Kriminalität in Berlin

Nach dem Überfall am Rollator: Eine 78-Jährige erzählt, wie sie überlebt hat

Bärbel M. aus Berlin-Neukölln hat sogar schon in die Mündung einer Pistole geschaut. Aber was sie im Dezember 2019 erlebte, das hat ihr Leben komplett geändert.

Gropiusstadt, Ortsteil im Bezirk Neukölln, knapp 40.000 Einwohner – und immer wieder Schauplatz von Raubüberfällen.
Gropiusstadt, Ortsteil im Bezirk Neukölln, knapp 40.000 Einwohner – und immer wieder Schauplatz von Raubüberfällen.imago

Bärbel M. hat schon einiges durchgemacht. Sie hat in den Lauf einer Pistole geschaut. Das war in den 80er-Jahren, als sie in einem Zeitungsladen am Mehringplatz arbeitete und überfallen wurde. Und drei Mal wurde ihr das Portemonnaie gestohlen. Aber das, was der Neuköllnerin an jenem 4. Dezember 2019 widerfuhr, hat ihr Leben komplett verändert.

In der Polizeimeldung liest sich das so: „Eine 75 Jahre alte Frau ist beim Betreten ihrer Wohnung in Neukölln von zwei Männern überfallen und dabei schwer verletzt worden. Die Täter zogen der Seniorin am Mittwochabend von hinten eine Jacke über den Kopf und entrissen ihr die Handtasche. Die Angreifer flüchteten mit der Tasche, als eine Nachbarin in dem Mehrfamilienhaus in der Rudower Straße hinzukam. Die Seniorin kam zur Behandlung in ein Krankenhaus.“

„Er warf mich weg wie ein Stück Dreck.“

Bärbel M. war am Nachmittag in den Gropiuspassagen einkaufen. Sie suchte nach einer neuen Hose und hatte 200 Euro Bargeld dabei, die sie aber nicht ausgab, weil ihr keine Hose gefiel. Als sie gegen 18 Uhr im Dunkeln nach Hause kam und die Haustür aufschloss, packte sie jemand von hinten und stieß sie um.

„Er warf mich weg wie ein Stück Dreck“, sagte die kleine, schmale Frau. Als sie am Boden lag, trat er immer wieder mit voller Wucht auf sie ein. Er zertrümmerte ihr linkes Knie und die Hüfte. Er zerrte an ihrem Finger, um den goldenen Ring zu bekommen, der aber nicht abging – der Ring ihres vor elf Jahren verstorbenen Mannes. Dann wollte er ihre Kette abreißen, was nicht klappte. Er konnte ihr schließlich nur die Handtasche wegreißen.

SERie: Die vergessenen fälle
Raub, Körperverletzung, Einbruch oder sexuelle Übergriffe: Etwa 70.000 Gewalttaten registriert die Berliner Polizei in jedem Jahr. Aufmerksamkeit erregen meist nur spektakuläre Kriminalfälle, viele „kleine“ Fälle sind allenfalls eine Kurzmeldung im Polizeibericht. Doch wie geht es den Betroffenen alltäglicher Kriminalität? Die Berliner Zeitung am Wochenende hat mit Menschen gesprochen, die ihr unter anderem von der Opferhilfeorganisation Weißer Ring vermittelt wurden. Die Serie: Die vergessenen Fälle.

Bärbel M. schrie um Hilfe. Als eine Nachbarin im Treppenhaus herunterlief, rannte der Mann weg. Laut Polizei sollen es zwei Täter gewesen sein, aber daran kann sich die Rentnerin Bärbel M. nicht mehr erinnern.

Die Tasche mit dem Geld und der Geldkarte und dem neuen Regenschirm war weg. „Das Schlimmste war aber, dass er mein Handy hatte. Da waren die Bilder von meinem verstorbenen Mann drauf.“ Mit der gestohlen Geldkarte räumte jemand ihr Konto ab. Tausend Euro wurden für irgendein Online-Lotto abgebucht. Die Bank ersetzte das Geld.

