Die Berliner Zeitung debattiert über mögliche Auswege aus dem Ukraine-Krieg. In der Wochenendausgabe vom 5./6. November 2022 haben wir zwei Positionen gegenübergestellt: den Essay von Jörg Arnold, der sich skeptisch zeigt, ob weitere Waffenlieferungen an die Ukraine einen Frieden herbeiführen können. Und die Position des Politologen Alexander Dubowy, der dargestellt hat, dass Russland nicht bereit ist, zu verhandeln, daher nur eine bedingungslose militärische Unterstützung der Ukraine langfristig den Frieden für den Westen sichern kann. Uns hat nach der Veröffentlichung der Einwurf des Politologen Dieter Segert erreicht, den wir hiermit veröffentlichen.
Lesen Sie die Einführung zu unserem Pro und Contra
Lesen Sie hier den Beitrag von Jörg Arnold (weniger Waffenlieferungen)
Lesen Sie hier den Gegenbeitrag von Alexander Dubowy (mehr Waffenlieferungen)
Der größte bisherige Kollateralschaden des Kriegs in der Ukraine ist, dass wir mit der Lösung der globalen Menschheitsprobleme nicht vorankommen. Diese verlorene Zeit wird uns fehlen. Die ökologische Krise löst sich nicht von allein. Und es gibt ernsthafte Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die die Menschheit am Ende des Jahrhunderts untergehen sehen, wenn wir nicht sofort energisch die Klimaaufgaben erfüllen. Insofern geht es mir darum, mit diesem Beitrag in die Diskussion über die Wege zu einer Beendigung des Kriegs in der Ukraine eine andere Perspektive einzubringen.
Ein zweites Moment ist die Verhärtung von Diskussionsfronten, wodurch deutlich wird, wie fragil unsere zu Recht hochgeschätzte Demokratie geworden ist. Wir haben verlernt, einander zuzuhören und den Vertreter anderer Positionen in der Diskussion differenzierter zu sehen denn als Repräsentanten des „Bösen“, als „Naivling“ oder Anhänger einer „Verschwörungstheorie“. Der Diskurs erscheint so als Meinungsfront zwischen „Bellizisten“ und „Scheinpazifisten“. Dabei fällt auf, dass diese zwei Gruppen sehr ungleich ausgestattet sind. Die eine Gruppe, diejenige, welche mehr Waffen und die Einheit der „freien Welt“ gegen die Front der Autokraten fordert, ist wesentlich besser versorgt mit politischer Vertretung und Medienmacht als die andere, die davon ausgeht, dass ein Krieg nur durch Verhandlungen beendet werden kann.

Nationalistische Sichtweisen bremsen den Dialog
Was macht es so schwierig, diesen Krieg zu beenden? Aus meiner Sicht als langjähriger wissenschaftlicher Beobachter der osteuropäischen Transformation nach 1989–1991 ist es die Verbindung von erstarkendem Nationalismus mit einer geopolitischen Konkurrenz unter den Beteiligten. Der russische Krieg gegen die Ukraine wurde – anders als von Präsident Putin unterstelltem „dominanten Nazismus“ in der ukrainischen politischen Klasse – durch einen sich seit 2012 verstärkenden russischen Nationalismus angetrieben.
Auch der Blick auf die ukrainische Sprachpolitik als „Genozid an den Russen“ in der Ostukraine ist ein solches nationalistisches Bild. So hatte sich Putin gegenüber Scholz beklagt, als jener sich noch kurz vor dem Kriegsbeginn für eine friedliche Konfliktlösung einsetzte. Wie wir schmerzvoll erlebten, konnte auch das Engagement unseres Kanzlers den Angriff auf die Ukraine nicht verhindern.

Die seitdem von einer Minderheit deutscher und internationaler Akteure wiederholt geforderten Verhandlungen für einen Waffenstillstand und dann für eine friedliche Lösung der Konflikte werden allerdings nicht nur durch die nationalistische Weltsicht der russischen Führung behindert. Sie werden auch durch die nationalistische Weltsicht der ukrainischen Führung sowie durch die geopolitischen Ambitionen einiger Nato-Staaten, vor allem der USA, aber auch von osteuropäischen Nato-Mitgliedern ausgebremst.
Den Nationalisten sind alle Opfer heilig
Die nationalistische Weltsicht in der ukrainischen Politik spielt in unserer Medienberichterstattung leider nur am Rande eine Rolle. Es geht dabei nicht um die Position ultranationalistischer Gruppen in der Nationalgarde, sondern um die Politik der ukrainischen Regierung insgesamt. Die ständigen Bekräftigungen des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und seiner öffentlich aktiven Berater lauten, keinen Quadratmeter ukrainischen Bodens preisgeben zu wollen. Dieser Wille ist so stark, dass Mitte September sogar in einem Dekret, also einem Gesetz, festgehalten wurde, dass sie nicht mit Russland verhandeln werden, bevor nicht der letzte russische Soldat von ukrainischem Boden verschwunden ist.
Der ukrainische Nationalismus äußert sich aber auch darin, dass die für die Krim zuständige Beraterin Selenskyjs vor Kurzem festgehalten hat, man werde nach der Befreiung der Krim alle ethnischen Russen von dort vertreiben (außer diejenigen, die ukrainische Verwandte haben). Natürlich, für eine nationalistische Weltsicht ist die jeweils andere ethnische Gruppe im Kern böse. Vor dieser Nebelwand verschwinden alle individuellen Interessen, Haltungen sowie die eigentlichen Kriegsursachen.

