Ukraine-Krieg

Putin-Expertin: „Wer Frieden will, muss sich mit Putin verständigen“

Die Politologin Tatjana Stanowaja erklärt im Interview die Denkweise von Kremlchef Wladimir Putin, ohne Verständnis dafür zu hegen.

Kunstinstallation von dem lettische Künstler Kriss Salmanis vor der russischen Botschaft in Bukarest.
Kunstinstallation von dem lettische Künstler Kriss Salmanis vor der russischen Botschaft in Bukarest.AP/Vadim Ghirda

Tatjana Stanowaja, 43, ist Gründerin des Zentrums für politische Analyse  R. Politik. Reality of Russian Politics und Mitglied des Forschungsrates bei der französisch-russischen Industrie- und Handelskammer. Auf Telegram – der Telegram-Messenger ist im zunehmend totalitären Russland als politischer Kommunikationskanal besonders populär – bringt sie einem breiten Publikum ihre Analysen zum Ukraine-Krieg nahe. So entwickelte Russlands Präsident Putin nach ihrer Einschätzung die Idee, die Ukraine militärisch einzunehmen, erst 2020 und nicht 2014. Was er jetzt vorhaben könnte, darüber haben wir mit der Expertin aus Russland gesprochen.

Tatjana Stanowaja
Tatjana StanowajaSocial Media

Frau Stanowaja, die oppositionelle Zeitung Meduza schrieb neulich unter Verweis auf eigene Quellen, im Kreml würde man nicht begreifen, wie man den Krieg durch Verhandlungen beende, ohne dass Putins Zustimmungsrate dabei zusammenbreche. Sie würden dagegen nicht begreifen, schrieben Sie auf Ihrem Telegram-Kanal, warum man sich auf das Ende des Krieges vorbereiten sollte, wenn Putin sich nicht darauf vorbereite. Will Putin also nur Krieg?

Im Grunde genommen will Putin die Ukraine im weitesten Sinne neutralisieren: Putin ist bereit, dieses Ziel sehr lange systematisch zu verfolgen, weil er glaubt, keine andere Wahl zu haben. Es geht ihm nicht um die Territorien. Die Annahme, dass er die Gebiete Donezk und Luhansk einnehmen, dies als Sieg darstellen und dort aufhören wird, stimmt nicht. Er könnte auch erst auf den anderen Gebieten aufhören. Für ihn ist es dagegen von grundlegender Bedeutung, eine militärische Präsenz in der Ukraine sicherzustellen und damit zu spielen. Hier kommt allerdings der militärische Faktor ins Spiel und die Frage, wie lange er zu kämpfen bereit ist. Denn die russischen Truppen haben offenbar Probleme mit der Logistik und Kampfmoral.

„Putin will, dass die ukrainische Nation aufhört, eine eigene Identität aufzubauen.“

Meinen Sie mit der Neutralisierung einen Nato-neutralen Status der Ukraine?

Ich meine eher eine komplette Neutralisierung der Ukraine als einen Staat. Der Nato-neutrale Status ist dabei nur ein Punkt. Als Weiteres wünschte sich Putin eine radikale Reduzierung der ukrainischen Truppen, die sogenannte Demilitarisierung. Dann will er, dass die ukrainische Nation quasi aufhört, eine eigene Identität aufzubauen und auf ihre Nationalhelden wie Stepan Bandera, den er für einen Faschisten hält, verzichtet. Die ukrainische Sprache sollte zwar erhalten werden, aber Russisch soll überall wenigstens gleichberechtigt sein. Trotz der kritischen militärischen Schwierigkeiten ist er meines Erachtens noch nicht bereit, aufzuhören. Er wird also eskalieren. Diese Eskalation muss aber nicht innerhalb der Ukraine stattfinden: Sie kann auch die Beziehungen zum Westen betreffen, einschließlich seines Spiels mit dem nuklearen Faktor.

Der ehemalige Putin-Berater Gromyko glaubt, dass Putins oder auch Lawrows Warnungen vor den westlichen Lieferungen von schweren Waffen nicht eine atomare Drohung enthalten. Was soll aber Putins Spiel mit der nuklearen Gefahr?

Ich glaube nicht, dass Russland den Einsatz von Atomwaffen in der Ukraine erwägt oder dass Russland jemanden mit Atomwaffen angreifen kann. An der Stelle stimme ich Gromyko vollkommen zu. Aber was macht Putin? Er demonstriert der Welt das nukleare Potenzial Russlands, erinnert, dass Russland über die Waffen verfügt, die das globale Machtgleichgewicht verändern können. Und er will, dass das berücksichtigt wird.

Sie leben in Paris. Ist die Wahlniederlage von Marine Le Pen ein großer Verlust für Putin?

Meines Erachtens hat Moskau diese Präsidentenwahlen viel kühler verfolgt als 2017. Man betrachtet den Westen schon als universelles Übel. Le Pen allein sei nicht genug, um es durchzubrechen. Übrigens: Putin kommuniziert öfter in der Öffentlichkeit, dass die Energiepreise und die Inflation im Westen dramatisch steigen würden, und zwar wegen der Fehler der dortigen Führungen, nicht wegen Russland – mit der Botschaft, dass die Menschen dort rebellieren werden und nicht nur Russland es jetzt schwierig hat.

