Die Fußballweltmeisterschaft ist zu Ende und alle sind der Ansicht, so etwas dürfe sich nie mehr wiederholen. Es fehlt noch ein wenig an der Einigkeit darüber, was genau sich auf keinen Fall wiederholen darf. Aus der Sicht des DFB darf es sich nicht wiederholen, dass eine deutsche Mannschaft in der Vorrunde aus der WM fliegt. Das ist kein allzu ambitioniertes Ziel; es lässt sich relativ einfach dadurch erreichen, dass man entweder eine Mannschaft aufstellt, die gut genug ist, weiterzukommen. Oder – das ist noch einfacher – eine, die schlecht genug ist, erst gar nicht zur WM zugelassen zu werden.
Aus der Sicht der Kataris sollte es nie mehr vorkommen, dass ihr Land, obwohl es doch eine so wunderbare WM ausgerichtet hat, wegen einer löchrigen Statistik über Arbeitsunfälle, unflätiger Bemerkungen von Offiziellen über Homosexuelle, die Benachteiligung von Frauen und wegen Menschenrechtsverletzungen an den Pranger gestellt wird. Bei der nächsten WM ist sichergestellt, dass das nicht passiert. Bis dahin schaffen die USA sicher die Todesstrafe ab, Mexiko klärt alle Drogenmorde auf, Kanada beendet die Diskriminierung seiner indigenen Völkerschaften und ein ehemaliger US-Präsident wird durch eine lange Haftstrafe daran gehindert, noch einmal gegen Schwarze, Flüchtlinge und Frauen zu hetzen.
Schwarzfahrer-Dilemma und das „Dilemma kollektiven Handelns“
Und es darf auch nicht mehr vorkommen, dass Frankreich eine WM verliert, eine korrupte Organisation demokratischen und nicht korrupten Mitgliedstaaten vorschreibt, wer welche Armbinde tragen darf und die WM an nicht-demokratische, autokratisch regierte Staaten mit erbärmlicher Menschenrechtsbilanz vergeben wird. Aber im Gegensatz zu den eingangs erwähnten Unzulänglichkeiten wird es schwer, wenn nicht unmöglich sein, das auch umzusetzen. Das liegt aber gar nicht daran, dass diese Ziele unerreichbar sind, sondern daran, dass diejenigen, die sie erreichen wollen, das Pferd von hinten aufzäumen.
Schuld daran ist das Schwarzfahrer-Dilemma und etwas, was Sozialwissenschaftler umständlich das „Dilemma kollektiven Handelns“ nennen. Das klingt akademisch, ist es aber gar nicht. Und paradoxerweise berücksichtigt es fast jeder von uns im Alltag – außer er geht in die Politik. Dort sind dann alle seltsamerweise geneigt, es zu vergessen.
Wer räumt auf in der WG?
Angesichts der Wohnungslage in Berlin werden Wohnungsgemeinschaften (WGs) vermutlich schnell wieder an Popularität gewinnen. Babyboomer erinnern sich ohnehin noch daran – so haben sie in der Regel die Krise auf dem Wohnungsmarkt der Siebziger- und Achtzigerjahre, die sie mit ihren eigenen Geburten selbst verursacht haben, meist überdauert: Drei oder mehr Personen, manchmal auch Paare, teilten sich eine Wohnung, meist mit gemeinsamer Küche und gemeinsamem Bad. Wenn sie einen autoritären, fiesen Vermieter hatten, der Kontrollfreak war und ihnen ständig auf die Nerven ging, hatten sie ein Problem nicht: dafür zu sorgen, dass die Gemeinschaftsräume, also Küche und Bad, sauber blieben oder nach der Benutzung wieder sauber wurden.
Jeder benutzt sie gerne und ausführlich, überlässt das Saubermachen aber lieber den anderen. Das ist wie beim Schwarzfahren in der Straßenbahn: Jeder fährt gerne auf Kosten der anderen. Das genau steckt hinter dem akademisch klingenden „Dilemma kollektiven Handelns“: Wenn jeder das tut, was in seinem Interesse ist (und das Saubermachen anderen überlässt), stehen hinterher alle vor einem Ergebnis, das keiner wollte (nämlich eine dreckige Küche). Wie aber kriegt man es hin, dass die einzelnen Mitbewohner gegen ihr Interesse handeln, um damit das zu erreichen, was alle wollen?
