Essay

Israel, Polen, USA: Wer Gerichte gleichschaltet, könnte es schnell bereuen

Richter werden mit Vorwürfen konfrontiert, nicht nur in Israel und Polen. Sie werden nicht gewählt, nerven Regierungen und sichern sich immer mehr Macht. Gut so, meint unser Autor.

Richter des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe
Richter des Bundesverfassungsgerichts in KarlsruheUli Deck/dpa

Man kann derzeit hinsehen, wo man will – in die Türkei, nach Polen, Ungarn und seit neustem sogar nach Israel: Kein Politiker, der die Unabhängigkeit der Gerichte und ihre Fähigkeit, Regierungen und Parlamente zu kontrollieren, infrage stellt, gibt das offen zu. Keiner sagt: Diese Richter gehen mir auf die Nerven, weil sie mir verbieten, zu 100 Prozent das durchzusetzen, was in meinem Wahlprogramm steht, was ich meinen Wählern versprochen habe und wofür ich eine demokratisch gewählte Mehrheit bekommen habe.

Alle sagen: Richter sind nicht demokratisch gewählt und haben zu viel Macht. Oder – das war bisher die Lieblingserzählung der polnischen und türkischen Regierung: Die Kaste der Richter hält zur Opposition. In Polen war das die konservativ-liberale Bürgerplattform, der die Richter, die ein gesetzliches Verbot der Parteienzugehörigkeit haben, angeblich heimlich die Stange halten. Und da die Opposition ja abgewählt wurde, haben auch ihre Richter keine politische Daseinsberechtigung mehr. Wo kämen wir hin, wenn jeder das Ergebnis demokratischer Wahlen durch Gerichtsentscheidungen unterminieren könnte? In der Türkei ging es noch rabiater zu: Dort wurden massenweise Richter entlassen, weil sie angeblich einer Bewegung nahestanden, deren Mitglieder am fehlgeschlagenen Putsch von 2016 beteiligt waren. Israels Premierminister Benjamin Netanjahu sagt, wann immer ein Mikrofon in der Nähe ist: Wir geben Israel nur das Gleichgewicht zurück, das ihm durch die säkulare, liberale, aktivistische Richterschaft genommen wurde.

In all diesen Ländern bestreiten Richter das. Und die Gegner solcher Reformen sehen die Demokratie bedroht, weil die Regierung daran geht, diese vom Volk abgehobenen, nicht demokratisch gewählten, aktivistischen Richter in die Schranken zu weisen, die sich ständig Kompetenzen aneignen, die ihnen nie jemand zugeteilt hat.

Dabei treffen diese Vorwürfe ja zu, ganz besonders, wenn es um Verfassungsgerichte und oberste Gerichte geht.

Richter, die sich zu viel herausnehmen

Natürlich sind oberste Gerichte und ihre Richter abgehoben: Sie verdienen ganz gut, sie geben sich zugeknöpft und bedienen sich einer Sprache, die kein normaler Mensch versteht, sie sind abgeschirmt von politischem Einfluss und regeln ihre Geschäfte selbst. In manchen Ländern werden sie sogar von ihresgleichen gewählt und können, falls sie sich danebenbenehmen, auch nur von ihresgleichen bestraft werden. In Südafrika, der Ukraine, Polen (bis 2017) oder Ruanda wachen darüber oberste Justizräte – nur damit Regierung und Parlament nicht auf die Idee kommen, unbequeme Richter mit Disziplinar- und Strafverfahren aus dem Amt zu mobben.

Und überall benutzen sie ihre Unabhängigkeit, um sich immer mehr Macht und Kompetenzen zu sichern, indem sie Urteile sprechen, die nicht nur Gesetze für ungültig erklären, sondern die dem Gesetzgeber auch noch vorgeben, was er zu ändern hat, damit das Gesetz anschließend nicht noch einmal kassiert wird. Das geschieht ständig. Vor der Pandemie benutzten deutsche Richter ihre Macht nicht nur, um Stadtverwaltungen zu bestrafen, die eine zu hohe Luftverschmutzung zugelassen hatten, nein, sie verhängten Fahrverbote in den Innenstädten und griffen damit in die Kompetenzen von Stadtrat und Stadtverwaltung ein. Das ist es, was hinter dem Vorwurf des Aktivismus steckt: Richter usurpieren sich Macht, die ihnen niemand gegeben hat. Das Karlsruher Verfassungsgericht tut das ständig. Gerade hat es dem Bundestag nicht nur gesagt, dass das Verbot von Kinderehen gegen das Grundgesetz verstößt, sondern auch gleich noch erklärt, was genau in dem Gesetz stehen soll, das der Bundestag nun verabschieden muss, um diesen Verstoß gegen die Verfassung wiedergutzumachen.

