Russlandpolitik

Rolf Mützenich: „Ich bin kein Putinversteher, ich kenne ihn überhaupt nicht“

Ortstermin im Wahlkreis-Büro von Michael Müller: Der SPD-Fraktionschef beschwert sich über Angriffe gegen seine Partei. Und die Jugend begehrt auf.

Rolf Mützenich, Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, fühlt sich falsch verstanden.
Rolf Mützenich, Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, fühlt sich falsch verstanden.Kay Nietfeld/dpa

Berlin-Kieztechnisch hat sich der frühere Regierende Bürgermeister Michael Müller durch seinen Wechsel in den Bundestag massiv verbessert. Da der damalige und damals noch aufmüpfige Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert ihm im angestammten Tempelhofer Bezirk das Direktmandat streitig machte, wich Müller nach Charlottenburg aus. Dort hat er nun in der feinsten Ecke sein Wahlkreisbüro, nur wenige Schritte vom Kudamm entfernt, also zwischen Apple Store und Hermès, zwischen Paris Bar und dem noblen Cumberland.

Ein Kiezbüro in der Bleibtreustraße, da kommt fast ein bisschen das Lebensgefühl der einstigen Toskana-Fraktion der SPD auf. „Ich hab noch nie in einem so schönen Wahlkreisbüro diskutiert“, sagt Rolf Mützenich, und es klingt ein bisschen so, als sei ihm das unangenehm. Es sind ja schließlich schwere Zeiten.

Der SPD-Fraktionsvorsitzende ist auf Einladung des Bundestagsneulings Müller hier nach Charlottenburg gekommen. Gemeinsam mit dem Historiker Peter Brandt soll er über die „Zeitenwende“ sprechen, und darüber, was sie für die internationale Friedensordnung bedeutet.

Michael Müller staunt über die forsche SPD-Jugend

Auch Ralf Stegner ist da, der wie Müller im Auswärtigen Ausschuss sitzt. „Manchmal schlucken wir beide ein bisschen, wie vehement die Jungen mit ihren Forderungen sind“, sagt Müller. Deren Ansatz sei ja, dass es keine Alternative zu Waffenlieferungen gebe. „Der Zwiespalt zwischen Helfen und Aufrüsten beschäftigt uns in der SPD-Fraktion sehr.“

Mützenich sitzt ein bisschen vorgebeugt an einem großen hellen Holztisch. Er komme gerade von einer „sehr rustikalen“ Debatte im Bundestag, erklärt er den etwa 50 Genossinnen und Genossen, die aufmerksam zuhören. In der rustikalen Diskussion ging es um das Sondervermögen der Bundeswehr, und deshalb ist Mütze, wie ihn die Partei nennt, auch gleich mitten im Thema.

Die Union hat an diesem Mittwoch zwar zugesagt, mit SPD, Grünen und FDP einen gemeinsamen Antrag zu Waffenlieferungen an die Ukraine zu verabschieden. Beim Sondervermögen aber stellt sie sich quer.

100 Milliarden Euro für die Bundeswehr hat Bundeskanzler Scholz in seiner Zeitenwende-Rede im Bundestag zugesagt – auch zur Überraschung des SPD-Fraktionsvorsitzenden Mützenich. Der hat in den vergangenen Wochen, so hört man, viel dafür getan, den Vorstoß von Scholz, nun ja, ein bisschen zu begrenzen.

Nun ist in den entsprechenden Gesetzesentwürfen nicht mehr von der Bundeswehr, sondern sehr viel allgemeiner von der Stärkung der Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit die Rede. Am Tag zuvor hat die Bundesregierung sich bereit erklärt, etwa 50 Flugabwehrpanzer in die Ukraine zu schicken. Auch Deutschland will jetzt also schwere Waffen liefern. Mützenich passt diese ganze Richtung nicht.

„Die Diskussion in Deutschland hat mittlerweile eine militaristische Schlagseite“, das hat er morgens im Fernsehen erklärt, und an diesem Abend ruft er es noch einmal laut in den Raum mit den Parteimitgliedern. Viele von ihnen nicken. Es sind meist die Älteren. Der amerikanische Verteidigungsminister habe beim internationalen Treffen in Ramstein gesagt, die Ukraine könne siegen, sagt Mützenich. „Was heißt das, liebe Genossinnen und Genossen? Muss Russland dann auch die Krim räumen?“

„Wandel durch Annäherung“: Was war da falsch?

Mützenich geht es aber auch um die eigene Partei. „Der Krieg in der Ukraine darf nicht für die innenpolitische Debatte missbraucht werden“, sagt der 62-Jährige. Nun werde alles in Frage gestellt, was die SPD in den letzten 50 Jahren geleistet habe. „Ich habe schon manchmal den Eindruck, da soll auf die Sozialdemokraten eingeprügelt werden“, sagt er.

Das seien alles „durchsichtige politische Manöver“, mit denen die Entspannungspolitik der SPD der vergangenen Jahrzehnte diskreditiert werde. Wobei er auch differenziert: „Ich nehme das der parlamentarischen Opposition weniger übel als manchen Medien.“

Draußen dämmert es. Das Wahlkreisbüro hat ein großes Fenster zur Straße. Dort bummeln Touristen vorbei, die die umliegenden Restaurants ansteuern. Sie wirken wesentlich besser gelaunt als die älteren SPD-Herren auf dem Podium, die sich um ihre Lebensleistung betrogen sehen. Wandel durch Annäherung, das kann doch nicht alles falsch gewesen sein?

