Neulich beim Treffen der G20-Finanzminister in Washington haben die USA und andere G7-Länger den Auftritt des russischen Ministers boykottiert. Mehrere Teilnehmer verließen den Saal, Bundesfinanzminister Lindner ist jedoch geblieben, um, wie er früher mitteilen ließ, „Lügen und Propaganda“ der russischen Seite nicht unkommentiert zu lassen.
Richtig so? Am Donnerstagmittag verteidigte er sich auf Twitter gegen Kritik. „Nicht Demokratien wie Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien oder Japan müssen ein G20-Treffen verlassen“, schrieb der FDP-Politiker, sondern der Aggressor Russland hätte nicht teilnehmen sollen, was er in der Sitzung auch gesagt habe.
Nicht Demokratien wie Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien oder Japan müssen ein G20-Treffen verlassen. Der Aggressor Russland hätte nicht teilnehmen sollen. Das hab ich in der Sitzung gesagt. Mögen andere ihre Haltung anders zum Ausdruck bringen, wir haben es so gemacht. CL
— Christian Lindner (@c_lindner) April 21, 2022
Vor allem die USA wollen einen Ausschluss Russlands aus dem globalen Forum der Industrie- und Schwellenländer. In Deutschland dagegen wird eine andere Debatte heiß geführt: Ist der Verzicht auf die Lieferungen der schweren Waffen falsch? Sollte man es tun, bevor Putin womöglich noch brutaler in der Ukraine vorgeht? „Russland darf diesen Krieg nicht gewinnen“, bekräftigte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) Anfang April im Bundestag die Kampfansage an Moskau. Nach einem baldigen Ende des Krieges sieht es jedoch nicht aus.
„Die nüchterne realpolitische Analyse darf nicht fehlen“
„Durch die moralische Empörung, die der brutale Angriffskrieg ausgelöst hat, ist die aktuelle Debatte gerade auch in Deutschland ziemlich aufgeladen“, sagt der Ständige Vertreter Deutschlands bei der OSZE (2012–2015) und Botschafter a.D. Rüdiger Lüdeking der Berliner Zeitung.
Lüdeking verurteilt den russischen Angriffskrieg aufs Schärfste und befürwortet die Unterstützung der Ukraine auch durch Waffenlieferungen. Dennoch müsse dies mit Augenmaß geschehen, die Nato-Staaten dürften nicht zur Kriegspartei werden. Es gelte, den Ukraine-Krieg vom Ende her zu denken. Bei aller verständlichen moralischen Empörung über die russische Aggression, dürfe auch jetzt die nüchterne realpolitische Analyse nicht fehlen.
Er zeigt sich überzeugt: „Eine differenzierte Politik gegenüber Russland ist auch im Hinblick auf die Gefahr einer weiteren Eskalation bis hin zu einem Einsatz von Nuklearwaffen durch Russland vonnöten.“ Diese Eskalationsrisiken seien in letzter Zeit gewachsen, so der ehemalige Diplomat.
Lüdeking weiter dazu:
Im Westen wird über eine russische Niederlage spekuliert, wobei jedoch von einigen übersehen wird, dass für Putin eine Niederlage keine Option darstellen könnte, was dann auch die Gefahr erhöht, dass er bei einer sich abzeichnenden konventionellen Niederlage in der Ukraine und unter der Last der Sanktionen, die Russland wirtschaftlich zu ruinieren drohen, versucht sein könnte, doch Nuklearwaffen einzusetzen.
Schlägt er dem Westen also vor, die Ukraine im Stich zu lassen? Nein, keineswegs. „Einerseits gilt es, Russland zu isolieren und die einschneidenden Folgen des Angriffskriegs zu verdeutlichen“, sagt der 68-Jährige. „Allerdings dürfte aufgrund der Zusammensetzung und des zu erwartenden Vetos einiger Mitglieder einem Antrag auf Ausschluss Russlands kein Erfolg beschieden sein“, prophezeit er mit Blick auf die russische G20-Mitgliedschaft. Bei aller notwendiger Konsequenz gegenüber Russland müsse aber auch vermieden werden, jetzt allein auf Bestrafung zu setzen, urteilt Lüdeking weiter.
Beziehungen zwischen Russland und den USA im Vordergrund?
Seines Erachtens ist es eine Frage der Realpolitik, jetzt alles daran zu setzen, um einen möglichst raschen Waffenstillstand und eine diplomatische Lösung zu erreichen. Das alleinige Setzen auf eine russische Niederlage auf dem Schlachtfeld sei verfehlt. Er habe jedoch den Eindruck, dass der Gesprächsfaden abgerissen sei, so der Ex-Diplomat. „Dies betrifft nicht nur das Verhältnis zwischen der Ukraine und Russland, sondern auch die Beziehungen zwischen den USA und Russland.“
Dabei ist doch Letzteres zur Beendigung des Krieges von zentraler Bedeutung, können doch vermutlich nur die USA auf eine diplomatische Lösung hinwirken, die wahrscheinlich sowohl Putin wie Selenskij einen bitteren Interessenausgleich zumuten würde. Dabei dürfe allerdings nicht der Eindruck entstehen, dass sich ein Angriffskrieg für Putin „auszahle“ oder gar „lohne“. Allerdings könnte es nötig sein, in der Optik ein Stück weit Gesichtswahrung zu ermöglichen, um dem Sterben ein Ende zu bereiten und eine weitere Eskalation und Ausweitung des Kriegs zu verhindern – was auch nicht im Interesse der Ukraine wäre –, sagt er zum Abschluss.
„Russland wird eine Quelle von Kriegen bleiben, bis …“
Noch Anfang Dezember hatte Lüdeking zusammen mit anderen 26 Ex-Diplomaten und Militärs einen offenen Brief mit den Vorschlägen für eine langfristige Entschärfung des Nato-Russland-Verhältnisses unterschrieben. Auch mehrere unabhängige russische Analysten und Analystinnen, darunter die Politologin Tatjana Stanowaja, weisen darauf hin, dass von den Verhandlungen Russlands und der Ukraine gerade fast nichts abhänge.
Der russische Angriffskrieg sei zwar grausam, aber immerhin ein Ergebnis des ungelösten Konflikts zwischen Russland und den USA, der auch selbst mit Putins Abdankung nicht verschwinden werde. „Bis es zu bedeutungsvollen, sehr ernsthaften Friedensgesprächen zwischen Russland und den Vereinigten Staaten kommt, wird Russland eine Quelle von Kriegen und eine Bedrohung für alles Lebendige bleiben. Ich hoffe, dass der kollektive Westen dies so schnell wie möglich versteht“, warnt Stanowaja in ihren Analysen.
Es bleibe Putins Krieg, aber es seien auch die westlichen Verhältnisse, schrieb der Publizist und Medienmanager Gabor Steingart Anfang März mit Blick auf das politische Vermächtnis des Politikwissenschaftlers Henry Kissinger. Eine kluge US-Politik, schrieb Kissinger 2014, sollte eine Versöhnung anstreben, auch die zwischen der Ukraine und Russland.
Nach einem Ende des Krieges sieht es bisher allerdings weder auf der russischen, noch auf der westlichen Seite aus. Bislang hatte die Nato, insbesondere die USA, es noch abgelehnt, Kampfjets an die Ukraine zu liefern. Die eigenen Angaben über die Lieferung von Kampfjets an Kiew korrigierte das Pentagon am Mittwoch nach einer falschen Erklärung: Nein, es seien bisher nur die Ersatzteile geliefert worden.
