Christina denkt nach. Nur kurz, dann hat die 14-Jährige eine Antwort gefunden auf die Frage, welches Tier sie gerne wäre, wenn sie die Wahl hätte. Vor ihr auf dem Tisch sind Figuren aufgebaut: Elefant, Löwe, Bär. Auch ein Krebs ist dabei. Christina sagt: „Ich wäre ein Tier, das in großer Stille lebt.“
Mit diesem Satz kann die Psychologin Manon Recknagel etwas anfangen. Sie nimmt ihn als Hinweis darauf, wie das Gespräch nun weitergeht. Den Verlauf bestimmt das Mädchen, das ihr gegenüber am Tisch in diesem ruhigen Raum der Berliner Krebsgesellschaft (BKG) in Mitte sitzt. Seine Mutter ist an einem Hirntumor erkrankt. Sie wurde operiert, doch die Ärzte der Charité geben ihr nur noch wenige Monate. Die Mutter wird sterben.
Eine schreckliche Nachricht für Christina und ihre jüngeren Schwestern Sophie, 8, und Marie*, 6. Die ganze Familie befindet sich in einem Ausnahmezustand, auf den niemand vorbereitet sein kann. Schon gar nicht Kinder, für die Vater und Mutter die wichtigsten Bezugspersonen in ihrem noch jungen Leben sind. Ihnen will die Familienberatung der BKG Halt geben, sie möchte sie durch die schlimme Situation begleiten, die Krise abfedern. „Falls erforderlich über eine längere Zeit“, sagt Manon Recknagel. In Gesprächen wie jenem mit Christina. Und manchmal eben auch mit Tierfiguren auf dem Tisch, mit deren Hilfe sich oft mehr ausdrücken lässt als mit 1000 Worten.
Bis zu 150 Familien betreuen die Therapeutin und ihre Kollegin Ulrike Mattausch jährlich. In ganz Deutschland gibt es ähnliche Angebote, und sie werden gebraucht. Rund 200.000 Kinder geraten Jahr für Jahr in die verzweifelte Lage, dass Mutter oder Vater die Diagnose Krebs erhalten. Dass im schlimmsten Fall keine Aussicht auf Heilung besteht. Wie sich solche Hiobsbotschaften auf Heranwachsende auswirken, ist wissenschaftlich gut belegt.
Studie: Kinder schwer erkrankter Eltern reagieren oft mit psychischer Störung
„Wenn man sich die Biografien psychisch erkrankter Menschen genau anschaut und zu den Ursachen kommt“, sagt Manon Recknagel, „dann zeigt sich: Beim überwiegenden Teil der Betroffenen liegen Belastungserfahrungen in der Kindheit oder Jugend vor. Nicht selten ist ein Elternteil schwer erkrankt oder verstorben.“ Zu diesem Ergebnis kommt auch eine Langzeitstudie, die das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf initiiert hat. Demnach leiden Kinder schwer erkrankter Eltern häufiger an psychosomatischen Beschwerden, Depressionen, Angststörungen oder Lernbeeinträchtigungen als Gleichaltrige ohne solche traumatischen Erlebnisse.
Die Studie trägt den Namen Cosip: „Children of somatically ill parents“. Daraus entwickelten Wissenschaftler ein Konzept. Eines seiner wichtigsten Prinzipien fasst Manon Recknagel so zusammen: „Eine offene, kindgerechte Kommunikation stärkt die Beziehung, schafft Bindung und gibt Schutz.“ Das bedeutet zum Beispiel: „Den Mut haben, ehrlich zu sein“. Und nicht zu verschweigen, dass die Mutter oder der Vater lebensbedrohlich erkrankt ist. Zum Wichtigsten in existenziellen Krisen zählt: Glaubwürdigkeit.

An einem sommerlich warmen Vormittag nimmt Andreas Stratmann* im Beratungsraum der BKG vor jenem Tisch Platz, an dem vor gut drei Jahren seine Tochter Christina auf eine Ansammlung von Tierfiguren schaute und nach einer passenden Formulierung suchte. Stratmann hat soeben von diesem Moment erzählt, weil er findet, dass er gut beschreibt, was mit offener, kindgerechter Kommunikation gemeint ist. „Christina wollte zuerst nicht zur Beratung mitkommen“, erinnert sich der Vater. „Sie sagte, sie brauche dieses Psycho-Ding nicht.“ Sie begleitete schließlich den Vater doch. Ihre Haltung verpackte sie in den Satz vom Tier, das schweigt. Und sie erfuhr, dass es auch schweigen darf. Jeder Mensch hat das Recht, auf seine Weise zu trauern. Das ist ein Satz, der oft fällt in dem ruhigen Raum der BKG.