Sie weiß nicht mehr viel über das Geschehen, sie weiß nur, wie sie getreten wurde und dass sie um Hilfe geschrien hat. Wie der oder die Täter aussahen, konnte die Frau den Polizisten, die von der Nachbarin gerufen wurden, nicht beschreiben.

Die Polizei hofft auf einen DNA-Treffer

Ein Rettungswagen brachte Bärbel M. ins Krankenhaus. Mehrere Wochen lag sie in der Klinik. Das Knie war so kaputt, dass die Ärzte ihr ein neues Kniegelenk einsetzen mussten. Wegen der Verletzungen ist sie heute beim Gehen auf den Rollator angewiesen.

Die Polizisten, die sie im Krankenhaus befragten, kamen später noch einmal zu ihr in die Wohnung und nahmen DNA-Spuren von dem Ring, an dem der Täter gezerrt hatte. Doch einen Treffer in der DNA-Datenbank, die die Datensätze identifizierter Krimineller enthält, erzielten sie nicht.

Der oder die Täter wurden nie gefasst und überfallen womöglich bis heute weitere ältere Menschen. Es ist nicht auszuschließen, dass es sich im Fall von Bärbel M. um Serientäter handelt. Denn schon kurz vorher war in der Nähe, in der Rudower Straße, eine ältere Dame ausgeraubt worden.

Als Bärbel M. gegen 18 Uhr im Dunkeln nach Hause kam und die Haustür aufschloss, packte sie jemand von hinten und stieß sie um.
Als Bärbel M. gegen 18 Uhr im Dunkeln nach Hause kam und die Haustür aufschloss, packte sie jemand von hinten und stieß sie um.imago

Ältere nehmen seltener psychologische Hilfe an als Jüngere

Die Polizei vermittelte Bärbel M. an die Opferhilfe-Organisation Weißer Ring, die ihr beim Stellen eines Antrags nach dem Opferentschädigungsgesetz half. Der Verein gab ihr auch Geld für die Fahrten zum Arzt und für Medikamente und den Eigenanteil, den die Frau für den Klinikaufenthalt und die anschließende Reha zahlen musste.

Eineinhalb Jahre nach der Antragstellung begann das Versorgungsamt mit der Auszahlung einer Opferrente von 212 Euro monatlich. So hat Bärbel M. jetzt mit der Witwenrente etwa 1200 Euro für die Miete ihrer Wohnung und zum Leben.

Mit diesem Antrag hätte sie auch fünf Therapiestunden bei der Trauma-Ambulanz erhalten können. „Aber das brauchte ich nicht“, sagt sie. „Ich habe mich ja so gewundert: Als mein Männe starb – ich hab ihn ja nun sehr geliebt – da konnte ich nicht weinen. Ich bin nach Hause gegangen, hab nur geschlafen. Als wenn dit nich mein Männe war. Und so ging mir das auch nach dem Überfall. Manche kriegen ja dann Schreikrämpfe. Aber ich war voll bei mir.“ Es muss dieser Selbstschutzmechanismus sein, der Funktionsmodus, in dem sich viele Menschen in furchtbaren Situationen befinden und der Bärbel M. nicht verrückt werden ließ.

Bärbel M. ist ein gutes Beispiel für das Verhalten der älteren Generation. „Immer wieder machen wir die Erfahrung, dass ältere Leute psychologische Betreuung ablehnen“, sagt Detlef Fritz, ehrenamtlicher Mitarbeiter beim Weißen Ring. „Sie haben in ihrem Leben viel erlebt und versuchen, ihre Traumata selbst zu überwinden. Jüngere nehmen meistens psychologische Hilfe an, um das, was ihnen widerfahren ist, zu verarbeiten.“

Woran ihr Mann im Krankenhaus Neukölln starb, blieb unklar

„Ich hatte immer, wenn was war, viel Hilfe gehabt“, sagt Bärbel M. „Schon durch meinen Mann, er war immer da. Er hat mich in den Arm genommen, und da konnte ich dann weinen“, sagt sie – und beginnt zu weinen.