„Man kann natürlich darüber diskutieren, ob Nord Stream 2 das Gelbe vom Ei war“, sagt Mützenich. Mehr kommt nicht dazu. Mea culpa ist eben auch nicht sein Ding. So hatte es kürzlich der Gazprom-Lobbyist Gerhard Schröder im Interview mit der New York Times gesagt, als er nach seiner Nähe zu Putin gefragt wurde.

Immer werde ihm vorgeworfen, er sei ein Putinversteher, beschwert sich Mützenich stattdessen. „Dabei verstehe ich den Mann überhaupt nicht. Ich kenne ihn nicht mal!“ Die Zuhörer lachen. Mützenich bleibt ernst. Den Namen des Altkanzlers nimmt er an diesem Abend nicht ein einziges Mal in den Mund. Auch Frank-Walter Steinmeier und Sigmar Gabriel, die Außenminister der früheren Legislaturperioden, werden nicht erwähnt. Dafür wird der verstorbene Egon Bahr zitiert. „Er hat gesagt, dass es in Europa keine Stabilität ohne die Beteiligung von Russland gibt“, so Mützenich.

Peter Brandt: „Russland kann nicht besiegt werden“

Das ist das Stichwort für Peter Brandt. Der emeritierte Geschichtsprofessor und älteste Sohn von Willy Brandt warnt: „Russland kann nicht besiegt werden. Das ist eine gefährliche Illusion.“ Er selbst sei ja nie Radikalpazifist gewesen, sagt Brandt. „Ich wundere mich aber schon, wie sich jetzt der General a.D. Anton Hofreiter und andere profilieren.“ Natürlich lehne auch er den russischen Angriff ab, aber man müsse die akute Situation von der Vorgeschichte unterscheiden. „Die Ukraine wird derzeit etwas zu schön gezeichnet“, sagt Brandt. Er ist aber auch dafür, diese Frage später einmal separat zu diskutieren. Im übrigen sei der Krieg in der Ukraine nicht der einzige und auch nicht der brutalste. „Ich möchte da jetzt nicht falsch verstanden werden“, sagt Brand. „Es ist natürlich furchtbar. Aber das ist auch im Jemen so.“

Jetzt schaltet sich der Wahlkreisabgeordnete Michael Müller kurz ein. Er sitzt als Mitglied im Auswärtigen Ausschuss und ist gerade dabei, sich in die Außenpolitik einzuarbeiten. Er fragt Mützenich nach der SPD-Politik in Bezug auf Russland und Putin: „Haben wir vielleicht nicht doch etwas übersehen?“ Der SPD-Fraktionsvorsitzende antwortet mit einem kategorischen Nein. „Ich kann mich noch gut an die Debatte zur Krim erinnern“, sagt Mützenich. Andere Regierungen hätte bei der Frage nach den Sanktionen weitaus mehr gebremst als die deutsche. Außerdem habe man die Ukraine umfassend unterstützt.

Eine große Nabelschau

Die Genossinnen und Genossen im Raum haben lange geduldig zugehört. Nun wollen einige von ihnen auch Fragen stellen. Nicht alle sind angenehm. „Sollten wir uns nicht auch damit befassen, was wir hätten besser machen können?“, fragt eine junge Frau. „Wir betreiben zurzeit ja eine große Nabelschau.“ Sie verweist auf Experten der Friedrich-Ebert-Stiftung, die ja auch forderten, die sicherheitspolitische Realität vom friedenspolitischen Anspruch zu entkoppeln. Und es sei ja nun mal so, dass Deutschland mit seiner Waffenhilfe sehr spät dran sei. Ein anderer ergänzt, dass die Ukraine auch deshalb standhalten könne, weil Amerikaner und Briten rechtzeitig Waffen geliefert hätten.

Da sind sie, die forschen jungen Leute, die Müller am Anfang erwähnt hat. Sie wirken fokussiert und sachlich. Beide Fragesteller arbeiten selbst im politischen Bereich, zeigen aber erkennbar wenig Lust, an alten Zöpfen mitzuflechten.

Mützenich wird gallig. „Du warst ja sehr deutlich, dann antworte ich auch sehr deutlich“, sagt er zu der jungen Frau. Er habe nun einmal ein Unbehagen bei Waffenlieferungen. „Ich habe auch einige Experten“, sagt er mit Verweis auf die Friedrich-Ebert-Stiftung. „Ich sitze mit Peter dort im Vorstand.“ Er habe die Kanzlerin darin bestärkt, dass die Ukraine nicht in die Nato aufgenommen werde, „und dazu stehe ich immer noch.“ Für die Zukunft sieht er allerdings schwarz: „Im Kalten Krieg hat man wenigstens noch miteinander geredet“, sagt er. „Aber wir werden in eine Zeit vor dem Kalten Krieg zurückgeworfen werden.“

Im Publikum melden sich weitere, vorwiegend jüngere Genossen. Michael Müller entschließt sich, den kritischen Austausch, den er zu Beginn des Abends angekündigt hat, doch nicht weiter zu fördern. Er wolle lieber mehr vom Podium hören, das sei so interessant, erklärt er. Von den Parteimitgliedern im Raum bekommt keines mehr das Wort.