Sophie, die Mittlere, ging zumindest im Familienkreis aus sich heraus, versteckte ihre Gefühle nicht. Marie wiederum verschaffte sich Halt, indem sie ihr Leben straff organisierte, noch heute etwa darauf besteht, um sechs Uhr geweckt zu werden, weil sie pünktlich um acht in der Schule sein möchte. Die Jüngste war es auch, die ihren sechsten Geburtstag ohne die Mutter feiern musste, denn die befand sich zu diesem Zeitpunkt im Krankenhaus, auf dem Campus Benjamin Franklin der Charité. „Für Marie war das sehr schlimm“, sagt der Vater.
Die Ärzte dort im Uniklinikum stellten die Diagnose Glioblastom im April 2020. Bereits im Winter waren erste Symptome aufgetreten, kurze Aussetzer, die Hausärztin fand die Ursache nicht. „Es gab eine Vorgeschichte mit Migräne“, erzählt Andreas Stratmann. Das schien zunächst eine plausible Erklärung zu sein.
Doch seiner Frau ging es immer schlechter. Bei der Arbeit musste sie kürzertreten. „Am Dienstag nach Ostern fuhr sie ins Büro, wollte nur schnell eine Sache erledigen.“ Karin Stratmann musste umdrehen, kehrte nach Hause zurück, legte sich ins Bett. „Im Laufe der Nacht habe ich gemerkt, dass sie nicht schlief, sondern bewusstlos war.“ Andreas Stratmann rief die 112 an. Ein Notarzt kam. Es ging sofort ins Benjamin Franklin nach Steglitz, wo ein CT den niederschmetternden Befund erbrachte. „Sie nannten es am Telefon eine Raumforderung“, erinnert sich Stratmann. Der 50-Jährige fragte, ob er seine Frau sehen könne, doch da war die Operation bereits eingeleitet, die Narkose begann zu wirken.
Ein Rat vom Charité-Oberarzt
Nach dem Eingriff kam Karin Stratmann auf eine Intensivstation. Drei, vier Wochen blieb sie dort. Die Corona-Pandemie hatte Deutschland im Griff, das Virus breitete sich in Berlin aus, sorgte für große Unsicherheit. Krankenhäuser wurden hermetisch abgeriegelt wie Festungen. „Ich musste kämpfen, um meine Frau wenigstens eine Stunde am Tag zu sehen.“ Die Kinder durften ihre Mutter nicht besuchen.
In diesen schweren Tagen wussten die Stratmanns bereits von der Familienberatung am Robert-Koch-Platz, schräg gegenüber vom Bettenhochhaus der Charité. Der Oberarzt, der Karin Stratmann kurz nach Ostern operiert hatte, erzählte ihnen davon und riet mit Nachdruck dazu, sich an die Expertinnen der BKG zu wenden. Mitte April war die OP, Mitte Mai der erste Beratungstermin. „Neben der Familie, meiner Schwiegermutter und verständnisvollen Kollegen war Frau Recknagel sehr wertvoll für uns“, sagt Stratmann. Wertvoll für die Kinder, aber auch ihm hätten die Gespräche Halt und Orientierung gegeben. „Rückblickend war es die einzig richtige Entscheidung“, sagt er.
