Politik

Was bedeutet Aserbaidschans Angriff gegen Armenien? Und was will Russland? Die Antworten

Diese Woche kam es zu Kämpfen zwischen Aserbaidschan und Armenien. Worum geht es in dem Konflikt? Welche Rolle spielen Russland und die Türkei?

Aserbaidschanische Panzer stehen in der Konfliktregion Berg-Karabach nebeneinander.
Aserbaidschanische Panzer stehen in der Konfliktregion Berg-Karabach nebeneinander.Emrah Gurel/AP/dpa

In der Nacht auf Dienstag, den 13. September 2022, kam es gleichzeitig zu Angriffen mit Artillerie, großkalibrigen Waffen sowie Drohnen auf das international anerkannte Territorium Armeniens durch Aserbaidschan. Baku bezeichnete die Militäraktionen als Reaktion auf eine groß angelegte Provokation durch Sabotagegruppen Jerewans. Beide Seiten meldeten hohe Verluste. Auch wenn die aufgeflammten Kämpfe innerhalb weniger Stunden beendet wurden, bleibt der Waffenstillstand nach wie vor brüchig. Für die unmittelbare Zukunft des Konfliktes wird vor allem die Beziehung zwischen Russland und der Türkei entscheidend sein.

Es geht nicht (nur) um Bergkarabach

Der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan wird schon seit Langem nur noch als „Konflikt um Bergkarabach“ bezeichnet. Tatsächlich ist die Region Bergkarabach seit den späten 1980er-Jahren ein zentraler neuralgischer Punkt der armenisch-aserbaidschanischen Auseinandersetzungen geworden. Aus völkerrechtlicher Sicht gehört Bergkarabach Aserbaidschan an, während die mehrheitlich armenische Bevölkerung mit Unterstützung Armeniens an der selbst-proklamierten Unabhängigkeit festhält.

Die jüngste Eskalation erfolgte allerdings nicht rund um die sogenannte Republik Arzach – wie sich die international nicht-anerkannte Republik seit 2017 nennt – sondern entlang der zwischenstaatlichen Grenzen Armeniens und Aserbaidschans und bietet einen eindeutigen Beleg für den systemischen Charakter des Konfliktes zwischen Armenien und Aserbaidschan; auch abseits von Bergkarabach.

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Zum Autor
Dr. Alexander Dubowy ist Politik- und Risikoanalyst sowie Forscher zu internationalen Beziehungen und Sicherheitspolitik mit Schwerpunkt auf Osteuropa, Russland und GUS-Raum. Er ist Mitarbeiter der Berliner Zeitung am Wochenende.

Bergkarabach – ein jahrzehntelanger Konflikt

Während sich die Ursprünge des Konfliktes zwischen Armeniern und Aserbaidschanern in den Untiefen der Jahrhunderte verlieren, erhielt der Konflikt im 20. Jahrhundert mit der Unabhängigkeit der beiden Staaten nach der Russischen Oktoberrevolution und dem Zerfall des Russischen Reiches in den Streitigkeiten rund um die Region Bergkarabach einen neuen Kristallisationspunkt.

Die nach der Ausrufung von Sowjetrepubliken in Armenien und Aserbaidschan im Jahr 1920 versprochene friedliche Lösung verkam im Zuge der sowjetisch-imperialistischen Grenzziehungspolitik zu einer Scheinlösung; nach der schrittweisen „Liberalisierung“ der Sowjetunion im Zuge der Gorbatschow’schen Glasnost- und Perestrojka-Politik eskalierte der von Pogromen, Vertreibungen und Massenmorden auf beiden Seiten begleitete Konflikt Ende der 1980er-Jahre.

Nach der Unabhängigkeitserklärung von Bergkarabach im Frühherbst 1991 im Zuge der sogenannten „Parade der Souveränitäten“ und dem wenige Monate später erfolgten Zerfall der Sowjetunion mündete der Konflikt Anfang 1992 in einen Sezessionskrieg, in dem Armenien de facto offen auf Seiten der Karabach-Armenier kämpfte und Aserbaidschan unter anderem durch die Türkei Unterstützung erhielt.

Nach knapp zwei Jahren Krieg, Gründung der Minsker Gruppe im März 1992 und vier weitgehend wirkungslosen UN-Resolutionen im Jahr 1993 kam es im Mai 1994 unter Vermittlung der Interparlamentarischen Versammlung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) und Russlands zum Waffenstillstand, der eine de facto Niederlage für Baku markierte. Dennoch sollte der Waffenstillstand von größeren und kleineren Grenzzwischenfällen begleitet bis ins Jahr 2020 halten.

Keine Einigung seit Jahrzehnten

Ungeachtet der gemeinsamen Bemühungen zentraler globaler Akteure im Rahmen der Minsker Gruppe konnten sich Jerewan und Baku seit über drei Jahrzehnten nicht zu einer Kompromisslösung durchringen. Bis 2020 wähnte sich Armenien im Vorteil und wollte von seinen Maximalerwartungen nicht abrücken; Aserbaidschan war seinerseits nur zu Minimalzugeständnissen bereit. Im Herbst 2020 änderte sich der über viele Jahre eingefroren geglaubte Status quo nach den klaren militärischen Erfolgen Aserbaidschans dramatisch.

Konflikt um die Region Berg-Karabach
Konflikt um die Region Berg-Karabachdpa-infografik GmbH

Schließlich griff Russland im allerletzten Augenblicke vor dem drohenden Fall Stepanakerts, der Hauptstadt der selbst-proklamierten Republik, vermittelnd ein. Die Überwachung des Waffenstillstandes sollte durch ein im Januar 2021 gemeinsam durch Russland und die Türkei eingerichtetes Zentrum zur Überwachung der Waffenruhe in Qiyamedinli auf aserbaidschanischem Territorium erfolgen. Auch wenn die Waffen nach wenigen Wochen wieder schwiegen, blieben die durch rhetorische Eskalationen begleiteten Spannungen zwischen Baku und Jerewan aufrecht.

Ukrainekrieg wirkte eskalationsbeschleunigend

Der noch so brüchige Frieden hätte deutlich länger aufrecht erhalten werden können, wäre nicht am 24. Februar 2022 die Entscheidung Wladimir Putins gefallen, die Ukraine zu überfallen. Gewissermaßen hat die – von Russland mit berechnendem Wohlwohlen aufgenommene – Niederlage Armeniens im Zweiten Karabachkrieg im Jahr 2020 den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine im Februar 2022 begünstigt.

Denn bis November 2020 galten die sogenannten eingefrorenen Konflikte im postsowjetischen Raum als militärisch unlösbar. Durch seinen schnellen – nicht zuletzt den türkischen Bayraktar-Drohnen zu verdankenden – Erfolg bewies Aserbaidschan eindrucksvoll das Gegenteil und schürte damit indirekt die Ängste Russlands vor einer potentiellen ukrainischen Rückeroberung der durch Russland in den Jahren 2014 und 2015 besetzten Gebiete. Pikanterweise wäre der Erfolg Bakus ohne die demonstrative Passivität Moskaus deutlich schwieriger gewesen.

Knapp vier Wochen nach Beginn des Ukrainekrieges folgten am 26. März Angriffe aserbaidschanischer Streitkräfte mittels Bayraktar-Drohnen entlang der am 9. November 2020 vereinbarten Kontaktlinie mit Bergkarabach auf armenische Einheiten. Weitere Waffenstillstandsverletzungen sollten folgen.

Insofern sind auch die jüngsten Zusammenstöße zwischen Armenien und Aserbaidschan als eine indirekte Folge des misslungenen russischen Überfalles auf die Ukraine zu werten. Denn Baku scheint vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine und der zunehmenden internationalen Isolation des zentralen Verbündeten Armeniens einer diplomatischen Lösung des Bergkarabach-Konflikts militärisch vorzugreifen und wohl im Idealfall als Maximalziel eine Landkorridorverbindung zu seinem zentralen Bündnispartner der Türkei herzustellen. Auch der armenische Regierungschef Nikol Paschinjan scheint angesichts der Angriffe Aserbaidschans eine offizielle Anerkennung Bergkarabachs als Teil Aserbaidschans anzudeuten.