Auch der ukrainische Nationalismus verhindert eine Güterabwägung: Wie viele Menschenleben und wie viel gegenständlichen gesellschaftlichen Reichtum würde es kosten, wenn tatsächlich jenes oben genannte Kriegsziel verwirklicht werden soll? Typisch für jeglichen Nationalismus ist die Annahme, das nationale Territorium müsse gehalten werden, wie viel auch immer so etwas kostet. Es gehe um „die heilige, tausendjährige Nation, den heiligen Boden des Landes!“ Spiegelbildlich sieht es der russische Nationalismus: „Tausend Jahre russische Geschichte“ sowie unverzichtbare kulturelle Werte, die „russische Welt“, „russkij mir“, würden alle Opfer heiligen!
Die Ukrainer bekämpfen den „Raschismus“ von Putin mit allen Mitteln
Nun zu den Perspektiven der die Ukraine unterstützenden Nato-Staaten, insbesondere Deutschlands. Unser Blickwinkel ist offensichtlich nicht der des Nationalismus. Jedoch spielt die Geopolitik einer dominanten Weltmacht eine gewichtige Rolle und die Bereitschaft, sich dem unterzuordnen. Für mich äußert sich das in der Behauptung, wir seien „der geeinte Westen“ oder gar – mit einem kürzlich wieder aus der Mottenkiste des Kalten Kriegs herausgezogenen Stereotype – wir seien die Vertreter der „freien Welt“. Diese Geopolitik vermindert die Möglichkeiten zu einer gleichberechtigten Kooperation bei der Lösung globaler Probleme.

Unter dieser Perspektive erscheint der Krieg in der Ukraine als eine Schicksalsentscheidung der freien Menschheit, darum, ob das absolut Gute oder das absolut Böse siegt. Von daher scheint es keinen Zweifel daran geben zu können, dass ein Sieg gegen Russland mit allen Mitteln (auch dem des eigenen wirtschaftlichen Niedergangs) erstritten werden sollte. Und dann natürlich verbieten sich auch jegliche Zweifel an einer Verlängerung des Krieges durch immer effektivere Waffenlieferungen.
Vielmehr muss die sofortige Lieferung deutscher Panzer oder deutlich weiter reichender Munition für die Raketenwerfer gefordert werden. Denn letztlich kann nur von dieser Position aus der „Raschismus“ (eine ukrainische Bezeichnung für Russland kombiniert mit Faschismus) nur durch eine bedingungslose Kapitulation und ein Völkergericht wie jenes von Nürnberg gegen Putin besiegt werden.
Wie kann man aus der Sackgasse des Krieges wieder herauskommen?
Der Krieg dauert schon über acht Monate, Zehntausende Zivilisten und Soldaten auf beiden Seiten der Front sind gestorben. Infrastruktur und Nationalreichtum der Ukraine sind so beschädigt, dass ihr Aufbau lange Zeit dauern wird. Das ukrainische Volk leidet enorm unter diesem Krieg. Und zugleich wird – um auf den Ausgangspunkt meiner Argumentation zurückzukommen – die Möglichkeit erheblich geschmälert, andere wichtige Menschheitsprobleme zu lösen. In Deutschland werden Kohlekraftwerke wieder angeworfen, die wir auf dem Weg der Energiewende eigentlich schließen müssten. Die für die Verhinderung der Klimakatastrophe wichtige Kooperation auch mit Russland oder China wird durch die geopolitische Aufheizung der Debatte erschwert oder droht ganz abgebrochen zu werden. Selbst die eigentlich selbstverständliche Frage, ob es nach einem Friedensschluss wieder Handel mit Russland geben könnte, wird als unangebracht zurückgewiesen.
Die direkten Schäden des russischen Krieges in der Ukraine, in Russland und in unserem Land wie auch vielfältige Kollateralschäden in der Welt bereiten mir Sorge. Wie aber könnten wir aus dieser Sackgasse herauskommen außer durch eine differenziertere Sicht auf die Treiber des Krieges? Es ist keine Reduzierung der Verantwortung der russischen Seite für den Krieg, wenn wir auch den Nationalismus der ukrainischen Führung kritisieren, der verhindert, dass eine Abwägung zwischen dem Nutzen und den Kosten des angestrebten militärischen Sieges über Russland unternommen wird.
Unsere eigene Interessenlage als deutsche Gesellschaft sollte auch nicht durch den Nebelvorhang eines imaginierten Kampfes zwischen „freier Welt“ und „Despotie“ verdeckt werden. Alexander Dubowy meinte in dieser Zeitung, dass bei Putin kein ehrlicher Verhandlungswille vorhanden sei. Das Fatale ist: Weder diese Annahme noch ihr Gegenteil lassen sich derzeit zweifelsfrei belegen. Nur mit dem ernsthaften Versuch, Verhandlungen schrittweise voranzubringen, ließe sich das prüfen. Das müssten allerdings Verhandlungen sein, die sowohl die Sicherheit der Ukraine als auch die der osteuropäischen Staaten und ebenso die Russlands anstreben müssten. Um es altmodisch zu bezeichnen: Es geht um eine Ordnung gemeinsamer Sicherheit in Europa, eine KSZE 2.0. Und die möglichst bald, um die wichtigen globalen Menschheitsprobleme doch noch in einer weltumspannenden Allianz angehen zu können.











