Fehler in der Corona-Politik gegeben hat, wie die Isolation der Alten in den Heimen.

Das würden Sie heute anders machen?

Ja, das war grundfalsch. Tausende Alte sind einsam auf ihren Heimzimmern gestorben. Man kann Familien die Entscheidung nicht abnehmen, ob sie sterbende Angehörige besuchen oder berühren dürfen.

Wie konnte es zu dieser Fehleinschätzung kommen?

Ich glaube nicht, dass es böse Absicht war, dass jemand vorhatte, eine Diktatur zu errichten. Das Leben zu schützen, hat in der Pandemie so eine Priorität bekommen, dass alle anderen Gründe nicht mehr durchgedrungen sind.

Würden Sie auch sagen, dass es falsch war, Druck auf Menschen auszuüben, sich impfen zu lassen?

Weiß ich nicht. In der Politik wollte keiner Fehler machen, und wir hatten so eine polarisierte Debatte und keinen Spielraum mehr, dem anderen zuzuhören. Als Politiker muss man auf Experten hören und die meisten haben gesagt: Impfung und Kontaktreduktion sind das Wichtigste.

Infobox image
Benjamin Pritzkuleit
Sören Benn
wurde 1968 in Kyritz geboren, lernte Baufacharbeiter, engagierte sich in der evangelischen DDR-Umweltbewegung. 1990 zog er nach Berlin-Pankow, studierte Erziehungswissenschaften, arbeitete als Sozialpädagoge in Jugendprojekten, ging drei Jahre auf eine Schauspielschule, arbeitete als Schauspieler, bevor er 2011 hauptberuflich in die Politik ging, zunächst als Referent von Linke-Politikern. 2016 wurde er Spitzenkandidat der Linke in Pankow und zum Bezirksbürgermeister gewählt.

Zurück zur Linken: Sie sind in den Neunzigern in die Linke eingetreten, weil es die Partei war, die gegen den Einsatz der Bundeswehr im Kosovo war. Im Ukraine-Krieg nehmen Sie nun eine andere Position ein als viele in Ihrer Partei, sind für Waffenlieferungen an die Ukraine. Warum?

Damals im Kosovo ging es ja nicht nur um Waffenlieferungen, sondern um den Einsatz deutscher Soldaten im Ausland. Das war ein Tabubruch, und es war ein Völkerrechtsbruch, ein Glied in einer Kette von Ereignissen, die das Völkerrecht erodiert haben. Niemand außer Putin trägt die Verantwortung für den Einmarsch in die Ukraine. Aber die Hürden gesenkt zu haben für den Bruch des Völkerrechts, daran trägt der Westen seinen Anteil, und das schon sehr lange.

Nur weil die Amerikaner Völkerrechtsverletzungen begangen haben, heißt das nicht, Russland damit durchkommen zu lassen.

Sören Benn, Die Linke

Wie können Sie sicher sein, dass Sie in drei Jahren nicht sagen werden, Sie haben sich in Bezug auf den Ukraine-Krieg geirrt, wie bei Corona?

Ich bin nie ganz sicher, richtigzuliegen, aber ich finde: Wer angegriffen wird, darf sich verteidigen. Das aber bleibt nur eine Leerformel, wenn man denjenigen, der sich verteidigen muss, nicht in die Lage versetzt, es zu tun, obwohl man es könnte. Nur weil die Amerikaner Völkerrechtsverletzungen begangen haben, heißt das nicht, Russland damit durchkommen zu lassen und den Angriff zu belohnen durch unterlassene Hilfeleistung. Ich bin noch immer Pazifist, aber ich kann den Ukrainern nicht sagen: Legt mal die Waffe aus der Hand und hört auf, euch zu verteidigen. Pazifismus muss mehr sein als eine moralische Haltung.

Wie isoliert sind Sie in der Linken mit Ihrer Position?

Gar nicht. Der Riss geht durch die Linke wie durch die Gesamtgesellschaft. Aber natürlich werde ich schon mal als Kriegstreiber tituliert.

Sie waren gerade selbst in der Ukraine, in Riwne, Pankows neuer Partnerstadt. Wie geht es den Menschen dort?

Ich habe keine Kriegsbegeisterung gesehen. Die Menschen sind müde, traurig, aber auch entschlossen, nie wieder unter russischer Vorherrschaft zu leben. Wir wollen ihnen helfen, haben einen Verein gegründet, sammeln Spenden, im Sommer sollen Kinder nach Berlin kommen, die im Krieg ihre Väter verloren haben. Es war mir wichtig, diese Städtepartnerschaft noch vor dem Ende meiner Amtszeit auf die Beine zu stellen.

Gibt es noch andere Dinge, die Ihnen wichtig sind, die unbedingt noch fertig werden müssen?

Ich hätte gerne noch den Prater wiedereröffnet, aber so schnell wird er nicht fertig. Wichtig ist mir, dass das neue Kulturhaus in Buch gebaut wird, mit Musikschule, Volkshochschule, Bibliothek, Konzertsaal. Buch hat kein Zentrum, und das Kulturhaus könnte eins werden. Wir haben sehr viel Geld in Buch gesteckt, es gibt keinen Ortsteil, in dem ich öfter war in den letzten sechs Jahren. Aber bei den Bucher Bürgern kommt es nicht an, sie finden sich nicht beachtet und wertgeschätzt.

Woran liegt das?

