Analyse

Kosovo und Serbien: Schwerste Krise seit Ende des Kosovokriegs 1999

Serbien hat die Krise im Kosovo entschärft, als es die Barrikaden im nördlichen Teil abbauen ließ. Eine Lösung im Konflikt zwischen beiden Ländern ist aber nicht in Sicht.

Kosovo: Nato-Soldaten auf Friedensmission, fotografiert am Donnerstag.
Kosovo: Nato-Soldaten auf Friedensmission, fotografiert am Donnerstag.AFP/Armend NIMANI

Die Nachricht über den Abbau der Straßenblockaden im Nord-Kosovo hat eine Krise beendet, die brandgefährlich war. Nach drei Wochen voller Spannungen lenkte der serbische Präsident Aleksandar Vučić jetzt ein und forderte die Kosovo-Serben auf, die quer gestellten Lastwagen auf den Verbindungsstraßen beiseitezuräumen. Die Bewegungsfreiheit zwischen Kosovo und Serbien ist wiederhergestellt.

Der internationale Druck hat offenbar gewirkt. Am Mittwochabend hatten der EU-Außenbeauftragte und der US-Außenminister gemeinsam eine Erklärung herausgegeben, in der sie Serbien und Kosovo dringend aufforderten, „maximale Zurückhaltung zu üben und Provokationen, Drohungen oder Einschüchterungen zu unterlassen“.

Der Dialog zwischen den Gruppen müsse wieder aufgenommen werden

Das Auswärtige Amt forderte die Kosovo-Serben sogar direkt auf, die Barrikaden abzubauen und die Grenzübergänge nicht mehr zu blockieren. Nationalistische Rhetorik, wie sie aus Serbien zu hören gewesen sei, sei inakzeptabel. Und „das Hochfahren militärischer Präsenz nahe der serbischen Grenze zu Kosovo“ setze „ein völlig falsches Signal“. Der Dialog zwischen den Gruppen müsse wieder aufgenommen werden.

Die Kehrtwende rettete eine Situation, die von Beobachtern als dramatisch eingeschätzt wurde. Hatte Vučić doch Anfang der Woche 5000 Soldaten unweit der Grenze zu Kosovo stationiert und dabei auf die Verteidigung der rund 50.000 Serben im Kosovo (insgesamt etwa 1,7 Million Einwohner) verwiesen. Auf Instagram hatte er sich mit ernstem Gesicht neben seinem Generalstabschef gezeigt und den Soldaten und Polizisten kryptisch gedankt, die das „Überleben des serbischen Volks im Kosovo“ sicherten.

Vučić will für das Kosovo kämpfen

Es war die schwerste Krise zwischen Kosovo und Serbien seit Ende des Kosovokriegs 1999. Dieser führte zur Abtrennung der ehemaligen Provinz von Serbien und 2008 zur Unabhängigkeit von Kosovo. Doch Serbien will diese nicht akzeptieren. „Für mich ist Kosovo und Metohija Serbien und dies wird nie anders sein“, postete Vučić am Donnerstag auf Instagram und fügte hinzu: „Ich kämpfe und werde für unsere Brüder und Schwestern kämpfen.“ „Metohija“ ist die serbische Bezeichnung für die westlichen Regionen Kosovos.

Die kosovarische Präsidentin Vjosa Osmani besuchte ihrerseits noch am Mittwoch einen Stützpunkt der Kosovo-Sicherheitskräfte, der Streitkräfte des Landes, im nördlichen Istog. Selbst in Uniform gekleidet betonte sie die Bereitschaft der Armee, Kosovo „um jeden Preis und in jedem Moment“ zu verteidigen.

Die Stimmung ist aufgewühlt und die Beruhigung der Situation könnte von kurzer Dauer sein. Der Anspruch auf Unabhängigkeit aufseiten der Kosovo-Albaner ist tief verwurzelt. Schon zu Tito-Zeiten leisteten einige Widerstand gegen die jugoslawische Regierung. Häufig landeten Regimekritiker als politische Gefangene im Gefängnis oder wurden in die Emigration getrieben.

Ein zweites Srebrenica sollte verhindert werden

Slobodan Milošević agierte im Kosovo ab Ende der 1980er-Jahre offen brutal gegen jeden Wunsch nach Eigenständigkeit. Er entzog der autonomen Provinz 1989 den Autonomiestatus und setzte gefügige Serben auf Führungspositionen. Die Mehrheitsbevölkerung verlor nahezu alle Rechte. Wie in einem Apartheidsystem konnten die Kosovo-Albaner keine Schulen oder Universitäten besuchen, sie hatten keine Arbeit und keine Gesundheitsversorgung.