Gegen den Europäischen Gerichtshof (EuGH) werden noch viel schlimmere Anschuldigungen erhoben: Er ziehe Macht an sich, die eigentlich den Regierungen der Mitgliedsländer zusteht und die sie nie auf die Europäische Union übertragen haben. So klingt es immer aus Hauptstädten, wenn die Regierung dort mal wieder in Luxemburg verloren hat. In den letzten Jahren waren das vor allem Budapest und Warschau. Und recht haben sie: Oberste Richter machen so etwas häufig. Die Karlsruher Richter haben so verfügt, die Bundeswehr sei eine Parlamentsarmee und internationale Einsätze außerhalb der Landesverteidigung benötigten die Zustimmung des Parlaments. Davon steht im Grundgesetz nichts, das haben sich die roten Roben damals so ausgedacht, volkstümlich gesprochen. So wie sich vor noch längerer Zeit der EuGH ausgedacht hat, dass ein Produkt – es ging damals um Likör von schwarzen Johannisbeeren aus Lyon –, das in einem EU-Mitgliedsstaat legal auf den Markt kommt, auch in den anderen EU-Mitgliedsstaaten verkauft werden darf. Unter anderem deshalb dürfen die Bayern ihr Reinheitsgebot beim Bier behalten, aber nicht verlangen, dass jeder, der in Bayern Bier verkaufen will, es auch einhalten muss. Obwohl Johannisbeerlikör ja doch etwas anderes ist als eine deftige bajuwarische Maß.

Richter, die sich zu viel herausnehmen müssen

Das Problem dabei: Richter und Gerichte müssen das tun. Sie alle arbeiten mit einem Recht, dem ständig die Wirklichkeit davonläuft. Denn der Gesetzgeber reagiert immer nur, er sieht fast nichts voraus und braucht eine Menge Zeit, um Neuigkeiten zu regulieren. Man denke nur daran, wann das Internet entstand und wann der Bundestag daran ging, es zu regulieren: geschätzte 20 Jahre später.

Nun gibt es durchaus Menschen, die fordern, die Richter möchten sich doch, bitte sehr, immer ganz genau an den Buchstaben des Gesetzes halten und nichts, aber auch gar nichts hinzuinterpretieren. Diese Ansicht ist unter US-Republikanern sehr populär. Sie finden, die über 200 Jahre alte Verfassung müsse genauso angewandt werden, wie sie damals aufgeschrieben wurde. Damit würden Richter gewissermaßen zu Gralshütern der Gründungsväter der amerikanischen Demokratie, ohne dass sie ständig ihren eigenen Senf dazugeben könnten.

Weiß Gott nur, wie sie dann aus dem Text der zweiten Verfassungsänderung herauslesen, dass jeder erwachsene Einwohner das Recht hat, in seinem Keller Schnellfeuergewehre einzulagern und sie – manche Staaten erlauben das – sie auch offen mit sich herumzutragen. Der zweite Verfassungszusatz sagt nur so viel: „Da eine gut regulierte Miliz für die Sicherheit eines freien Staates notwendig ist, darf das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen, nicht verletzt werden.“ Unter dem heftigen Beifall republikanischer Politiker haben Richter immer wieder ein individuelles Recht auf Waffenbesitz in diesen Satz hineininterpretiert und ihn auf Waffen ausgedehnt, die sich die Autoren des zweiten Verfassungszusatzes 1791 nicht einmal in ihren kühnsten Träumen vorstellen konnten. Damals galt der Vorderlader noch als der letzte Schrei auf dem Waffenmarkt. Schwierig, so ein Ding in eine Schule zu schmuggeln, zumal man es nur im Stehen laden kann. Kein Problem, für einen Gym-trainierten Junglehrer, einen Täter auf die Bretter zu schicken, bevor er ein Massaker anrichten kann. Nebenbei bemerkt: Schulmassaker konnten die Gründungsväter der USA gar nicht einkalkulieren – es gab damals noch keine allgemeine Schulpflicht.

Kurz und gut: Wie man sieht, haben selbst extrem konservative Richter einen Hang dazu, ihre Befugnisse auszuweiten und das Recht, aufgrund dessen sie urteilen, neuen Gegebenheiten anzupassen. Und immer, wenn sie das tun, kriegen sie aus der einen Ecke Beifall und aus der anderen Ecke Buh-Rufe.