Andreas Stratmann hat eine Kladde auf den Tisch im Beratungsraum gelegt. Er blättert einige Seiten vor und zurück. Handschriftliche Notizen sind darauf zu erkennen, Stichpunkte, die ihm wichtig erscheinen. Kurz bevor er sich auf den Weg nach Mitte gemacht hat, fragte er Sophie, die heute Elfjährige, was sie an den Gesprächen mit Manon Recknagel gut finde. „Man wird nicht wie so ein Psycho behandelt. Man kann da einfach nur spielen und reden“, hat sie geantwortet. Marie ist von der Diskretion begeistert, ihr Vater sagt: „Sie fasziniert dieser Raum hier, in dem sie wie eine Erwachsene mit einer Erwachsenen reden kann, ohne dass etwas nach außen dringt.“
Manon Recknagel schmunzelt, als sie das hört. Auf kindliche Art haben die Mädchen die Arbeit der Familientherapeutin treffend zusammengefasst. Wobei es nicht die eine Strategie, nicht den goldenen Weg gibt, den sie im Gespräch beschreiten. Zu unterschiedlich sind die Bedürfnisse, die Perspektiven und Fragen. „Ich hatte hier zum Beispiel mal ein Mädchen, dessen Mutter an Magenkrebs erkrankt war“, erzählt Recknagel. „Gut ein Jahr nach der Diagnose fragte sich das Kind, ob die Mutter etwas Falsches gegessen habe.“
Nichts und niemand kann etwas dafür, wenn ein Mensch an Krebs erkrankt. Noch so ein Satz, der in diesem Raum oft fällt. Die Therapeutin hat ihn dem verunsicherten Mädchen gegenüber geäußert. Es ließ sich überzeugen, ließ sich zudem die Sorge nehmen, dass nun alle in ihrem Umfeld ebenfalls an Krebs erkranken müssten.
Kinder suchen nach Antworten. Finden sie niemanden, der offen und ehrlich bei dieser Suche hilft, können sie falsche Schlüsse ziehen, die sehr belastend sind. Einige meinen dann, sie hätten sich zu schlecht benommen und aus diesem Grund sei im Körper von Vater oder Mutter ein Tumor aufgetaucht. Und wieder andere stellen sich Fragen, die vielen Erwachsenen in den Sinn kommen, Fragen wie diese: Warum können die Ärzte nichts gegen den Krebs ausrichten?
Andreas Stratmann hat das so ähnlich von einer seiner Töchter gehört. Ihm war in diesem Moment klar, dass es sinnlos wäre, falsche Hoffnungen zu wecken. Dass es in jedem Fall besser ist, aufrichtig zu sein, zu sagen, dass die Mutter unfassbar großes Pech habe, dass niemand etwas dafür könne, dass niemand etwas dagegen auszurichten im Stande sei, dass es nun darum gehen müsse, ihr möglichst viel Leid zu ersparen.
Er selbst fand zu dieser Einstellung, nachdem der Oberarzt an der Charité die Lebenserwartung seiner Frau mit 14 Monaten veranschlagt hatte. Es war keine neue Therapie zu erwarten, die vielleicht doch noch eine Wende gebracht hätte. Es begann keine Studie, für die er seine Frau hätte anmelden können. Es bestand keine Hoffnung. „Ich habe mir als neues Ziel gesetzt, dass die Kinder nicht irgendwann zurückblicken und sagen: ,In dieser Zeit ist alles den Bach runtergegangen.‘ Daran konnte ich mich festhalten.“
Kinder zeigen, wenn ihnen etwas über den Kopf wächst
Sie sind alle noch einmal in Urlaub gefahren, 14 Tage Ostsee, kurz bevor Deutschland in den Lockdown ging. Und auch Karin Stratmanns letzte Wochen verbrachten sie zusammen als Familie, zu Hause. Sie frühstückten miteinander, diese Viertelstunde am Tag hielt die Mutter noch durch. Sie redeten, knuddelten, und im Moment des endgültigen Abschieds, fast genau vor zwei Jahren, waren die Kinder ebenfalls dabei. Manon Recknagel hatte vorgeschlagen, den Töchtern die Möglichkeit zu geben, damit sie sich nicht ausgeschlossen fühlten.
Kinder zeigen es, wenn ihnen eine Situation über den Kopf zu wachsen droht. Das gehört zu den Erkenntnissen, die Andreas Stratmann in dieser schweren Lebenskrise gewann. „Das ist ja ihre große Stärke“, sagt er. „Es hat uns als Familie immer wieder mitgezogen, dass die Mädchen im Hier und Jetzt lebten.“ Manchmal sind sie in einem traurigen Moment „ausgebüxt“, so nennt Stratmann das, wenn zum Beispiel die Jüngste in der größten Trauer plötzlich anmahnte, sie brauche neue Schuhe. „Oder als klar war, dass meine Frau nicht mehr gesund werden würde, als wir alle zusammensaßen und weinten. Da fiel mittendrin der Satz: ,Aber eine Stiefmutter wollen wir nicht, oder?‘“










