Das Buch „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ von Dirk Oschmann, einem Literaturprofessor aus Leipzig, ist sofort nach seinem Erscheinen zum Bestseller geworden. Und eröffnet eine neue Debatte über ostdeutsche Identität. Gibt es sie überhaupt? Was macht sie aus? Verbergen Menschen, dass sie aus dem Osten kommen? Sind sie stolz drauf? Die Berliner Zeitung lässt Menschen mit Ost-Biografie zu Wort kommen.
Die Meinung der Autorin entspricht nicht die der Redaktion der Berliner Zeitung.
Diesmal: Katrin Grosse*, Psychotherapeutin aus Berlin. Wollen auch Sie von Ihrer Erfahrung berichten? Wir freuen uns über Zuschriften an briefe@berliner-zeitung.de
Als die Mauer fiel, war ich 25, lebte in Friedrichshain und feierte mit der Familie gerade den zweiten Geburtstag meines Sohnes. Ein paar Tage zuvor, am 4. November 1989, waren sein Vater und ich mit dem Sohn auf dem Rücken und einem riesigen selbstgemalten Papp-Mund, auf dem stand: „Nie wieder entmündigen lassen“, durch Ost-Berlin gezogen, in dem rauschhaften Gefühl: Jetzt nehmen wir, wir alle, unser politisches Schicksal selbst in die Hand. Ja, jetzt bauen wir einen Sozialismus, der seiner Idee gerecht wird.
Wir lassen uns nicht mehr verarschen!
Jetzt entlassen wir die alten Betonköpfe, die uns regieren, schicken die Stasi in den Straßenbau, lassen uns keine Angst mehr machen, nicht mehr einsperren, nicht mehr verarschen, jetzt werden wir exakt offenlegen, wie die Luftwerte sind und wie weit die Vergiftung der Flüsse fortgeschritten ist, jetzt werden wir die Medien und das Bildungssystem von ideologischem Müll befreien und die Frauenrechte weiter stärken. Unser Sohn wird keine Uniform mehr anziehen – weder die Pionier- noch die Soldatenuniform. Jetzt bauen wir uns unsere DDR.
Diese Demonstration war der Höhepunkt eines nur halben Jahres, seit der nachgewiesenermaßen gefälschten Wahl im Mai, im Gründungsfieber einer neuen Zeit.
In Kirchen, Küchen und Turnhallen hatten wir uns seit dem Frühjahr 89 mit fremden Leuten die Köpfe heiß diskutiert, Entschlüsse gefasst und Zusammenschlüsse gegründet. Ich war dabei, als die ersten Schritte zur Gründung des ANE (Arbeitskreis Neue Erziehung), der FRIEDAs (Friedrichshainer Damen) gemacht wurden und bin im September Mitglied des Neuen Forums geworden.
Am 7. Oktober 1989 haben wir das verordnete Feiern des 40. Jahrestages der DDR verweigert und uns stattdessen an der Gethsemanekirche eingefunden, wo mein Freund von Zivilpolizisten festgenommen, weggeschleppt und blaugeprügelt nach drei Tagen wieder am Stadtrand ausgesetzt wurde. Aber wir haben uns nicht mehr einschüchtern lassen, das hat unsere Wut nur noch mehr angeheizt, und der Mut überflügelte alle Angst vor Stasi-Repressalien und einem Blutbad wie kurz zuvor in China.
Ein großes Ja zu diesem Land
Am 4. November auf der riesigen Demo im Zentrum Ost-Berlins sprachen uns Künstlerinnen wie Christa Wolf und Ulrich Mühe, die diese Kundgebung initiiert hatten, aus dem Herzen und aus dem Kopf. Es war ein großes Ja zu diesem Land und zur Idee eines freien, sozial gerechten Landes.
Ich sah in dem Meer von Menschen und Transparenten kein einziges Plakat, hörte keinen einzigen Sprechchor, der ein Großdeutschland forderte, eine „Wiedervereinigung“ mit der BRD – das war überhaupt kein Thema. Das kam erst, nachdem die Rattenfänger um Kohl und Konsorten ins Land eingefallen waren und das stolze „WIR sind das Volk“ zum geschichtsvergessenen, realitätsfernen „ Wir sind EIN Volk“ gemacht wurde.

Umso erschreckender, als ich am Morgen nach der Geburtstagsfeier für unser Kind, am 10. November 1989, die sich überschlagenden Stimmen aus dem Radio hörte: „Waaahnsinn, Waaahnsinn, wir wurden mit Apfelsinen und Kaffee empfangen.“ Ich habe mir die Decke über den Kopf gezogen und eine Woche die Wohnung nicht verlassen. Meinen Freund zog es zum Brandenburger Tor, er kletterte auf die Mauer, fiel runter und brach sich den Arm. Mein alter Onkel aus Kreuzberg, ein politisch sehr wacher Kopf, der mir auf Umwegen das Buch „Perestroika“ von Gorbatschow geschickt hatte, schrieb mir eine Postkarte und forderte mich auf, ihn doch mal zu besuchen. Die Mauer wäre jetzt auf.
Diese unsägliche peinliche Besoffenheit
Und so schlurfte ich nach einer Woche erstmals in den Westen, über die Oberbaumbrücke. Aus einer lächerlichen, provisorischen Blechhütte heraus drückten mir Grenzpolizisten noch einen Stempel in meinen Personalausweis. In meiner Tasche steckten angerührter Tapetenkleister und ein Stapel selbstgeschriebener Flugblätter, auf denen so was stand wie: „Augen auf und Kopf hoch, liebe Besucher aus dem Osten. Machen wir uns nicht klein. Wir haben große Geschichte geschrieben.“
Es war mir ein Bedürfnis, dieser unsäglich peinlichen Besoffenheit von „Alles so schön bunt hier und dankedankedanke für Kaffee und Bananen“ etwas entgegenzusetzen. Aber in Kreuzberg war nichts von diesem Taumel zu sehen. Vor einigen Häusern standen kleine Tische mit Tee, Keksen und netten Willkommensgrüßen. Es war sehr entspannt. Meine Flugblätter legte ich irgendwo ab und saß dann mit meinem Onkel stundenlang in seiner Küche.
Meine Sorge, dass nun dem politischen Aufbruch im Osten der Stecker gezogen war, bewahrheitete sich leider, wie zum Beispiel an der Teilnehmerzahl an den nächsten Versammlungen des Neuen Forums abzulesen war. Es war (verständlicherweise) zu verlockend, die Freunde und Verwandten im Westen wiederzusehen, in die Off-Theater und Kinolandschaft einzutauchen, Beate Uhse zu besuchen und die 100 DM „Begrüßungsgeld“ in urigen Szenekneipen und auf Rock-Konzerten mit Bands, die man niemals live zu sehen gehofft hatte, auf den „Kopp zu kloppen“.
Auch die Prophezeiung meines Onkels, dass der Westen nun seine soziale Maske fallen lassen würde, hat sich bewahrheitet, wenngleich sich dieser Prozess noch schön lange hinzog, denn dieses gerade beängstigend rebellisch gewordene Volk musste mit ABM und diesen und jenen Übergangsregelungen ruhiggestellt und mit Formularen und tausend individuellen Optionen beschäftigt werden, bis ihm der Gemeinsinn und das Demonstrieren ausgetrieben waren, denn es ging vielen Millionen Menschen nach Massenentlassungen und Entwertung von Ausbildungs- und Berufsbiografien nun um nichts weniger als um ihre Existenz.

Apropos Existenz: In den gynäkologischen Operationssälen wurde abgetrieben und sterilisiert, was das Zeug hielt, nur noch eine von zuvor drei Schwangerschaften wurde ausgetragen, nichts fürchteten die weitaus emanzipierteren Ostfrauen – berechtigterweise – mehr, als nicht mehr arbeiten zu können und ihre ökonomische Unabhängigkeit aufgeben zu müssen. Egal, ob verheiratet oder nicht, geschieden oder nicht (die DDR hatte eine der höchsten Scheidungsraten weltweit) – keine Frau musste zuvor Sozialleistungen empfangen, wenn sie ein Kind zur Welt brachte, sondern wurde nach ihrem vorherigen Netto weiterbezahlt. Die Lebenshaltungskosten waren sowieso so niedrig, dass ein Kind keine ökonomische Abwägung, kein „Armutsrisiko“ war.
Was für eine Freiheit, Schwestern!
Aber dann – schnell, schnell – klebten überall die Plakate „Freiheit und Wohlstand statt Sozialismus“, und Kohl zog durch die als „Täler der Ahnungslosen“ bezeichneten Ostländer Thüringen und Sachsen und sammelte seine Wählerstimmen ein, was im März 90 für das verheerende Wahlergebnis sorgte – und resignierte Slogans an den Ost-Berliner Wänden wie „Wir sind ein BLÖDES Volk“ oder „SCHNURgrade ab in DE MAIZIERE“.
Im Juli knallten die Böller, die Währungsunion war durch, die DDR damit tot, noch vor ihrer besiegelten Übernahme am 3. Oktober 1990. Tja.
Mein Diplom konnte ich mir zu Hause an die Klotür nageln.
Zwei Jahre später habe ich meine Ausbildung im Westen angefangen, denn mein Diplom konnte ich mir zu Hause an die Klotür nageln. Dort, zwischen Wuppertal und Köln, fühlte ich mich oftmals wie eine Botschafterin aus einem untergegangenen Land, denn ich sah mich in Gesprächen immer wieder gezwungen, die medial absolut dominierende Geschichtsschreibung des Siegers geradezurücken, mindestens zu ergänzen.
Ich habe dort sehr viele sympathische Menschen getroffen und gesehen, es trennt uns menschlich nichts. Es gibt nicht nur in West-Berlin megatoughe Frauen, sondern auch im Westen Deutschlands Alleinerziehende, Geschiedene mit Kindern und Karrieren usw. Heute ist mein Freundeskreis 50:50, halb Ost, halb West.
Aber die gesellschaftlichen Unterschiede sind nach wie vor drastisch sichtbar (Bezahlung, Anteil an Leitungspositionen, Vertretung in der Regierung, Medienlandschaft) und in Krisenzeiten wie diesen (Ukraine- Krieg, Militarisierung, Inflation) brechen auch die ideologischen Unterschiede der beiden deutschen Staaten wieder mit voller Wucht auf. Es war eben nicht ein Deutschland. Es waren zwei völlig gegensätzliche Gesellschaftssysteme. Das eine ein bunter Absatzmarkt für Amerika, schön von dort gepampert, Schonraum für Kriegsgewinnler und Nazigrößen, die weiter in Amt und Würden bleiben konnten. Das andere, brachial „entnazifiziert“, zahlte allein die Reparationen an das mit Vernichtungsabsicht überfallene Volk der Sowjetunion (27 Millionen Tote) und ließ sich als Besatzungszone – bis Gorbatschow kam – politisch- ideologisch knechten.
Unser Schulsystem hat gebildete Menschen hervorgebracht, die ohne blutigen Terror ihre Regierung zu Fall gebracht haben.
Und dann wird in Siegermanier gerätselt, was mit dieser seltsamen Spezies Ossi nur los ist. Warum Ostdeutsche nicht kapieren und einsehen wollen, dass in der Ukraine unsere heilige Freiheit verteidigt wird und warum gerade im Osten die Rufe nach diplomatischen Lösungen am lautesten sind und die Skepsis vor einer Lösung durch reine Waffengewalt und Hochrüstung am größten.
Ich habe die Nase so voll von dieser Siegerarroganz!
Unser Schulsystem war eindeutig das bessere (siehe Finnland, Pisa-Gewinner, orientiert am DDR-Schulsystem) und produzierte eine deutlich höhere Allgemeinbildung, unabhängig von der Herkunft. Es hat gebildete Menschen hervorgebracht, die ohne blutigen Terror ihre Regierung zu Fall gebracht haben. „Keine Gewalt!“ war die Mahnung zu jeder Montagsdemonstration.

Wir haben mutig, friedlich, fröhlich die Regierung gekippt
Das mitunter peinliche Geschrei auf Pegida und „Querdenker“-Demos sehe ich als Folge von systemerhaltender Verdummung in einem maroden Schulsystem und eine verblödende Berieselung auf allen medialen Kanälen. Das ist nicht der Osten. Die in der DDR erwachsen gewordenen Menschen, bis in die 60er-Jahrgänge also, wir haben beide Systeme erlebt und wir haben mutig, friedlich und fröhlich unsere Regierung gekippt. Das soll uns weltweit erst mal einer nachmachen. Wir brauchen uns nicht kleinmachen (lassen). Weder gestern noch heute.
Vielleicht sehen wir mehr, hinterfragen mehr, sahen in Putin schon lange eher den ehemaligen KGB-Agenten als den „Handelspartner“, lassen uns aber nicht mit dem (nationalsozialistisch eingebläuten) Feindbild des von niedrigen Instinkten geleiteten Russen infiltrieren und auch nicht (mehr) mit dem Freiheitsgedusel einlullen, erkennen die dahinter liegenden geopolitischen Wirtschaftsinteressen mit klarerem Blick.
Dies als sehr eingekürzte Antwort zur Frage der Identität des Ostens.