Widerstand gegen die Unterdrückung wurde blutig niedergeschlagen. Der kosovo-albanische Politiker Ibrahim Rugova zog um die Welt, um Unterstützung für sein Volk zu erbitten, doch vergeblich. Die Kosovo-Befreiungsarmee UÇK begann Mitte der 1990er-Jahre serbische Polizisten und Militärs aus dem Untergrund heraus anzugreifen. Diese schlugen in zigfacher Mannstärke zurück. Letztendlich führten erst massive Menschenrechtsverletzungen gegen die kosovo-albanische Bevölkerung dazu, dass die Region auf die Tagesordnung der internationalen Diplomatie kam. Ein zweites Srebrenica sollte verhindert werden.

Erst Bombardement, dann UN-Mission

Im März 1999 beschloss die Nato ein Bombardement der jugoslawischen Armee und Infrastruktur, das im Juni des Jahres mit einem Waffenstillstand endete. Politische Fragen wurden dabei ausgespart. Sie sollten später verhandelt werden.

Zunächst übernahm eine Mission der Vereinten Nationen (UNMIK) mit weitgehenden Befugnissen die Verwaltung im Kosovo. Sie baute – nach westlichem Vorbild – ein staatliches System mit Institutionen vom Amtsgericht bis zum Zoll auf.

Auf der politisch-diplomatischen Ebene bewegte sich seit 1999 wenig. Belgrad weigert sich, Kosovo loszulassen. Ein Vierteljahrhundert Bemühungen von Vereinten Nationen, Europäischer Union und Diplomaten in den verschiedensten Länder-Konstellationen konnte den serbisch-kosovarischen Knoten weder lockern noch lösen.

Seit 1999 keinen Strom bezahlt

Immer neue Vorschläge wurden Belgrad und Pristina vorgelegt, die zu einer Annährung führen sollten. Schließlich gibt es eine große Menge Fragen, die zu klären waren und sind: angefangen von der jugoslawischen Rentenkasse, die in Belgrad verwaltet wird, über kosovarische Kulturgüter, die sich in Serbien befinden, bis zu Stromrechnungen, die von den meisten Kosovo-Serben aus Protest seit 1999 nicht beglichen werden. Nach Schätzungen kostete das den Kosovo-Staat schon 300 Millionen Euro.

In Einzelfragen kam es zu Lösungen, doch vieles blieb offen. Und manches, das gelöst schien, verknotete sich wieder. Dazu gehören die KFZ-Kennzeichen, die im Spätsommer sogar in Deutschland Schlagzeilen machten. Die Kosovo-Serben fahren seit 1999 im Kosovo mit Nummernschildern, die illegal nach serbischem Muster geprägt sind. Gleichzeitig erkennt Belgrad die kosovarischen Kennzeichen nicht an. Die Folge: Autofahrer aus dem Kosovo müssen ihre Kennzeichen, wenn sie durch Serbien fahren, durch temporäre serbische Kennzeichen ersetzen. Der kosovarische Premier Albin Kurti, der seit 2021 im Amt ist, wollte sich diese Situation nicht länger gefallen lassen und es kam zum Streit zwischen den Ländern.

Durch den Ukraine-Krieg erhielt dieser Konflikt eine zusätzliche Dimension: Serbien pflegt mit Russland enge Beziehungen und hat keine Sanktionen gegen Russland verhängt. Zehntausende Russen zogen dieses Jahr nach Serbien um, auch Söldner der russischen Gruppe Wagner sollen sich dort befinden. Schon lange befürchten Außenpolitik-Experten, dass Serbien Putins Einfallstor in die EU wird oder bereits geworden ist.

Einen zweiten Konfliktherd vermeiden

Zwar haben die EU-Länder einen wirtschaftlich engen Austausch mit dem Balkan, aber ein Beitritt zur Union ist für Serbien, Kosovo, Bosnien-Herzegowina, Montenegro, Nordmazedonien und Albanien in weiter Ferne. Hinzu kommt, dass einige EU-Staaten Kosovo aus innenpolitischen Gründen immer noch nicht anerkennen, was vor einem Beitritt Serbiens und Kosovos passieren müsste. Längst hat sich bei den frustrierten Kandidaten ein geflügeltes Wort breitgemacht: „Der Balkan kommt erst in die EU, wenn diese sich schon aufgelöst hat.“

Seit dem Ukraine-Krieg und Serbiens enger Beziehung zu Russland ist die EU bei Konflikten auf dem Balkan besonders wachsam. Deshalb vermittelte der EU-Sonderbeauftragte Miroslav Lajčák beim Autokennzeichen-Streit und war zunächst erfolgreich: Belgrad erklärte sich bereit, dass die Kosovo-Serben in Zukunft keine illegalen Kennzeichen mehr anschrauben. Pristina bestand jedoch darauf, dass auch die bestehenden Kennzeichen schnell durch kosovarische ersetzt werden müssen. Andernfalls sollten die kosovo-serbischen Kfz-Halter erst ermahnt und später bestraft werden.

Das Pikante daran: Polizisten sollten die Bestimmungen umsetzen, die in den vier serbischen Gemeinden im Norden und sechs Enklaven im Süden arbeiten, unter ihnen zahlreiche Kosovo-Serben. Diese weigerten sich aber und verließen mit lautem Protest die Kosovo-Institutionen. Mit ihnen gingen auch die Richter und Staatsanwälte, Bürgermeister und andere öffentliche Bedienstete serbischer Nationalität, die sich in den vergangenen Jahren dem kosovarischen Staat angenähert hatten.

Das Beispiel zeigt: Zwischen Kosovo und Serbien geht es immer wieder zwei Schritte vor und einen zurück – oder mal zwei Schritte zurück und einen vor. Eine grundsätzliche Lösung ist nicht in Sicht. Und das, obwohl der Kontakt zwischen Kosovo-Serben und Kosovo-Albanern im Alltag friedlich ist.

Kosovo-Serben gehen in das Einkaufszentrum Albi außerhalb von Pristina, um bei Zara, Mango oder Geox einzukaufen. Auf Literaturfestivals sitzen serbische Autoren auf der Bühne und lesen Gedichte. Zwar wird in den Schulen die Sprache des anderen nicht unterrichtet, aber die älteren Kosovo-Albaner sprechen noch Serbisch und die Jungen unterhalten sich auf Englisch. „An das, was 60 Kilometer entfernt im Norden passiert, denken wir in Pristina nicht“, sagt die 40-jährige Pranvera. In den Cafés herrscht in der Weihnachtszeit das gleiche fröhliche Treiben wie immer, wenn Ferien und viele Auslandskosovaren zu Besuch sind.

An Krieg hat niemand Interesse und es fragt sich, wie groß dieses tatsächlich in Belgrad oder Prishtina ist. Beobachter unterstellen dem serbischen Präsidenten Vučić, das Säbelrasseln vor allem zu veranstalten, um das heimische Publikum zu beeindrucken. Außenpolitisch sei Serbien ohnehin schon weitgehend geächtet. Einen Krieg gegen die im Kosovo weiter stationierte Nato-Truppe KFOR könne Vučić politisch nicht riskieren, heißt es.

Die kosovarische Regierung sendet gemischte Signale. Trotz massiven Rückhalts aus dem Ausland und einem Bekenntnis zur EU wird die serbische Regierung immer wieder gereizt. Kürzlich wurde ein ehemaliger kosovo-serbischer Polizist wegen eines Terrorismus-Verdachts festgenommen und tagelang an geheimem Ort festgehalten. Als ein Kosovo-Gericht den Mann wegen einer schweren Erkrankung jetzt in den Hausarrest entließ, schimpfte Kosovo-Premier Kurti laut TV-Sender RTK: „Ich bin neugierig zu wissen, welcher Richter das entschieden hat.“

Nur die EU kann langfristig die Situation stabilisieren. Eine von der EU entwickelte Vereinbarung, die dem deutsch-deutschen Grundlagenvertrag von 1972 ähnelt, soll zurzeit in geheimen Gesprächen verhandelt werden. Serbien und Kosovo müssten sich laut dieser nicht völkerrechtlich anerkennen, könnten aber kooperieren. Der kosovarische Premier erwartet nach Medienberichten, dass so ein Vertrag im Frühjahr unterzeichnet wird. Aus heutiger Sicht ist diese Einschätzung äußerst optimistisch.

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