Jeder nimmt sich zu viel heraus

Das ist, nebenbei gesagt, auch keine Eigenschaft, die nur Richtern und Gerichten eigen ist. Auch Parlamente und Regierungen versuchen ständig, ihre Befugnisse auszuweiten, indem sie ihre Apparate und Haushalte aufblähen und ihre Macht ausweiten. Nirgendwo sieht man das besser als im Europäischen Parlament, das verglichen mit nationalen Parlamenten immer noch ein Papiertiger ist, aber fast jede Entscheidung, in der es das letzte Wort hat, dazu benutzt, Rat und Kommission Konzessionen in anderen Bereichen abzupressen. Damit das keiner mitbekommt, verstecken sich solche Zugeständnisse dann unter so blumig-bürokratischen Bezeichnungen wie „inter-institutionelle Vereinbarungen“.

Demonstranten in Tel Aviv blockieren ein Polizeifahrzeug, um einen Protest gegen die von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu geplante Reform des Rechtssystems zu zerstreuen. Netanjahu hat einen vorläufigen Stopp der umstrittenen Justizreformen bestätigt.
Demonstranten in Tel Aviv blockieren ein Polizeifahrzeug, um einen Protest gegen die von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu geplante Reform des Rechtssystems zu zerstreuen. Netanjahu hat einen vorläufigen Stopp der umstrittenen Justizreformen bestätigt.Ilia Yefimovich/dpa

Netanjahu behauptet, seine Justizreform „stelle ein Gleichgewicht zwischen Regierung und Gerichtsbarkeit wieder her“, das durch politische Richter aus den Fugen geraten sei. Aber dieses Gleichgewicht gibt es nicht und hat es nie gegeben: Es entsteht ständig neu durch das Ringen der einzelnen Institutionen, die sich gegenseitig kontrollieren und einschränken und so uns Bürger davor schützen, dass eine Institution zu mächtig wird und dann anfängt, unsere Rechte zu verletzen. In diesem Ringen sind die obersten Gerichte ohnehin die schwächsten Glieder: Regierungen verfügen über Polizei, Staatsanwaltschaft und Armee, die Macht über das Geld haben die Parlamente. Richter haben nur ihr Ansehen und ihre Urteile. Und solange es im Staat keinen Streit gibt und Regierende und Opposition rechtzeitig selbst Kompromisse schließen, bleiben ein oberster Gerichtshof oder ein Verfassungsgericht ohnehin machtlos.

Demokratie als Diktatur der Mehrheit

Auch mit der Behauptung, Richter seien nicht demokratisch gewählt, haben Politiker wie Netanjahu, Kaczynski, Orbán und Erdogan recht. Man könnte das ändern – wie mancherorts in den USA, wo der Sheriff und die Richter vom Volk gewählt werden. In extremen Fällen kann das dazu führen, dass Regierung, Parlament, Richter und Sheriff alle von der gleichen Mehrheit gewählt werden und dann deren politische Ansichten widerspiegeln, zum Beispiel Demokraten sind. Republikaner können dann im Grunde nur noch in einen Staat auswandern, der von einer republikanischen Mehrheit beherrscht wird. Aussicht darauf, dass die Gesetze in ihrem Staat ihre Interessen und Werte widerspiegeln oder zumindest von Richtern in ihrem Sinne interpretiert werden, haben sie dann nicht mehr. Das wäre eine extreme Form der Mehrheitsdemokratie, gewissermaßen eine Diktatur der Mehrheit, die Kompromisse mit der Minderheit unnötig macht. Die eine Hälfte der Bevölkerung regiert dann gegen die andere, etwas kleinere Hälfte. Man könnte sich sogar vorstellen, dass sie mit ihrer Herrschaft über die Institutionen eine Steuer durchsetzt, durch die dann nur noch Republikaner Steuern zahlen müssen, die über den Haushalt nur noch an Demokraten fließen. Und demokratische Richter schmettern alle Klagen dagegen ab, während demokratische Sheriffs dafür sorgen, dass sich kein Republikaner der Steuerpflicht entzieht.

Die Kompromiss-Maschinen

Damit so etwas nicht geschieht, gibt es in modernen Demokratien, die oft auch als „liberal“ bezeichnet werden, Kontrollmechanismen, die die Wahlgewinner dazu zwingen, Kompromisse mit den Verlierern zu machen und möglichst viele unterschiedliche Interessen und Wertesysteme zu berücksichtigen. Meistens sind das die obersten Gerichte oder Verfassungsgerichte. Ist eine ausreichend große Zahl von Bürgern oder Politiker mit einer Entscheidung unzufrieden, klagt sie dort und die Regierungsmehrheit muss dann einen Kompromiss machen: entweder mit den Klägern, damit sie die Klage zurückziehen, oder mit der Opposition, damit die einer Verfassungsänderung zustimmt (und das Verfassungsgericht außen vor bleibt) oder eben mit dem Verfassungsgericht selbst – das dann selbst Politik machen kann.

