Sie hatte ein Fotoshooting hinter sich, saß am Rechner am Abend und wählte Bilder aus, als die E-Mail einging. Es ist anderthalb Jahre her. Astrid Hollmann erinnert sich noch genau an diesen Moment. Die Fotos waren für ihren Wahlkampf, eine Woche zuvor war sie von ihrem SPD-Kreisverband in Mitte als Kandidatin für das Abgeordnetenhaus aufgestellt worden. Sie wusste, dass stressige Monate auf sie zukommen würden, aber sie freute sich auch.
Die E-Mail kam von ihrem Vermieter. Er ließ Hollmann wissen, dass er den Mietvertrag für die Wohnung, in der sie seit elf Jahren lebte, kündigen würde. Grund: Eigenbedarf.
Astrid Hollmann ist voll berufstätig und macht seit Jahren in ihrer Freizeit Politik, ein Arbeiterkind, das durch Bildung den Aufstieg geschafft und immer geglaubt hat, mit Fleiß und Einsatz könne man vieles erreichen. „Aber ich wusste, wo die Grenze ist: bei einer Wohnungssuche in Berlin.“ Nach dem Lesen der Mail, sagt sie, wollte sie die Kandidatur wieder absagen.

Ihre Worte hängen über dem Tisch vor dem Café in der Schröderstraße, die sie immer noch „meine Straße“ nennt. Auf dem Tisch liegt eine schwarze Kladde, fast so dick wie ein Aktenordner. In dieser Kladde hat Hollmann ihre Wohnungssuche dokumentiert, die an diesem Morgen zu Ende ist. Astrid Hollmann hat eine neue Wohnung gefunden, gerade kommt sie vom Bürgeramt, wo sie sich umgemeldet hat.
In einem Beitrag, den sie am Abend auf Facebook stellen wird, schreibt sie: „389 Tage, 9336 Stunden, 559560 Minuten Ungewissheit, Ohnmacht, Hilflosigkeit und oft Verzweiflung“ lägen nun hinter ihr.
Wenn es noch einen Beleg dafür bräuchte, wie kaputt der Wohnungsmarkt in Berlin ist, dann wäre er die Suche von Astrid Hollmann. Eine Frau mit einem festen Job in der Verwaltung, mit gutem Einkommen, eine Politikerin mit großem Netzwerk in Berlin verzweifelt beinahe daran, eine neue Wohnung zu finden? Sie selbst sagt: „Ich weiß, dass ich es so viel leichter habe als andere auf diesem Markt.“
Astrid Hollmann will von ihrer Suche auch deshalb im Detail erzählen. Vielleicht helfe das ja anderen, sagt sie. Gerade eben, zwischen dem Termin im Bürgeramt und dem Treffen im Café, habe sie den Aushang eines Mannes gefunden, der eine Wohnung sucht. Nach einer Eigenbedarfskündigung. Sie wolle ihn nachher anrufen, sagt Hollmann. Sie ist auch politisch aktiv geworden, hat in der Partei einen Antrag für eine Gesetzesänderung eingebracht. Mieter, denen wegen Eigenbedarf gekündigt wird, sollen mehr Zeit für die Suche nach einer neuen Wohnung bekommen, fordert Astrid Hollmann. Und das Geld für die Suche und den Umzug.
Kündigungen wegen Eigenbedarf: Oft trifft es Ältere
Niemand erfasst, wie vielen Mietern in Berlin im Jahr wegen Eigenbedarf die Wohnung gekündigt wird. Beim Berliner Mieterverein hat man den Eindruck, dass die Zahl deutlich steige. Das sagte der Geschäftsführer Reiner Wild kürzlich dem RBB. Vor allem ältere Berliner seien betroffen. Man vermute, dass der Eigenbedarf oft vorgeschoben werde, um eine Wohnung freizubekommen und sie bald darauf teurer neu zu vermieten. Was Eigenbedarf ist, ist gesetzlich weit gefasst: Man kann auch Mieter rauswerfen, um einen Verwandten dritten Grades einziehen zu lassen, einen Schwager oder eine Nichte zum Beispiel. In Hollmanns Fall wollte der Eigentümer selbst einziehen.
Wenn auch Sie uns Ihre Wohnungssuche schildern wollen, können Sie uns gerne schreiben. Kontakt: leser-blz@berlinerverlag.com
Hollmann schaut vom Café die Straße hinunter. „Ich kann zu jedem Haus was erzählen“, sagt sie. Sie kenne überall Leute. Ihr Vater war Bergmann in Gelsenkirchen. Sie selbst studierte, wurde erst Journalistin, inzwischen arbeitet sie als Projektmanagerin und Referentin. Ihre Webseite listet ein Dutzend Mitgliedschaften in Vereinen auf. Seit mehr als zwanzig Jahren lebt sie in Berlin, seit 2003 in Mitte, vor 14 Jahren zog sie in die Schröderstraße. Sie habe in jedem Jahr ein Straßenfest mit organisiert, „ich stand vor der Kirche mit Waffeln“. Die Straße sei ihr Zuhause gewesen.
