Der Kreml hat nunmehr beschlossen, die teilbesetzten ukrainischen Gebiete Cherson, Donezk, Luhansk sowie Saporischschja im Eiltempo zu annektieren und die (Teil-)Mobilmachung anzuordnen. Ob die Mobilmachung den gewünschten Erfolg bringen wird oder ob in den kommenden Wochen weitere wesentlich risikoreichere Schritte – allem voran die Verhängung des Kriegszustandes – gesetzt werden müssen, bleibt freilich abzuwarten. Eines steht allerdings bereits fest: Wladimir Putin hat sich zu einer massiven politischen Eskalation gegenüber dem Westen entschieden. Letztlich ist die Mobilmachung ein deutlicher Ausdruck russischer Schwäche und wird für Russlands Führung schon sehr bald zu einem ernstzunehmenden Problem.
Als unmittelbare Reaktion auf die erfolgreichen Offensivoperationen der ukrainischen Streitkräfte in der Region Charkiw hatte der Kreml zunächst entschieden, die geplanten Beitrittsreferenden auf unbestimmte Zeit zu verschieben. Doch am Montagabend, 19. September und Dienstagvormittag, 20. September 2022 nahmen die Ereignisse eine unerwartete Wendung. Die prorussischen Behörden der sogenannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk sowie die Okkupationsverwaltungen der teilbesetzten Gebiete der ukrainischen Regionen Cherson und Saporischschja erklärten bereits „in naher Zukunft“ Referenden über den „Beitritt zur Russischen Föderation“ durchführen zu wollen. In allen vier Regionen soll die Abstimmung bereits am Freitag, 23. September beginnen und bis Dienstag, 27. September andauern.
Laut mehreren übereinstimmenden Berichten russischer Medien ist bei den Volksabstimmungen unter anderem die Möglichkeit der elektronischen Stimmabgabe (e-Voting) geplant. Die meisten Beobachter russischer Wahlen halten die elektronische Stimmabgabe – wie bei den Kommunalwahlen zum Moskauer Stadtrat – für ein herausragendes Instrument der Wahlmanipulation.
Das Eiltempo der geplanten Beitrittsreferenden lässt keinerlei Zweifel daran, dass der Kreml im Gegensatz zum Krimreferendum im Jahr 2014 diesmal noch nicht einmal mehr die Illusion der Legitimität aufkommen lassen möchte.
Patriotische Begeisterungswelle wird ausbleiben
Die überwiegende Mehrheit der russischen Bevölkerung wird auch dieses lachhafte Vorgehen russischer Führung sowohl als legal als auch als legitim akzeptieren. Denn alle aktuellen Umfragen belegen große Unterstützung für die russischen Staatsinstitutionen. Der Grund dafür ist die durch den Außendruck herbeigeführte Konsolidierung der Bevölkerung rund um die Staatsführung. Da das politische System Russlands mit der Person Wladimir Putin gleichgesetzt wird, erhält der Staatspräsident damit eine sehr hohe Legitimität, um so gut wie jede Entscheidung im Namen des russischen Staates und seiner Bevölkerung treffen zu dürfen.
Die negativen Folgen dieser Entscheidungen bekommen die Menschen in Russland diesmal unmittelbar zu spüren. Die von Wladimir Putin verkündete Teilmobilmachung erweist sich bereits nach wenigen Stunden als eine Generalmobilmachung, deren Intensität auf Wunsch russischer Behörden jederzeit erhöht werden kann.
So werden – entgegen den offiziellen Zusicherungen des russischen Verteidigungsministeriums – aus vielen russischen Städten bereits erste Fälle der Einberufung von Absolventen der sogenannten Lehrstühle für Militärausbildung, die es in Russland an so gut wie jeder zivilen Universität gibt und welche über viele Jahre als adäquater Ersatz für den Grundwehrdienst angesehen wurden. Die Ankündigung der Mobilmachung führte dazu, dass bereits am Mittwochnachmittag alle Auslandsflüge ausgebucht waren, die Preise für die verbleibenden Einzeltickets explodierten teilweise um das 20-fache.
Die Grenzen der sprichwörtlichen Leidensfähigkeit der russischen Bevölkerung werden damit auf eine sehr harte Probe gestellt. Denn eine patriotische Konsolidierung wie im Jahr 2014 rund um die Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim erscheint äußerst unwahrscheinlich zu sein. In einen „Vaterländischen Krieg“ um aktuelle Gebietserweiterungen wird die russische Bevölkerung mitnichten ziehen wollen.