WG-Bewohner können dieses Schwarzfahrer-Dilemma auf zwei Weisen lösen: durch den fiesen Vermieter, der sie zwingt, sauberzumachen, gegebenenfalls bestraft, wenn sie es nicht tun und vielleicht sogar so weit geht, einzelne Untermieter zum Saubermachen konkreter Flächen zu verdonnern. Das ist die autokratische Methode, die funktioniert aber nur solange, wie der Vermieter genug Zeit und Wut im Bauch hat und solange er es nicht mit zu vielen Untermietern in zu vielen Wohnungen zu tun hat. Sonst muss er eine Art Blockwart-System einrichten, bei dem die einzelnen Untermieter sich gegenseitig bei ihm denunzieren müssen, was ihn dann zwingt, diese Denunziationen auch zu überprüfen.
Einfacher ist es, die Mieter nehmen die Sache selbst in die Hand. Sie bitten einen netten Nachbarn um Hilfe und zahlen ihm jeden Monat einen kleinen Betrag. Den gibt er ihnen – abzüglich eines bescheidenen Entgeltes – zurück, wenn die Wohnung sauber ist. Ist sie es nicht, bestellt er eine Putzkraft und gibt das Geld ihr, damit sie saubermacht.
So lösen die Mieter ihr Schwarzfahrerproblem, indem sie sich erstens organisieren und zweitens eine Institution gründen, die sie bestraft, wenn sie ihre Pflicht nicht erfüllen. Durch das Organisieren können sie gemeinsam handeln und vermeiden es, von einem fiesen Vermieter gegeneinander ausgespielt und dazu gezwungen zu werden, sich gegenseitig zu denunzieren. Durch die Institution – das Übereinkommen mit dem Nachbarn – überwinden sie das Schwarzfahrerproblem in ihren eigenen Reihen.
Wer räumt auf mit Fifa, Klimawandel und bösen Interessengruppen?
Natürlich können unsere Mieter auch einfach regelmäßig moralische Belehrungen darüber austauschen, wie schön es wäre, wenn alle immer alles saubermachen würden, was sie verschmutzt haben. Auf manche Menschen macht so etwas ja Eindruck, aber wenn sie entsprechend unter Druck stehen und die Wahl haben, rechtzeitig zur Prüfung zu kommen oder das Geschirr zu spülen, dann lassen auch die für moralische Appelle empfänglichsten unter ihnen vermutlich eher das schmutzige Geschirr stehen. Und verhalten sich damit wie die Regierungen, die sich seit Jahrzehnten bei den internationalen Klima-Konferenzen treffen und dort vereinbaren, dass sie ihren CO2 – Ausstoß verringern werden, nur um es dann, wie sich meist bei der nächsten Konferenz herausstellt, entweder doch nicht zu tun oder nicht so, wie sie versprochen haben.
Der Grund: Sie versuchen, das Schwarzfahrer-Dilemma nur durch Appelle und erhobene Zeigefinger für Klimasünder zu lösen. Statt Transferzahlungen an Länder zu leisten, die sich mehr Klimaschutz angeblich nicht leisten können, täten die reichsten Länder besser daran, eine Institution zu schaffen, die denjenigen Strafen auferlegt, die gegen die Verpflichtungen verstoßen, die sie selbst auf sich genommen haben. Damit das funktioniert, müssten alle Teilnehmerländer aber erst mal einzahlen, so wie die Mieter bei ihrem Nachbarn.
Die Transferleistungen an die Armen müssen sie deshalb nicht abschaffen, Hauptsache, die Strafen für das Verletzen selbstauferlegter Verpflichtungen bleiben bestehen. Sie verhindern, dass Regierungen beliebige Verpflichtungen unterschreiben, in der Hoffnung, alle anderen würden sich daran halten und sie selbst hätten dann umso größere Vorteile davon, sich nicht daran zu halten. So funktionieren in der Regel Freihandelszonen: Die Teilnehmer vereinbaren, die Zölle untereinander abzuschaffen. Anschließend errichtet dann jede Regierung aufgrund des Drucks von Interessengruppen jede Menge außertarifliche Handelsbarrieren, die ihre eigenen Produzenten genauso vor Konkurrenz schützen, wie es Zölle tun würden. Klimaschutz funktioniert nicht anders: Wenn meine Nachbarn teure Investitionen tätigen, um ihren CO2-Ausstoß zu begrenzen und ich das nicht tue, kann ich meine Produkte billiger als meine Nachbarn anbieten und sie aus dem Markt drängen.