Das ist der Aspekt, den Politiker wie Erdogan oder Netanjahu gar nicht mögen: Kompromisse machen. Sie wollen durchregieren, ihre Ziele zu 100 Prozent durchsetzen, obwohl sie bei den Wahlen ja meist nur eine knappe Mehrheit bekommen haben, die weit entfernt von 100 Prozent ist.

Recep Tayyip Erdogan, Präsident der Türkei, während des Gipfels der Konferenz über Interaktion und vertrauensbildende Maßnahmen in Asien (CICA). 
Recep Tayyip Erdogan, Präsident der Türkei, während des Gipfels der Konferenz über Interaktion und vertrauensbildende Maßnahmen in Asien (CICA). Vyacheslav Prokofyev/AP/dpa

Und das ist die politische Funktion oberster Gerichte: Sie sprechen und interpretieren nicht nur Gesetze, sie sind Maschinen zur Erzwingung von Kompromissen, oft zusammen mit anderen Institutionen, die berechtigt sind, sie anzurufen, mit Ombudsmännern und Referenden, die – wie in der Schweiz – gegen den Willen der Regierung ausgerufen werden können. Damit können Minderheiten erzwingen, dass ihre Rechte und Vorstellungen zumindest teilweise berücksichtigt werden, was für die Regierenden den Vorteil hat, dass ihre Gesetze dann nicht nur anerkannt werden, weil sie die Polizei (oder ein Sheriff) mit Gewalt durchsetzen kann, sondern weil sie mehr Bürger für richtig halten, als dies der Fall wäre, hätte eine knappe Mehrheit einer fast so großen Minderheit ihren Willen aufgezwungen. Der Brexit bietet sich da als Musterbeispiel an: Per Volksabstimmung zwangen 52 Prozent der Briten 48 Prozent ihrer Mitbürger zum Verlassen der EU. Die Briten sind das gewohnt, ihr Wahlsystem sorgt bei jeder Unterhauswahl dafür, dass ein zweistelliger Prozentsatz von Wählern in jedem Wahlkreis unberücksichtigt bleibt. In einem System voller Kontrollmechanismen wie in der Bundesrepublik oder Belgien muss eine knappe Mehrheit immer damit rechnen, vor den Kadi geschleppt und zu Kompromissen gezwungen zu werden. Oder an einer Abstimmung im Bundesrat oder in einem belgischen Regionalparlament zu scheitern und dann dort Kompromisse machen zu müssen.

Warum oberste Richter Politik machen müssen

Wer glaubt, Verfassungsgerichte und oberste Gerichtshöfe seien nur dazu da, die Verfassung zu interpretieren und für die Einheitlichkeit des Rechts zu sorgen, ist also schief gewickelt: Damit könnte man auch eine Professorenversammlung, einen Parlamentsausschuss oder einen Computer mit Künstlicher Intelligenz beauftragen. Ihre eigentliche Funktion ist hochpolitisch: Sie erzwingen Kompromisse und die Berücksichtigung der Interessen derer, die überstimmt werden, und sie entscheiden Konflikte zwischen anderen Staatsorganen.

Die polnische und die türkische Opposition (und seit kurzem auch die israelische) werfen ihren Regierungen gerne vor, sie haben die Gerichtsbarkeit politisiert, indem sie regierungsnahe Richter ernannten (oder, in Israel, ernennen will). Die wehren sich dagegen und behaupten, die Richter, die sie vorgefunden hätten, seien schon „politisiert“ und regierungsfeindlich gewesen. Das sind Schüsse in den Ofen: Verfassungsrichter und oberste Richter sind per se politisch. Keine Verfassung gibt das ausdrücklich zu, aber ohne diese Prämisse gibt es keinen Grund, sie zu beauftragen, Streit zwischen Staatsorganen zu schlichten. Was geschieht, wenn das nicht mehr funktioniert, konnte man in den letzten Jahren in Polen beobachten, dessen Regierung gerade zugeben hat, Netanjahu bei seiner Justizreform beraten zu haben. Nachdem die Regierungsmehrheit unter Verletzung der Verfassung das Verfassungsgericht mit Parteigängern aufgefüllt hat, nahm es niemand mehr als neutralen Schiedsrichter ernst. Bürger und andere Staatsorgane hörten auf, Klagen einzureichen. Dann zerstritten sich die Richter untereinander so sehr, dass sie auch keine Konflikte zwischen Staatsorganen und innerhalb der Regierung mehr schlichten konnten. Und vor anderthalb Jahren verabschiedete die Regierungsmehrheit auch tatsächlich eine Steuerreform, mit der Regierungsgegner gezwungen werden sollten, höhere Steuern zu bezahlen, die die Regierung dann in die Taschen ihrer Wähler lenken konnte. Ein Verfassungsgericht, das so etwas hätte verhindern können, gab es nicht mehr. Das Projekt scheiterte nicht an einem Gerichtsurteil, sondern an der Inkompetenz der Regierung – in der Verwaltung hatte sie zu viele Fachleute mit treuen, aber inkompetenten Parteisoldaten ersetzt, die dafür sorgten, dass das ganze Projekt im Chaos endete.