Schutz der Kollaborateure
Der entscheidende Faktor für den Erfolg der „Partei des Krieges“ in der Kremlführung – Gegenspieler ist die im Moment unterlegene „Partei der Kompromisslösung“ – dürfte wohl in der aktuell laufenden ukrainischen Gegenoffensive und den zahlreichen russischen Misserfolgen liegen. Die ohnehin schwache prorussische Stimmung in den besetzten Gebieten wich in den vergangenen Tagen bei den Kollaborateuren angesichts ukrainischer Militärerfolge blanker Schockstarre.
Ein längeres Zuwarten würde selbst die Stimmung in den sogenannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk zuungunsten Russlands wenden lassen und sich sehr negativ auf die Moral russischer Streitkräfte auswirken. Durch die absehbar schnelle Annexion soll bei den prorussischen Kollaborateuren der Anschein der Sicherheit geweckt und dadurch die Kooperationsbereitschaft am Leben gehalten werden.
Internationale Isolation Russlands
Ein weiterer Grund für das Tempo besteht in der zunehmenden internationalen Isolation Russlands. Entgegen den russischen Propagandaparolen hat Moskau – mit Ausnahme des von Russland politisch, wirtschaftlich und sicherheitspolitisch abhängigen Lukaschenko-Regimes in Belarus – im aktuellen Konflikt keine Verbündeten. Denn niemand ist bereit die Kriegs- und Sanktionsrisiken mit Russland zu teilen. Darüber hinaus sollen beim jüngsten Gipfeltreffen der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) mehrere Staatschefs Wladimir Putin ein baldiges Ende des Angriffskrieges gegen die Ukraine nahegelegt haben. Die Referenden sollen aus der Sicht Moskaus jedenfalls das Ende der Kampfhandlungen deutlich beschleunigen. Denn offenbar scheint der Kreml der Überzeugung zu sein, dass die Ukraine die Offensivoperationen auf dem „offiziellen Territorium Russlands“ nicht fortsetzen werde.
Schließlich gewährt die Annexion der umkämpften ukrainischen Gebiete Wladimir Putin eine formelle Rechtfertigung, jederzeit auf Wunsch die sogenannte Spezialmilitäroperation in einen vollumfänglichen Krieg zu überführen, Kriegszustand zu verhängen, Mobilmachung zu befehlen sowie verstärkt gegen zivile ukrainische Ziele vorzugehen. Die bevorstehende Verteidigung neuer russischer Gebiete verleiht dem russischen Präsidenten eine größere Legitimität, mit dem Einsatz der Atomwaffen zu drohen. Letzteres tat Putin bei seiner Rede unter Verweis darauf, dass es sich nicht um einen Bluff handelt, mit sichtlichem Vergnügen. Allerdings erscheint der Einsatz von Atomwaffen nach wie vor nur wenig wahrscheinlich.
Putin definiert, ob Russland angegriffen wird
Im Vorfeld von Wladimir Putins Rede wurde auch über die Verhängung des Kriegszustandes spekuliert. Auch wenn die Mobilmachung mit der Einführung des Kriegszustandes nicht unmittelbar einherzugehen hat, ist der Kriegszustand im Falle einer Generalmobilmachung zur einfacheren und kontrollierbaren Abwicklung jedoch sinnvoll und wahrscheinlich. Der Kriegszustand ist aber für die russische Führung mit unkalkulierbaren Risiken verbunden.
Für die Verhängung des Kriegszustandes verlangt die Verfassung der Russischen Föderation zwingend einen Angriff oder die Gefahr eines Angriffs auf Russland. Allerdings legt das russische Verfassungsgericht die Befugnisse des Präsidenten bereits seit Mitte der 1990er-Jahre sehr großzügig aus.
Dies ist wohl eine äußerst trügerische Hoffnung, denn einerseits stehen die Grenzgebiete Russlands seit Wochen unter gelegentlichem Beschuss durch die ukrainischen Streitkräfte und andererseits betonte das offizielle Kiew bereits, sich nicht durch Scheinreferenden oder sonstige Maßnahmen Russlands beeindrucken zu lassen. Andrij Jermak, Leiter des ukrainischen Präsidialamtes kündigte in seinem Telegram-Kanal an, die „russische Frage klären“ zu wollen.