Die Schröderstraße gehörte zu Ost-Berlin. Die erste Welle der Sanierung und Gentrifizierung der Straße und ihrer Umgebung ist längst vorbei. Oder die ersten Wellen. Das Café, in dem Hollmann sitzt, war früher eine Eckkneipe, nach der Wende zog eine Galerie ein, dann ein Restaurant für alpenländische Küche. Die aktuellen Betreiber nennen ihren Laden eine „vegane zero waste Bäckerei“. Keine Milchprodukte, kein Müll, Selbstbedienung. Die meisten Wohnungen in der Straße seien Eigentumswohnungen, sagt Hollmann. „Ich habe nichts gegen Eigentum“, fügt sie an, „aber Eigentum verpflichtet.“
Weil sie seit elf Jahren in ihrer Wohnung lebte, galt eine Kündigungsfrist von neun Monaten. Bis zur Wahl waren es noch sechs Monate, als sie im April letzten Jahres die Kündigung erhielt. Hollmann gab ihre Kandidatur nicht auf, sondern den letzten Rest Freizeit, der ihr neben dem Wahlkampf geblieben wäre. Sie machte einen Plan.
Wohnungssuche professionell: Jeden Tag eine Aktivität
Sie legt ein Heft auf den Tisch. Eine Art Schreibheft, wie für die Schule, auf das Titelblatt hat Hollmann ein Herz gezeichnet. Positiv denken, auch wenn es ihr schwerfiel. „Jeden Tag eine Aktivität“, das wurde zu ihrer Regel. Eine Sache unternehmen, um die Wohnungssuche voranzutreiben. Einen Freundeskreis informieren, in einem Gruppenchat auf ihr Anliegen aufmerksam machen. Jeden Schritt ihrer Suche dokumentierte sie in einer Tabelle auf ihrem Computer.
Sie recherchierte die Namen der Hausverwaltungen in ihrer Straße und in den Nachbarstraßen. Sie wollte in der Gegend bleiben, nah am Zuhause, wenn es nur irgendwie ging.
Natürlich habe sie sich einen Premium-Account bei Immoscout zugelegt, „aber den haben alle“, sagt sie. Stündlich habe sie die Angebote gescannt. Auf dem Portal weitete sie ihre Suche auf andere Teile Berlins aus. Sie kontaktierte Hausverwaltungen und Makler, berichtete in einem Wahlkampfvideo von ihrer Suche. Sie schrieb Bewerbungen, in der Dokumentation kann sie bis heute nachlesen, wann sie wem ihre Unterlagen schickte. Und wann die Absagen kamen.
Am 26. September zog Astrid Hollmann nicht als Direktkandidatin für den Wahlkreis Mitte 1 in das Abgeordnetenhaus ein, sondern ihre Konkurrentin von den Grünen. Hollmann wurde Zweite. Nun hatte sie noch mehr Zeit für die Wohnungssuche. Allerdings war auch der Druck inzwischen weiter gestiegen. In drei Monaten lief die Frist ab, die ihr noch blieb.
Im Oktober schrieb sie dem Eigentümer ihrer Wohnung, dass sie diese Frist wohl nicht würde einhalten können. „Der Vermieter reichte sofort Räumungsklage ein.“ Hollmann sprach mit der Anwältin, die sie seit der Kündigung hatte. Außerdem fing sie an, Aushänge anzufertigen. Nicht einfache A4-Blätter mit Zettelchen zum Abreißen. Laminierte Aushänge, die sie mit Kabelbindern, die aus dem Wahlkampf übrig geblieben waren, an Laternen im Viertel befestigte. Vor allem nachts habe sie Panik gespürt, bis heute erinnere sie sich an Übelkeit aus dieser Zeit.

Sie beschrieb sich auf den Aushängen als solvent und seriös und teilte mit, dass sie bis 1300 Euro Miete zahlen könne. Sie suchte zwei Zimmer. Sie postete die Aushänge auf Facebook und Instagram, wo sie für die 1300 Euro auch mal kritisiert wurde. Als Gentrifiziererin. Aber sie könne das zahlen, sagt sie. Sollte sie mit Menschen, die weniger Geld haben, um günstigere Wohnungen konkurrieren? Und in Mitte finde man schlicht auch nichts Preiswerteres mehr.
Die Aushänge brachten „tatsächlich viele Rückläufe“, sagt sie. Aber die Wohnungen, die ihr vorgeschlagen wurden, seien oft nur auf Zeit zu vermieten gewesen, und viele schlicht zu teuer. Ein Loft für 4500 Euro im Monat sei unter den Angeboten gewesen. Oft hörte sie auch, sie sei leider zu spät dran. Die Wohnung war schon weg.
Sie habe auch leere Wohnungen entdeckt, bei Rundgängen durch das Viertel, die sie unternahm. Sie sei Handwerkern und Nachbarn auf die Nerven gegangen. Wem gehört diese Wohnung, ist sie zu vermieten? Es handele sich um Zweitwohnungen, erfuhr sie oft. Oder um etwas, was sie als „unentschiedenen Leerstand“ bezeichnet. „Ein Eigentümer will eigentlich vermieten, ist aber noch nicht mit der Sanierung fertig.“ Und es eilt für ihn auch nicht.
Weihnachtskarten an Hausverwaltungen und Makler
Sie habe Weihnachtskarten an Hausverwaltungen und an Makler geschrieben, sagt Astrid Hollmann. In Erinnerung bleiben. