Zum zehnten Mal seit Jahresbeginn haben Frankreichs Gewerkschaften am Dienstag zu einem Protesttag gegen die Rentenreform aufgerufen.
Zahlreiche Flüge, Bahnen, Busse und Unterrichtsstunden sind ausgefallen. Seit der Verabschiedung der Rentenreform vor gut einer Woche richtet sich der Protest zunehmend gegen Präsident Emmanuel Macron und seine Regierung, die die Reform in den Augen vieler Franzosen auf harte Weise durchs Parlament geboxt hat.
Derzeit befasst sich noch der Verfassungsrat mit der Reform, die das Rentenalter bis 2030 schrittweise von 62 auf 64 Jahre anhebt. Bei bisherigen Protesttagen gingen teilweise mehr als eine Million Menschen auf die Straße.
Präsident Macron immer unbeliebter
Die Popularität des Präsidenten ist im Keller: Laut einer Odoxa-Umfrage für Public Sénat, den Fernsehsender des französischen Senats, ist die Beliebtheit von Macron im vergangenen Monat stark gesunken. Nur 30 Prozent der Befragten halten ihn noch für einen „guten Präsidenten der Republik“.
Verständnis für die Massenproteste gibt es auch hierzulande. Der rentenpolitische Sprecher der Linke-Fraktion im Bundestag, Matthias W. Birkwald, sagte der Berliner Zeitung: „Ich freue mich sehr, dass bei diesen vielen Demonstrationen vor allen Dingen auch junge Menschen auf der Straße sind.“
„Die Franzosen wollen die Maloche bis zum Tod verhindern“
Birkwald kann gut nachvollziehen, warum die Mehrheit der Bevölkerung in Frankreich die Rentenreform ablehnt: „Das formale Renteneintrittsalter liegt in Frankreich derzeit bereits bei 67, was in Deutschland erst ab 2031 der Fall sein wird.“ Besonders betroffen seien Beschäftigte mit kleinen Einkommen und mit körperlich anstrengenden Jobs.
„Die müssen auch in Frankreich mehrere Jahre früher sterben als Menschen, die im Büro arbeiten“, sagt Birkwald, der auch stellvertretender Vorsitzender der deutsch-französischen Parlamentariergruppe ist. Auf den Punkt gebracht, sagt Birkwald: „Die Franzosen wollen die Maloche bis zum Tod verhindern.“

Protest wäre auch in Deutschland bitter nötig, findet Birkwald: „Die Renten sind besonders niedrig, vor allem im Osten und vor allem bei Frauen. 40 Prozent der Menschen in Deutschland haben weniger als das Durchschnittseinkommen.“ Die Folge sei, dass sehr viele Menschen lediglich eine Rente von deutlich unter 1000 Euro zur Verfügung hätten.
„Es wäre gut, wenn mehr Menschen realisierten, dass wir in Deutschland angesichts der hohen Inflation dringend eine einmalige zehnprozentige zusätzliche Rentenerhöhung bräuchten“, sagt Birkwald. Als 2010 im Bundestag die Rente mit 67 beschlossen wurde, mobilisierte zwar die IG Metall Tausende Mitglieder zum Protest, zu Massendemonstrationen wie in Frankreich kam es allerdings nicht.
Extreme Polizeigewalt bei den Protesten gegen die Rentenreform
Macrons Regierung zeigt für den Protest hingegen wenig Verständnis. Stattdessen wird versucht, die Demonstranten in die Schmuddelecke zu stellen: „Radikalisierte Elemente der Ultralinken und der extremen Linken versuchen, Gewerkschaftsmärsche als Geiseln zu nehmen“, sagte der französische Innenminister Gerald Darmanin auf einer Pressekonferenz am Montag. „Sie kommen, um Schaden anzurichten, die Polizei zu verletzen und zu töten. Ihre Ziele haben nichts mit der Rentenreform zu tun.“
Dabei kommt die Kritik am teilweise brutalen Vorgehen der Polizei mittlerweile sogar aus dem Sicherheitsapparat. „Wir stehen am Vorabend eines Aufstands“, wurde ein hochrangiger Bereitschaftspolizist am Dienstag in der französischen Onlinezeitung Mediapart zitiert. „Der Präsident spielt mit dem Feuer“, fügte der Beamte hinzu, der sich nur anonym zitieren ließ. „Das könnte in einer Tragödie enden: dem Tod eines Demonstranten.“
Auch internationale Beobachter sind wegen der staatlichen Brutalität alarmiert. Die Menschenrechtskommissarin des Europarates, Dunja Mijatovic, hatte in einer Stellungnahme am vergangenen Freitag angemahnt, dass „sporadische Gewaltakte“ einiger Demonstrierender nicht die „übermäßige Anwendung von Gewalt durch Beamte“ rechtfertigten.
Der französische Finanzsektor soll zahlen
Die meisten Demonstranten protestieren friedlich. Die Gewerkschaften sind nicht isoliert, sondern werden auch von vielen Kulturschaffenden unterstützt. Der Sender Euronews titelte: „Der Streik gegen die Rentenreform hat die Mona Lisa erreicht.“ Der Louvre, das meistbesuchte Museum der Welt, blieb am Montagmorgen geschlossen, gewerkschaftlich organisierte Mitarbeiter blockierten den Eingangsbereich. Mit Spruchbändern und Fahnen forderten die Demonstranten vor der berühmten gläsernen Pyramide die Aufhebung des Rentengesetzes.
Auch Nicolas Mathieu, Träger des wichtigsten französischen Literaturpreises Prix Goncourts, solidarisiert sich mit den Protesten. Die Rentenreform sei ein Thema, das auch ihn persönlich betreffe, sagte der Schriftsteller der Zeitung L’Humanité. Ihn ärgere die weit verbreitete Erzählung, etwas länger zu arbeiten sei angesichts der steigenden Lebenserwartung nicht so schlimm. Das Leiden am Arbeitsplatz sei zwar nicht die Regel, aber doch überall zu finden.
„Heute kommen die Menschen aus diesem Covid-Tunnel, sie können ihren Benzintank oder ihren Einkaufswagen nicht mehr füllen, sie fragen sich, ob sie in den Urlaub fahren können, und man wirft ihnen diese Reform jetzt auf diese bösartige und brutale Art und Weise ins Gesicht.“ Mathieu ist sich sicher, dass es viele andere Möglichkeiten gibt, das Rentensystem auszugleichen, als die Last auf die Lohnabhängigen zu verlagern. „Es wird so viel Geld auf andere Weise verdient, insbesondere im Finanzsektor.“




