Ukraine-Krieg

„Ich zeig euch, wo der Hammer hängt“: Experten entschlüsseln Putins Teilmobilmachung

Was bedeutet die Teilmobilmachung von Kremlchef Wladimir Putin und wohin werden die „Referenden“ in der Ostukraine führen? Was russische Politologen dazu schreiben.

Nach knapp sieben Monaten Krieg gegen die Ukraine hat Kremlchef eine Teilmobilmachung der eigenen Streitkräfte angeordnet.
Nach knapp sieben Monaten Krieg gegen die Ukraine hat Kremlchef eine Teilmobilmachung der eigenen Streitkräfte angeordnet.Russian Presidential Press Servi

Die Politologen Vladimir Pastukhov, Tatjana Stanowaja und Abbas Galljamow zählen zu den meistgelesenen russischen Analysten mit einem eigenen breiten Publikum auf Telegram – der wohl letzten Plattform für die freie Meinungsäußerung in Russland. Ihre Analysen zum Ukraine-Krieg gab es bereits auch in der Berliner Zeitung zu lesen. Wie schätzen sie die neueste Entscheidung von Kremlchef Wladimir Putin zur Teilmobilmachung und „Referenden“ in der Ostukraine ein? Wir geben ihre Kommentare auf Telegram wieder.

Vladimir Pastukhov: Ich habe mit Boris (Boris Pastukhov, Politologe und Sohn von Vladimir Pastukhov, Anm. d. Red.) die neue Realität diskutiert, und wir sind zu dem Schluss gekommen, dass sie sich nicht von der alten unterscheidet. Der Stein, der fallen sollte, ist nun nur noch näher an den Abgrund gerückt. Hier meine Kommentare dazu:

1. „Volodka konnte es nicht ertragen!“ (Ein Schlagwort aus dem bekannten russischen Film „Der Wahltag“, Volodka ist eine familiäre Namensversion für  Wladimir, Anm. d. Red.). Die Ukraine hat Putin schließlich zu der Entscheidung gedrängt, die er fast ein halbes Jahr lang nicht treffen wollte. Das ist in gewisser Weise ein Erfolg (der Ukraine, Anm. d. Red.), wenn auch ein zweifelhafter.

2. So wie es keinen „Stör von der zweiten Frische“ gibt, gibt es auch keine Teilmobilmachung (in Anspielung auf ein Zitat aus dem Roman „Der Meister und Margarita“, wo es im Wortlaut heißt: „Die zweite Frische – das ist Unsinn! Es gibt nur eine Frische – die erste, sie ist auch die letzte. Und wenn der Stör von der zweiten Frische ist, dann bedeutet das, dass er verfault ist!“). Wie viele Menschen werden einberufen und wer sind sie? So viele wie nötig und so viele wie möglich. Es ist eine schlaue Mobilisierung, die hier (von Putin) so verkauft wird, als wäre das eine (normale) herbstliche Einberufung der Wehrpflichtigen zum Wehrdienst. Mit der Botschaft: Schlaft gut, ihr Einwohner des Imperiums.

3. Ich habe den Kommentar von Peskow (gemeint ist der Kremlsprecher Dmitri Peskow, Anm. d. Red.) genau so erwartet: Krieg? Was für ein Krieg? Es sei doch keine Entscheidung über das Kriegsrecht getroffen worden, wir seien immer noch im Regime der „Sonderoperation“. Nun, das stimmt nicht: Das Gesetz über den Mobilmachungsplan, auf das sich der Erlass von Putin bezieht, stellt ausdrücklich fest, dass die Mobilmachung ein Komplex von „Kriegsmaßnahmen“ ist. Ohne Krieg gibt es keine Mobilmachung. Der Kolonialkrieg ist nun vorbei, der totale Krieg hat begonnen.

4. Irgendein Gefühl sagt mir, dass dieses Regime auch die Mobilmachung auf seine übliche, wenig geschickte Art und Weise mit der üblichen Wirkung durchführen wird. Die Zahl der sinnlosen Tode wird sich vervielfachen, und die Ziele dieses ziellosen Krieges werden zusammen mit der Horizontlinie nach hinten verschoben.

5. Wenn wir nicht früher in einem nuklearen Kamin verbrennen, werden wir in zwei oder drei Jahren eine Million von wütenden Männern haben, die wissen, wie man ohne GPS von Bolotnaja-Platz (eine Anspielung auf die Demonstrationen in Moskau 2012, Anm. d. Red.) zum Roten Platz kommt, und die nicht auf halbem Weg stehen bleiben, um sich gegenseitig genau zu erzählen, wie sie das nicht vergessen und nicht vergeben werden.

Telegram-Kanal: @v_pastukhov, 117.000 Abonnenten.

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Zur Person
Vladimir Patukhov
Vladimir Pastukhov, auch Wladimir Pastuchow, 59, ist russischer Politologe und Anwalt. Er war bis zu seiner Auswanderung nach London 2008 in beratender Funktion für das Verfassungsgericht der Russischen Föderation und die Staatsduma tätig. Der Mitarbeiter des University College London und Autor der oppositionellen Zeitung Nowaja Gaseta ist unter anderem für seine fundierten Analysen zum Ukraine-Krieg bekannt.