Von Moskaus ambivalenter Bündnistreue

Genauso wie in Beziehungen zu anderem ehemaligen Republiken der Sowjetunion nimmt Moskau auch im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan vom Beginn an eine überaus ambivalente Rolle ein. Dabei gelingt es Russland gleichzeitig, mehrere scheinbar unvereinbare Rollen problemlos auszufüllen: Moskau vermittelt als Mitglied der Minsker Gruppe zwischen den Konfliktparteien, unterhält eine Militärbasis in der zweitgrößten Stadt Armeniens Gjumri, agiert als militärischer Bündnispartner Armeniens im Rahmen der Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit (OVKS) und tritt gleichzeitig als zuverlässiger Waffenlieferant gegenüber Aserbaidschan auf.

Auch entfalteten die Vereinbarungen über eine strategische Allianz zwischen Jerewan und Moskau beziehungsweise der von Russland geführten Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit (OVKS) bislang vielmehr eine deklarative als eine tatsächliche Bedeutung. Der beste Beweis für diese These ist Russlands neutral abwartende Haltung im Zweiten Karabachkrieg im Jahr 2020.

Selbst angesichts der seinem Verbündeten drohenden militärischen Niederlage hielt sich Moskau mit Unterstützungsmaßnahmen zurück und bestrafte damit indirekt den armenischen Regierungschef Nikol Paschinjan für seine Russland-kritischen Worte während der sogenannten Samtenen Revolution im Jahr 2018. Gleichzeitig kann die Zurückhaltung Russlands als eine Anerkennungsgeste gegenüber der neutral-freundlichen Politik Bakus gegenüber Moskau gewertet werden.

Jerewan in Moskaus Gefangenschaft?

Auch wenn Moskau den Konflikt um Bergkarabach – wie alle anderen Konflikte im postsowjetischen Raum – seit den frühen 1990er-Jahren für eigene Zwecke zu instrumentalisieren wusste, agierte doch Jerewan ungeachtet seiner begrenzten Handlungsoptionen stets als ein eigenständiger Akteur und keinesfalls als ein passives Opfer oder gar ein bloßes Instrument Russlands. Insofern erscheint die von manchen Beobachtern geäußerte These von Putins Vereinnahmung Armeniens überaus verkürzend zu sein. Denn eine andere Wahl als die sicherheits- und wirtschaftspolitische Anlehnung an Russland hat und hatte Armeniens Führung angesichts der schwierigen politisch-geographischen Lage im Grunde genommen nicht.

Aus armenischer Sicht war der Krieg um Bergkarabach darüber hinaus alternativlos und für die moderne armenische Nation von geradezu konstituierender Bedeutung. Die Verbindungen und Abhängigkeiten zwischen Armenien und der sogenannten Republik Arzach sind zahlreich und fallen angesichts der bis 2018 führenden Rolle des sogenannten Karabach-Clans in der armenischen Politik keinesfalls einseitig zu Gunsten Armeniens aus.

So bekleideten bis 2018 unter anderem mit Robert Kotscharjan und Sersch Sargsjan zwei zentrale Polit- und Militärfiguren der Karabach-Armenier die Posten des Präsidenten sowie des Regierungschefs Armeniens. Schließlich wollte Armeniens Führung auch nach der sogenannten Samtenen Revolution im Jahr 2018 und einer damit einhergehenden Demokratisierung des politischen Systems von seinen Maximalforderungen mit Blick auf die Zukunft der umstrittenen Region nicht abrücken.

Denn im politisch-gesellschaftlichen Diskurs Armeniens ist die sogenannte Republik Arzach zur „Schicksalsfrage für das armenische Volk“ hochstilisiert worden. Insofern bleibt abzuwarten, wie der armenische Regierungschef Nikol Paschinjan eine potentielle Anerkennung Bergkarabachs als Teil Aserbaidschans gegenüber der eigenen Bevölkerung kommunizieren möchte.