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu (r.) in der Knesset in Jerusalem. Nach heftigem Protest hat er seine umstrittene Justizreform vorerst ausgesetzt.
Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu (r.) in der Knesset in Jerusalem. Nach heftigem Protest hat er seine umstrittene Justizreform vorerst ausgesetzt.Maya Alleruzzo/AP

Deshalb mag man bezweifeln, ob die polnische Regierung ihre israelischen Gesprächspartner auch von den zahlreichen Schattenseiten einer solchen Justizreform in Kenntnis gesetzt hat. Bekommen Regierungspolitiker erst einmal direkten Einfluss auf Richterernennungen und die Möglichkeit, höchstrichterliche Urteile zu ignorieren oder zu überstimmen, wirkt das wie eine Einladung zu Korruption und Nepotismus. Funktionäre der Regierungsparteien und hohe Beamte können dann sicher sein, dass sie für Veruntreuungen, Korruption und Vetternwirtschaft solange nicht bestraft werden, wie sie treu zur Regierung stehen und ihr Verhalten dieser nicht schadet. Das ist der Grund, warum selbst manche autokratischen Regime ihre Finger von der Gerichtsbarkeit lassen – unabhängige Richter, die auch Regierungsbeamte hinter Gitter bringen können, schrecken die eigenen Anhänger davon ab, sich ihre Taschen zu füllen und die Machthaber in Misskredit zu bringen.

Dass die Gleichschaltung der Justiz wie eine Einladung zur Korruption wirkt, zwingt die Regierung dazu, zuerst die Rechte der Opposition und danach die Pressefreiheit einzuschränken, denn nur so lässt sich verhindern, dass das Gebaren korrupter Parteigänger an die Öffentlichkeit kommt und der Regierung bei Wahlen schadet. Und so wird aus einer Justizreform, die die obersten Gerichte „entpolitisieren“ will, eine schleichende Aufhebung der Demokratie, selbst dann, wenn das die Regierung am Anfang dieses Weges gar nicht vorhatte. Am Ende dieses Weges ist sie dann in einer Zwangslage, in die sie sich selbst gebracht hat: Bei den Wahlen geht’s dann nicht mehr nur darum, ob die Regierungspartei an der Macht bleibt oder in die Opposition geht, sondern darum, ob ihre Führung an der Macht bleibt oder ins Gefängnis geht. Das ist eine Blaupause für Wahlkämpfe mit Elementen eines Bürgerkriegs. In liberalen Demokratien schützen die gleichen Kontrollmechanismen, die die Regierenden am Durchregieren hindern, sie auch nach dem Machtverlust vor der Rache ihrer Gegner. Illiberale Demokratien zwingen die Regierenden, um jeden Preis an der Macht zu bleiben, weshalb die Regierungen in solchen Ländern auch meist recht stabil sind.

Bei aller Kritik, die es an der Politik von Angela Merkel und Gerhard Schröder gab – vor dem Gefängnis mussten sie sich nach verlorener Wahl nicht fürchten. Die gleiche unabhängige (und in Deutschland noch dazu stark dezentralisierte) Justiz, die ihnen früher das Regieren so erschwert hat, schützt jetzt ihre Bürgerrechte. Polens starker alter Mann, Parteichef Jaroslaw Kaczynski, Premierminister Mateusz Morawiecki und einige seiner Minister müssen sich nach verlorener Wahl ebenso vor dem Gefängnis fürchten wie Benjamin Netanjahu, der ungarische Premierminister Viktor Orbán und Recep Tayyip Erdogan. Sie alle haben Systeme geschaffen, die sie zwingen, um ihrer persönlichen Freiheit und der ihrer Anhänger wegen um jeden Preis an der Macht zu bleiben. Am Anfang dieses Weges stand in all diesen Fällen nur die eigentlich ja berechtigte Kritik an einer aktivistischen, undemokratischen Justiz und an zu unabhängigen, abgehobenen Richtern.

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