An ihrem 78. Geburtstag sitzt sie im Sessel ihres Wohnzimmers und zündet sich eine Zigarette an. Sie ist aufgeregt, die Stimme zittert. Seit 45 Jahren lebt sie hier. Ein mit Schnitzereien verzierter Eichenschrank, eine verschnörkelte Standuhr, eine alte Wanduhr, an beiden steht die Zeit still. Ihr Mann liebte alte Möbel. An der Wand in Schwarz-Weiß das Hochzeitspaar von 1967 in einem gusseisernen, schweren Rahmen. Auf einem Tischchen zeigt ein Foto ein lachendes Paar. Das Bild entstand vier Wochen, bevor ihr Mann starb, der Horst Dieter. Ihr „Hottichen“, wie sie sagt. Das ist jetzt fast elf Jahre her.

Woran er gestorben ist, weiß sie nicht. Ihr Mann war wegen einer Schulter-OP im Krankenhaus Neukölln. Am Montag sollte er entlassen werden. Nachts ist er dann gestorben. Vielleicht waren es die Herzprobleme, die er früher einmal hatte, die Ärzte konnten es nicht erklären.

Medizinischer Dienst erkennt Bärbel M. den Pflegegrad ab

Sie und ihr Mann waren selbständig. 1987 eröffneten sie ein Sportstudio am Tempelhofer Damm und betrieben es bis 2009. Es war eine schöne Zeit.

Ihre ganze Seele, ihr ganzer Körper sei jetzt krank, sagt Bärbel M. Nach dem Überfall bekam sie den Pflegegrad 2. Den gibt es laut Medizinischem Dienst der Krankenkassen bei „erheblicher Beeinträchtigung der Selbständigkeit“.

In diesem Jahr kam eine Gutachterin des Medizinischen Dienstes und befragte sie nach ihrem Gesundheitszustand. Zwei Wochen später kam der Bescheid: alle Pflegestufen weg. Mithilfe ihrer Nichte legte sie Widerspruch ein. Es folgte eine Entschuldigung und sie bekam Pflegegrad 2 wieder. „Du darfst hier in Deutschland nicht alt und krank werden“, meint die Rentnerin. „Ach wenn mein Männe dit noch erlebt hätte.“ Auf seinen Grabstein hat sie „Hottichen“ gravieren lassen.

Die Angst älterer Menschen vor einem Überfall ist nicht unberechtigt

Bärbel M. ist froh, dass es bei ihr noch eine gute Hausgemeinschaft gibt. Die Nachbarn helfen ihr die Treppe hinauf und herunter. Wenn sie Hilfe braucht, dann sind sie da. Bis zum Überfall war sie ein fröhlicher Mensch, sie habe viel gelacht und fast nie geweint. „Ich hab’ vormittags meinen Haushalt gemacht, dann bin ich losgefahren, und so um zwei rum habe ich meine Freunde getroffen, zum Kaffeetrinken und dusslig Quatschen. Dit hat Spaß gemacht.“

Nach dem Überfall geht sie kaum noch raus. Da tröstet auch die aktuelle Kriminalstatistik für das Jahr 2021 wenig, wonach auf 100.000 Einwohner nur 561 Menschen über 60 Jahre Opfer von „Straftaten gegen die persönliche Freiheit und körperliche Unversehrtheit“ werden, wie das im Polizeijargon heißt. Zum Vergleich: Die Bevölkerungsgruppe unter 21 Jahren lebt viel gefährlicher: Hier liegt die sogenannte Gefährdungszahl bei 2203, gerechnet auf 100.000 Menschen. Hochgerechnet auf 3,7 Millionen Einwohner wurden im vergangenen Jahr trotzdem 20.757 ältere Menschen Opfer von Gewalttaten.

Die Angst, die Bärbel M. hat, ist also nicht unberechtigt. Wenn sie trotzdem einmal etwas zu erledigen hat, dann fährt sie deshalb nicht mehr mit dem Bus nach Hause, sondern ruft sich ein Taxi. Dann bittet sie den Fahrer, noch zu warten, bis sie im Haus ist. Damit sie nicht wieder vor der Haustür überfallen wird.

Ein Taxifahrer half ihr schon mal, die Einkäufe bis vor die Wohnungstür zu bringen. Bärbel M. sagt: „Es gibt auch gute Menschen.“

In der Serie „Die vergessenen Fälle“ ist bisher erschienen: