Es waren Tage und Nächte, wie Israel sie noch nie erlebt hatte: Vom Ben-Gurion-Flughafen starteten keine Flugzeuge mehr, Schulen, Kindergärten, Bibliotheken blieben geschlossen, die Müllabfuhr holte keinen Müll mehr ab, Busse fuhren nicht, Reservisten der Armee verweigerten ihren Dienst, Bürgermeister begannen einen Hungerstreik, Tausende Menschen gingen auf die Straße, schwenkten israelische Fahnen, riefen „Demokratie“.
In Israel wird ständig gegen irgendetwas protestiert, seit vielen Wochen finden Demonstrationen gegen die geplante Justizreform statt, aber so entschieden und geschlossen wie in den vergangenen Tagen standen die Bürger noch nie auf den Barrikaden. Arbeiter neben Universitätsprofessoren, Künstler neben Armeegenerälen, Start-up-Gründer neben Geheimdienstagenten. Es war berührend und beängstigend zugleich. Ein Land wehrte sich, kämpfte um die Demokratie, gegen die Diktatur. Und niemand wusste: Wie wird es ausgehen? Werden die Proteste erfolgreich sein, das Land stabilisieren oder zerstören?
Auslöser des Widerstands war die sogenannte Justizreform, der Versuch der Netanjahu-Regierung, dem Obersten Gerichtshof das Recht zu nehmen, politische Entscheidungen zu revidieren. Der Gerichtshof ist die einzige und wichtigste Kontrollinstanz für das Parlament.
In der Vergangenheit lehnten Richter beispielsweise eine Regelung ab, nach der ultraorthodoxe Juden von der Wehrpflicht befreit werden, ließen Häuser von Siedlern im Westjordanland abreißen, die auf palästinensischem Privatland standen. Damit soll in Zukunft Schluss sein. Das Parlament – so will es die Regierung – soll die Möglichkeit haben, Entscheidungen des Gerichts mit einfacher Mehrheit wieder aufzuheben.

Opfert Netanjahu aus Eigennutz die Demokratie?
Seit Monaten wird um die Gesetzesänderungen gekämpft. Linke, säkulare Israelis sind dagegen, fürchten die Zerstörung des Rechtsstaats. Religiöse und Nationalisten sind dafür, sehen sie als ein Mittel zur Durchsetzung ihrer Interessen. Nirgendwo lässt sich die viel beschworene Spaltung des Landes so gut beschreiben wie an diesem Streit.
Nie war der Konflikt zwischen den Lagern so zugespitzt wie jetzt, lagen Netanjahus Nerven so blank, wirkte der Premierminister so überfordert. Denn es geht auch um die Frage: Erlässt der Likud-Chef, gegen den seit Jahren ein Korruptionsverfahren läuft und dem eine Haftstrafe droht, dieses Gesetz auch und vor allem, um seinen eigenen Kopf zu retten? Opfert er aus Eigennutz die Demokratie?
Noch vor wenigen Tagen sah es so aus. Als am Wochenende Israels Verteidigungsminister Yoaf Gallant forderte, die Justizreform zu stoppen, schmiss Netanjahu ihn raus. Aber dann, in der Nacht zu Montag, als die Massenproteste begannen, nicht Hunderte, sondern Zehntausende auf die Straße gingen und die Gewerkschaften mit einem Generalstreik das gesamte Land zum Erliegen brachten, schien er sich dem Druck zu beugen, hielt spontan eine Rede, kündigte an, die Justizreform fürs Erste aufzuschieben, in den Dialog zu treten mit den Demonstranten, bis eine Einigung erreicht sei.
Die Erleichterung ist groß. Auf beiden Seiten. Aber die Demokratie ist noch lange nicht gerettet. Denn der Premierminister ist dafür bekannt, sich unter größtem Druck wieder etwas Neues einfallen zu lassen, um seine politische Macht zu sichern. Seine letzten Jahre als Regierungschef lassen sich als eine Serie politischer Spiele erzählen, bei denen es am Ende immer nur darum geht, an die Macht zu kommen und die Strafverfolgung gegen ihn zu stoppen.
Die Spiele werden immer skrupelloser, immer gefährlicher. Das wurde spätestens Ende 2022 klar. Netanjahu hatte mit seiner Likud-Partei nach 18 Monaten in der Opposition die Wahlen gewonnen und machte Itamar Ben-Gvir zum Sicherheitsminister, einen Mann, der ein langes Vorstrafenregister hat und dafür bekannt ist, ein Rassist und Demokratiefeind zu sein. Noch wenige Monate zuvor hatte Netanjahu sich geweigert, Ben-Gvir die Hand zu schütteln oder sich mit ihm fotografieren zu lassen. Er war ihm zu extremistisch. Aber ohne ihn und seine Partei hätte Netanjahu keine neue Regierung bilden können. Er ging den Pakt mit dem Teufel ein.