Baku und Ankara – „eine Nation in zwei Staaten“

Genauso wenig wie Armenien ein dankbares Instrument von Russlands Expansionspläne ist, stellt auch Aserbaidschan kein passives Opfer türkischer Geopolitik dar. Die militärischen Erfolge Aserbaidschans im Jahr 2020 wären ohne eine umfassende (militärische) Kooperation mit der Türkei nicht möglich gewesen. Überraschend ist der Schulterschluss zwischen Ankara und Baku indessen freilich nicht. Denn schließlich darf die von Heydar Aliyev bereits im Jahr 1995 ausgerufene inoffizielle „Eine Nation in zwei Staaten“-Leitlinie in Bezug auf die aserbaidschanisch-türkischen Beziehungen keinesfalls übersehen werden.

Kein Krieg Russlands gegen die Türkei in Sicht

Der armenisch-aserbaidschanische Konflikt in und um Bergkarabach reicht weit über die bloße zwischenstaatliche Ebene hinaus. Sehr treffend bezeichnet Cindy Wittke, Leiterin der politikwissenschaftlichen Nachwuchsgruppe am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS) in Regensburg, Bergkarabach als ein „Brennglas regionaler und globaler Konflikte um politische und militärische Vorherrschaft und Energieversorgung“ unter direkter und indirekter Beteiligung Russlands, der Türkei, Irans und anderer Staaten.

Nicht wenige haben den Zweiten Karabachkrieg auch als einen Stellvertreterkonflikt zwischen Russland und der Türkei um den Einfluss im Südkaukasus gelesen. Das russisch-türkische Verhältnis ist aus der Sicht Moskaus auch keinesfalls unproblematisch. Zu wesentlichen Stolpersteinen zählen dabei die türkischen Waffenlieferungen an Kiew (Stichwort: Bayraktar-Drohnen), Einflusskonflikte in Syrien (Stichwort: türkische Drohungen mit dem Einmarsch ins kurdische Nordostsyrien), Ankaras Unterstützung für Baku im Konflikt um Bergkarabach und der dadurch wachsende Einfluss der Türkei im Südkaukasus auf Kosten Russlands.

Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit für einen erneuten Stellvertreterkonflikt oder gar eine offene Auseinandersetzung zwischen Moskau und Ankara aktuell sehr gering. Seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine stieg die Anhängigkeit Moskaus von Ankara erheblich an. So wurde beispielsweise die Türkei nach der Sperre des EU-Luftraumes für Russland zu einem wesentlichen Verbindungsweg Russlands nach Europa, gleichsam „Russlands Fenster nach Europa“. Der Kreml weiß von seinem tiefen Abhängigkeitsverhältnis und ist angesichts internationaler Isolation keinesfalls bereit, die Beziehungen zur Türkei zu gefährden; mit Sicherheit nicht für Armenien auf Kosten der deutlich lukrativeren Beziehungen mit der Türkei und Aserbaidschan.

Ambivalente Rolle der Türkei...

Interessanterweise könnte die Türkei den eigenen wachsenden Einfluss im Südkaukasus über die Annäherung an Armenien noch weiter ausbauen. Wozu sich aber die diplomatische Mühe geben? Für Ankara könnte die Situation kaum besser sein. Nach dem Zweiten Karabachkrieg, vor allem aber seit Beginn der russischen Invasion der Ukraine, werden die Handlungsoptionen Moskaus im Südkaukasus immer begrenzter; der Einfluss der Türkei nimmt dagegen ständig zu.

Dieser Trend wird aufgrund aktueller durch den Angriffskrieg gegen die Ukraine provozierter Probleme Russlands mit Sicherheit weiter verstärkt werden. Durch Bedeutungszugewinn Aserbaidschans für die EU im energiepolitischen Bereich wird die Lage Armeniens währenddessen immer dramatischer und die politische Zukunft Nikol Paschinjans zunehmend unsicherer.

...als Chance für die EU

Eine potentielle Lösung zwischen Armenien und Aserbaidschan könnte eine aktive Vermittlerrolle der EU bieten. Ungeachtet des nur schwer überwindbaren gegenseitigen Misstrauens wäre Brüssel sowohl für Baku als auch für Jerewan ein ungleich ehrlicher Mediator als Ankara und Moskau es gewesen sind oder jemals sein könnten.

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