Tatjana Stanowaja: Andrej Kartapolow, Vorsitzender des Verteidigungsausschusses der Staatsduma, sagte nun öffentlich, dass neue Militäreinheiten als Teil der russischen Streitkräfte gebildet werden, um die Staatsgrenze zu schützen und „operative Tiefe“ in den Bereichen der militärischen Sonderoperation zu schaffen. Das ist sehr interessant. Schon vor dem Beginn des Krieges schrieb ich, dass Putins Ziel darin besteht, die Ukraine in drei Teile zu spalten: Der Westen des Landes soll (geopolitisch) dem Westen überlassen, das Zentrum mit Kiew unter russischen Einfluss mit der Errichtung einer pro-russischen Macht genommen und der Südosten komplett von Russland übernommen werden.

Die Äußerung Kartapolows könnte nun bedeuten, dass Putin plant, sich territorial mit diesen vier Regionen (gemeint sind die Regionen Donezk, Luhansk, Cherson und ein Teil der Region Saporischschja, wo die „Referenden“ stattfinden sollen) zu begnügen. Erst später, wenn er es schafft, dort zu siegen (was immer Putin auch unter einem Sieg versteht), wird klar sein, was er mit Charkow, Odessa und Mykolajiw vorhat. Aber das wird eine ganz andere Geschichte sein. Inzwischen ist der Aufbau prorussischer Verwaltungen außerhalb der vier Regionen nicht mehr geplant. Die Armee wird in die Tiefe gedrängt werden, und man wird weiter darauf warten, dass Kiew „fällt“.

Das Beschriebene dürfte ausschließlich Putins vorläufige Berechnung sein (oder eine Hoffnung, Fantasie, was auch immer). Das Problem dabei ist, dass seit Beginn der „Sonderoperation“ fast nichts nach Plan gelaufen ist und es ernsthafte Zweifel gibt, dass Putin über genügend Ressourcen verfügt, um die physische Kontrolle über das „neue russische Territorium“ zu erlangen, ganz zu schweigen von den anderen Territorien. Die Mobilisierung wird schrittweise ausgebaut. Die Gesellschaft wird sich langsam ärgern und empören. Erwarten Sie aber keine Massenproteste, sondern es werden eher Empörungswellen sein, ähnlich zu Aktionen gegen QR-Codes in der Corona-Pandemie. Das Regime wird die Repression verstärken. Das ist die Erosion von Putins Macht in ihrer reinsten Form. Und jetzt wird es natürlich eine neue Welle der Auswanderung der Elite geben. Wie schnell wird sich herausstellen, dass das Volk Putin aus Kalkül geliebt hat?

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zur Person
Tatjana Stanowaja
Tatjana Stanowaja, 43, ist Gründerin von R.Politik (Reality of Russian Politics), einer unabhängigen Plattform zur Analyse russischer Politik, und Mitglied des Forschungsrates bei der französisch-russischen Industrie- und Handelskammer.

Abbas Galljamow: Ich wage es zu behaupten, dass Putin die Mobilmachung nicht dafür braucht, um damit einen gewissen Erfolg auf dem Schlachtfeld zu erzielen. Ich denke, er glaubt nicht mehr an die Aussicht auf einen militärischen Sieg.

Er braucht diese Mobilmachung, um die Ukraine zu zwingen, sich an den Verhandlungstisch zu setzen. Putin will Eskalationsbereitschaft demonstrieren – damit die Ukrainer angesichts seiner entschlossenen Haltung auch einen Atomschlag für sich nicht ausschließen könnten. Letzte Woche äußerte Putin in Gesprächen mit dem indischen Premierminister Narendra Modi und dem türkischen Präsidenten Recep Erdogan (auf dem SOZ-Gipfel in Usbekistan, Anm. d. Red.) zweimal seinen Wunsch, die Kämpfe sofort einzustellen und Verhandlungen aufzunehmen.

Gleichzeitig beschwerte er sich darüber, dass die Ukrainer sich weigern würden, mit ihm zu sprechen. Also versucht er, sie auf seine Art und Weise zu überzeugen, nach der Devise: Ihr habt mich zu früh abgeschrieben, ich kann euch noch zeigen, wo der Hammer hängt. In jeder schwierigen Situation erhöht Putin immer den Einsatz. Er erwartet, dass der Feind vorsichtiger ist als er selbst und eine Kollision vermeiden will. Putin demonstriert seine Bereitschaft für genau diesen Zusammenstoß und blufft. Nichts Neues.

Telegram-Kanal: @abbasgallyamovpolitics, rund 51.000 Abonnenten.

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Zur Person
Abbas Galljamow 
Abbas Galljamow, 50, arbeitet als freier Analyst und politischer Berater in Moskau. Von 2008 bis 2010 war er für den damaligen Premierminister Wladimir Putin als Redenschreiber tätig.

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