Demnach kommt dem Präsidenten aufgrund der sogenanntem Garantenstellung die Definitionshoheit über Bedrohungen und alle zu ihrer Abwendung notwendigen Maßnahmen zu, welche dem Schutz der Souveränität der Russischen Föderation, ihrer Unabhängigkeit und staatlichen Integrität dienlich erscheinen. Die beiden Kammern des russischen Parlaments müssen zwar informiert werden und die Oberkammer hat die Entscheidung des Präsidenten auch formell zu genehmigen, das gilt jedoch als reine Formsache. Nach den erfolgten Annexionen der teilbesetzten ukrainischen Regionen dürfte die formelle Voraussetzung jedenfalls schnell erreicht sein.
Mit der Verhängung des Kriegszustandes ginge die ganze Fülle der Macht auf den russischen Präsidenten über. Danach könnte Wladimir Putin mittels Präsidialdekreten am Parlament vorbeiregieren und selbst verfassungsmäßig gewährleistete Rechte einschränken.
Der Kriegszustand erlaubt es der Regierung nicht nur, härter gegen kritische Berichterstattung oder freie Meinungsäußerungen vorzugehen, Demonstrationsverbote oder Ausgangssperren beinahe pauschal zu verhängen, Verkaufsverbote für Alkohol und Waffen einzuführen, Verstaatlichung von Unternehmen oder Ausreiseverbote einzuleiten, sondern würde in letzter Konsequenz auch eine Abschaltung Russlands vom Internet erlauben.
Vom Unwillen zu unpopulären Entscheidungen
Sowohl eine formelle Ausrufung des Kriegszustandes als auch eine offizielle Verkündung der Generalmobilmachung sind aber für den Kreml und für Wladimir Putin persönlich mit kaum kalkulierbaren Risiken verbunden. Denn der Kriegszustand würde die russische Bevölkerung in ihrem Alltag hart treffen und damit zu einer erheblichen Gefahr für die Popularität Putins werden. Einerseits würden zu weitreichende Maßnahmen in der Bevölkerung große Unruhe auslösen. Aktuell ist es so ziemlich das Letzte, was die russische Führung braucht. Andererseits wird das russische Parlament jedem vom Kreml gewünschten Gesetzesvorschlag – so wie die international hochgradig umstrittene Verschärfung des Strafrechts – ohne Widerrede zustimmen.
Auch greift der Präsident seit Beginn des Angriffskrieges immer öfter zur Möglichkeit, mittels Präsidialdekreten zu regieren und diese von der Veröffentlichung auszunehmen. Die vergangenen Monate haben diese verfassungswidrige Praxis eindrucksvoll bestätigt.
Selbst Grundrechtseinschränkungen, die laut Verfassung eigentlich nur im Kriegszustand möglich wären, sind an der Tagesordnung. Bislang hielt Russland zumindest eine Schein-Rechtsstaatlichkeit aufrecht. Jetzt hält es Wladimir Putin offensichtlich nicht mehr für nötig, seine Handlungen in einen – auch nur rein formellen – rechtsstaatlichen Rahmen zu gießen.
Darüber hinaus sollte nicht übersehen werden, dass die Unterstützungsbereitschaft seitens der Bevölkerungsmehrheit für die Regierung und den Präsidenten in den kommenden Monaten, auch aufgrund des sich langsam, doch unaufhaltsam entfaltenden Sanktionsdrucks, abnehmen wird. Unpopuläre Entscheidungen, wie die Verhängung des Kriegszustandes und die offizielle Generalmobilmachung, würden die Destabilisierung des Putin’schen Regimes wesentlich beschleunigen.
Mobilmachung zur Stabilisierung der Front
Da die Mobilmachung eine gewisse Vorlaufzeit bedarf, ist mit unmittelbaren Offensivoperationen Russlands in den kommenden Wochen kaum zu rechnen. Schließlich müssen die einberufenen russischen Truppen ausgebildet, ausgerüstet und versorgt werden. Dafür fehlen dem Kreml sowohl die Zeit als auch die Mittel. Die frischen Truppen werden vielmehr für die längst überfälligen Truppenrotationen sowie zur Stabilisierung des Frontverlaufes eingesetzt werden.