„Es wird keine Verhandlungen geben.“

Sie schrieben am 1. April, dass von den Verhandlungen Russlands und der Ukraine fast nichts abhänge und, bis es zu ernsthaften Friedensgesprächen zwischen Russland und den USA komme, Russland eine Quelle von Kriegen bleiben werde. Wenn Putin nicht mit dem Krieg aufhören will, wie sollten denn diese Verhandlungen aussehen?

Es wird keine Verhandlungen geben. Je weiter es geht, desto geringer ist die Chance. Die Ukraine hat das Gefühl, den Krieg zu gewinnen. Russland hat das Gefühl, dass es mit jedem Tag weniger realistisch wird, die Liste der Forderungen an die Ukraine erfüllt zu bekommen. So verlieren beide Seiten das Interesse an Verhandlungen. Die britische Financial Times berichtete vor kurzem, dass Putin vor dem Verlust des Kampfschiffes „Moskwa“ noch Interesse an den Verhandlungen mit der Ukraine gehabt haben soll.

Nach meinen Informationen hatte er aber grundsätzlich kein Interesse an echten Verhandlungen. Diese Gesprächsrunden mit Kiew hatten zunächst begonnen, weil es für Putin eine Gelegenheit war, die Ukraine faktisch zu einer Kapitulation zu zwingen. Er war aber nie real bereit, mit Selenskyj die Krim oder den Donbass zu diskutieren. Er wäre zwar bereit gewesen, das Gesetz über die russische Sprache oder auch den Nato-neutralen Status der Ukraine zu erörtern. Aber nicht die Krim und den Donbass, das ist unrealistisch.

Die westlichen Regierungen wiederholen, Russland dürfe diesen Krieg nicht gewinnen. Was bedeutet das für Putin?

Wenn wir die Situation global betrachten, ist der Konflikt Russlands mit der Ukraine eine Abzweigung einer größeren ernsthaften Konfrontation zwischen Russland und dem Westen. Es begann nämlich nicht mit Putin, sondern mit dem Ende des Kalten Krieges. Der Krieg in der Ukraine, so glaubt er, ist für ihn eine Möglichkeit, den Westen dazu zu bringen, die sicherheitspolitischen Bedenken Russlands ernst zu nehmen.

Wenn der Westen nicht „richtig“ reagiert, glaubt Putin also, eskalieren zu müssen, und zwar bis der Westen den Punkt erreicht, an dem er sagt: „Okay, es ist an der Zeit, dass wir die russischen Sorgen ernst nehmen und unter Vorbehalt in solche globalen Verhandlungen über die neue Weltordnung wie die Jalta-Konferenz 2.0 eintreten.“ Ich glaube allerdings nicht, dass die westlichen Anführer sich darauf einlassen werden, aber ich betrachte es nur als ein Szenario, das die russische Politik mildern und den Krieg beenden könnte.

Und wenn Russland den Krieg verliert?

Ein zweites Szenario ist ja eine Niederlage Russlands. Ich glaube jedoch nicht, dass Russland infolge einer Neutralisierung von außen verlieren würde. Die heutige Lage ist so, dass die Angriffe von außen Russland eher zusammenhalten. Ich meine eine strategische Niederlage Russlands, den Zeitpunkt, an dem es von alleine zusammenbrechen würde, weil es diese Last, den Krieg, nicht mehr tragen kann.

„Die russischen Eliten warten darauf, dass der Westen auseinanderfällt.“

Es dürfte für Russland im Laufe der Zeit aufgrund der Erschöpfung von Ressourcen sehr schwer werden, einen solchen Krieg zu führen und zu eskalieren und dabei die Kontrolle innerhalb Russlands über verschiedene politische Akteure zu behalten. All dies ist kostspielig und erfordert ein gewisses Maß an Effizienz, die das Regime verliert. Es ist bereits klar: Der Krieg wird nicht schnell enden. Aber wissen Sie: Die russischen Eliten warten darauf, dass der Westen eher auseinanderfällt. Das sind sehr ernsthafte Hoffnungen, dass der Westen dem Untergang geweiht ist.

Der Westen zeigt sich im Ukraine-Krieg jedoch vereint. Soll er die Ukraine weiter mit Waffen unterstützen?

Ich will niemandem etwas empfehlen. Wenn wir den Krieg in der Ukraine beenden wollen, dann müsste der Westen sich schon mit Putin verständigen. Das könnte sehr schnell gehen. Es ist nicht nur der neutrale Status der Ukraine, sondern auch die gesamten Russland-Nato-Beziehungen. Und der Krieg wird stoppen, allerdings auf Kosten der Ukraine, denn das würde sie von Russland abhängig machen.

Ich will nicht über die Gerechtigkeit streiten, denn es gibt auch Fragen an den Westen, der die russischen Sorgen um die Nato-Erweiterung nicht wirklich ernst genommen hat. Aber Russland wird diese Last nicht lange tragen können. Russland versucht, seine Stärke mit der ganzen Welt zu messen, verfügt aber über ein sehr geringes wirtschaftliches Potenzial und hat nicht die Verbündeten, die sich auf diesen Krieg einlassen würden.

Vielen Dank für das Gespräch.

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