Doch die Institution, die Klimasündern international auf die Finger klopft, gibt es nicht. Bisher gibt es nur Verträge, deren Einhaltung die überwachen, die sie geschlossen haben. Die Küche bleibt dreckig, weil die Mieter sich lieber mit moralischen Appellen traktieren, als gemeinsam den Nachbarn um Hilfe zu bitten. Deshalb sollte sich auch niemand wundern, wenn, wie The Economist jüngst schrieb, das 1,5-Grad-Ziel vollkommen unrealistisch geworden ist. Es war von Anfang an genauso unrealistisch wie jedes andere Ziel, egal ob es bei 0,5 oder 5,0 lag. Denen, die diese Ziele angeblich erreichen wollten, fehlte von Anfang an ein Konzept dafür, die anderen und sich selbst an die Kandare zu legen.
Das Gleiche gilt auch für praktisch alle anderen Ziele, die Regierungen nur zusammen mit anderen erreichen können. Nehmen wir den vergleichsweise banalen Fall der WM in Katar. Weil weder die nationalen Fußballverbände noch ihre Regierungen kollektiv handlungsfähig sind, kann die Fifa (und nicht nur sie) die Staaten gegeneinander ausspielen, wie der fiese Vermieter seine Mieter auf dem Berliner Wohnungsmarkt. Würden alle Regierungen (oder die Verbandsvorstände der fußballerisch wichtigsten Länder) sich vor einer WM absprechen, eine Institution gründen, die Schwarzfahren (also einzelne Abmachungen mit der Fifa auf Kosten der anderen) verhindert, könnten sie der Fifa die Bedingungen regelrecht diktieren.
Was bringt es der Fifa, eine WM in China zu organisieren, wenn dann keine bekannte Mannschaft daran teilnimmt? Aber solange jeder, der eine WM boykottiert, sich damit nur selbst schadet, weil es unter den Verbänden bzw. Regierungen keinen Versuch gibt, die kollektive Hilflosigkeit zu überwinden, ist es die Fifa, die die Bedingungen diktiert. Obwohl sie, anders als die Mitgliedstaaten, weder eine Armee noch eine Polizei hat, ist sie in dieser Frage mächtiger als alle Atommächte zusammen.
Woran man sieht: Sich selbst zu organisieren und sein eigenes Schwarzfahrer-Dilemma zu überwinden, ist eine Art kollektiver Selbstschutz. Das wissen sogar Verbrecherbanden, die deshalb recht brutale Mechanismen entwickeln, Schwarzfahrer – dort nennt man sie Verräter – zu bestrafen. Nur in der internationalen Politik scheint diese Regel unbekannt zu sein.
Es lebe die EU, weil sie uns auf die Finger haut
Das ist umso seltsamer, weil es seit Jahrzehnten eine Organisation gibt, die all das sehr effektiv zustande bekommen hat. In ihr haben sich die Staaten Europas organisiert und ihr Schwarzfahrer-Dilemma gelöst, dank ihr ist Europa kollektiv handlungsfähig und relativ immun gegen Versuche größerer Staaten, die einzelnen Länder auseinanderzudividieren. Die Rede ist von der EU, die weltweit einzige Organisation, die – um wieder das WG-Beispiel zu strapazieren – nicht nur dem fiesen Vermieter die Stirn bietet, sondern auch dafür sorgt, dass Küche und Bad immer sauber sind.
Alle Mitgliedsländer zahlen einen saftigen Beitrag in die gemeinsame Kasse. Jeder bekommt auch wieder etwas daraus zurück, allerdings umso weniger, je öfter er gegen die Regeln, die er beim Eintritt akzeptiert hat, verstößt. Das hat jahrzehntelang ganz gut funktioniert, weil alle immer die Urteile des Europäischen Gerichtshofs anerkannt oder im Zweifelsfall drastische Strafen bezahlt haben. Bis dann die ungarische und die polnische Regierung ausprobieren wollten, wo die Grenzen sind und angefangen haben – um beim WG-Beispiel zu bleiben – die Küche zu verwüsten, Pizza an die Decke zu kleben und die Klospülung mit dem Thermomix zu verbinden.
Anschließend haben sie dann versucht, den anderen Mitbewohnern weiszumachen, eine Küche müsse so aussehen und wer das nicht einsehe, respektiere ihre nationalen Sitten und Gebräuche nicht. Beide Regierungen sind gerade dabei, ihren Fehler einzusehen, die ungarische etwas schneller als die polnische, was daran liegen mag, dass die ungarische Küche inzwischen aussieht, als sei der Thermomix explodiert, während die polnische immerhin noch betretbar ist.