Das kann ich nur vermuten. Randlage, vorübergehender Bedeutungsverlust als Gesundheitsstandort und sicher auch, dass es notwendig war, sehr schnell nacheinander mehrere Geflüchteten-Unterkünfte aufzumachen.

Hat die schlechte Stimmung auch mit einem Gefühl der Benachteiligung der Ostdeutschen zu tun, wie der Literaturprofessor Dirk Oschmann es in seinem Buch beschreibt?

Oschmann spricht vielen Ostdeutschen aus der Seele. Er macht etwas sichtbar, aber er verdeckt auch etwas.

Sören Benn
Sören BennBenjamin Pritzkuleit

Was denn?

Oschmanns Bezug sind weiße westdeutsche Akademiker. Den türkischstämmigen Kohlearbeiter aus dem Ruhrgebiet gibt es bei ihm nicht. Meine Frau kommt vom Bodensee und ist zehn Jahre jünger als ich. Die hat mit diesen westdeutschen Vorurteilen nichts mehr zu tun. Ich glaube, das gibt es im Westen gar nicht so generell.

Was es gibt, ist die Verwunderung, dass die AfD so stark ist im Osten. In Brandenburg würde sie stärkste Partei werden, wenn jetzt Wahlen wären. Wie erklären Sie sich das?

Enttäuschung und Bitterkeit. Mangel an Anerkennung. Bevölkerungsverlust. Aber ja, auch rechtsoffene Weltanschauungen und eine Trotzhaltung gegen eine als westdeutsch empfundene politische Korrektheit im Oberlehrerstil.

Was sagen Sie zu Oschmanns Thesen?

Nichts, was er schreibt, ist neu. Ich habe mich geärgert, als ich las, erst jetzt, 30 Jahre später sind bestimmte Probleme, Benachteiligungen sichtbar geworden. Da habe ich gedacht: Wo warst du in den letzten 30 Jahren! Aber das kenne ich von vielen Aufsteiger-Ostdeutschen. Die wollten alles hinter sich lassen und dachten, sich unkenntlich zu machen oder ihre Vergangenheit einfach auszublenden, würde sie verschwinden lassen.

Was gibt’s da zu outen! Ich bin Ostdeutscher. Punkt. Das macht einen ja nicht zu einem Mängelwesen.

Sören Benn, geboren in der Prignitz

Haben Sie sich immer als Ossi geoutet?

Ja, aber schon die Frage finde ich seltsam. Was gibt’s da zu outen! Es ist einfach so. Ich bin Ostdeutscher. Punkt. Das macht einen ja nicht zu einem Mängelwesen.

Haben Sie als Ostdeutscher jemals Benachteiligung erfahren?

Nicht offen. Aber was wir alle kennen, ist der Satz: Ach, du bist Ossi, das merkt man ja gar nicht. Es gibt kein größeres Diskriminierungsouting als das. Oder die Sprüche von Westdeutschen aus meiner Verwandtschaft: Ihr seid alle zu früh getopft worden und habt deshalb einen an der Waffel! Diese ganzen Nummern!

Ist der Osten eine Erfindung des Westens?

Der Ostdeutsche als Mängelwesen ist eine westdeutsche Erfindung, aber die Ostdeutschen an sich in Raum und Zeit sind eine Schicksalsgemeinschaft. Wir sind den gleichen Prägungen, Zumutungen und Beschränkungen ausgesetzt worden über eine bestimmte Zeit hinweg. Und das wird uns immer verbinden, das geht nicht mehr weg.

Zu Döpfners verächtlichen Zitaten über den Osten haben Sie getwittert: Es wäre eine gute Geste, jetzt mal die Springer-Presse zu boykottieren.

Ja, sie an der Stelle treffen, wo es ihnen wehtut.

Trauen Sie sich nun, da Sie nicht mehr lange Bürgermeister sind, mehr und schärfer zu twittern als sonst?

Ich weiß gar nicht, ob ich noch twittern will, wenn ich nicht mehr Bürgermeister bin.

Warum nicht?

Weil ich nicht weiß, ob ich Politik als Beruf weiter ausüben will. Ich habe ja kein Amt mehr, nicht mal mehr ein Parteiamt.

Sören Benn
Sören BennBenjamin Pritzkuleit

Was haben Sie vor?

Erst mal zu mir kommen, nicht gleich nach der nächsten Gelegenheit greifen. Und dann weitersehen. Das Ergebnis kenne ich noch nicht.

Was ist das für ein Gefühl?

Ein surreales. Ich habe 20 Jahre Politik gemacht. Kann sein, dass ich ohne Politik nicht kann, aber das weiß ich jetzt noch gar nicht. Und die Partei ist gerade auch kein Hort der Motivationssteigerung.

Käme denn eine andere Partei für Sie infrage?

Nein, die anderen sind Status-quo-Parteien, die brauchen mich nicht.

Bleiben Sie in der Linken?

Das hängt davon ab, wohin die Reise geht.

Wie würden Sie den Bezirk Pankow am Ende Ihrer Amtszeit beschreiben?

Pankow ist ein bürgerlicher, aber kein biederer Bezirk, wir haben das zweithöchste Einkommen hinter Zehlendorf und die höchsten Bildungsabschlüsse berlinweit. Vom Lebensgefühl her ist Pankow sehr divers. Französisch-Buchholz ist ganz anders als das Viertel um den Arnimplatz. Man kann Pankow nicht in drei, vier Sätzen beschreiben, weil man den größten Teil immer auslassen würde.

Vielen Dank für das Gespräch!