Dank der EU können ihre Mitglieder gemeinsam Rohstoffe, Medikamente, Impfstoffe einkaufen, andere Länder mit Sanktionen belegen, internationale Abkommen schließen und dabei sicher sein, dass sich die anderen EU-Mitgliedsländer hinterher auch daran halten. Soll heißen: Auch wenn unsere Politiker ständig über „die in Brüssel“ meckern, sollten wir der EU genau deshalb dankbar sein. Weil sie ihnen und uns auf die Finger klopfen kann.
Ist „Auf-die-Finger-Klopfen“ unmöglich, kommt so etwas zustande wie die WM in Katar, bei der einige Mannschaften politische Botschaften verkünden wollen, es dann aber unter dem sanften Druck der Fifa doch lieber bleiben lassen. Auch bei der jüngsten Biodiversitätskonferenz der Uno ging es so zu. Dort sind die Staaten übereingekommen, bis 2030 30 Prozent ihrer Fläche unter Schutz zu stellen. Wer es nicht tut, riskiert, bei der nächsten Konferenz von den anderen Ländern und vor allem von den Nichtregierungsorganisationen ausgeschimpft zu werden. Mehr aber auch nicht.
Man ahnt, was kommen wird: Unter dem Druck ihrer Agrarlobbyisten werden sich Regierungen auf Ausnahmesituationen berufen (wie die Bundesregierung bei den Klimazielen auf den russischen Krieg gegen die Ukraine), sie werden ihre Gesetze über Nationalparks und Naturreservate so aufweichen, dass Wiesen und Wälder zwar unter Schutz stehen, man dort aber trotzdem Landwirtschaft betreiben und vielleicht sogar Industriebetriebe errichten und Abwässer einleiten darf. Der Fantasie sind da keine Grenzen gesetzt, denn es gibt niemanden, der ihnen dabei auf die Finger klopfen könnte.
Innerhalb der EU ist das ganz anders. Deshalb ist auch der Beschluss des Rates der EU, den Emissionshandel auf Gebäude und Verkehr auszuweiten und gleichzeitig Gratis-Emissions-Zertifikate abzuschaffen, tausendmal wichtiger als das 30-Prozent-Ziel bei der Unterschutzstellung von Flächen oder das 1,5-Grad-Ziel beim Klimaschutz. Es ist nämlich durchsetzbar. Über ihm schwebt der drohende Schatten des Wohnungsnachbarn, der in jede Ritze schaut, jeden Teller zweimal umdreht, bevor er das Geld aus der gemeinsamen Kasse zurückzahlt. Dieser Nachbar, das sind die Europäische Kommission mit ihrem Apparat und der Europäische Gerichtshof mit seinen kumulativen Strafzahlungen.
Schuld sind wieder mal wir selbst
So weit, so gut, aber wenn das alles seit Jahrzehnten bekannt ist, warum tut es dann keiner? Mehr noch: Warum kaprizieren sich selbst die radikalsten Umweltschützer, Menschenrechtler und Kämpfer gegen den Klimawandel auf Ziele wie das 1,5-Grad-Ziel, die 30 Prozent Schutzgebiete und die Frage, wie genau das Arbeitsrecht in Katar durchgesetzt wird?
Die Antwort ist so simpel wie banal: Wenn die Sprecher der Umwelthilfe, von Fridays for Future und Amnesty International nach der Rückkehr von einer internationalen Konferenz vor die Presse treten, und verkünden, es sei ihnen gelungen, die Teilnehmerstaaten auf eine so-und-so-große Reduzierung der Treibhausgase zu verpflichten, dann fragt niemand (oder fast niemand) danach, wie das denn gehen soll und alle klatschen begeistert Beifall. Die Welt ist gerettet.
Wenn sie dagegen nach einer Konferenz verkünden, dass es ihnen gelungen ist, die Teilnehmerstaaten dazu zu bringen, zehn Arbeitsgruppen einzurichten, die sich mit einem neuen Vertrag, der Gründung einer Klima-Kommission, eines Klima-Gerichtshofs, einer internationalen Agentur zur Überwachung des Treibhausgasausstoßes und der Besetzung dieser Institutionen und ihren internen Abstimmungsregeln beschäftigen sollen, dann, ja dann versteht das kein Mensch. Und die Medien schreiben dann, statt das Klima zu schützen, hätten unsere Politiker wieder einmal nur mehr Bürokratie geschaffen.
Aber genau so wurde vor genau 70 Jahren die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, der Vorgänger der heutigen EU, gegründet.
















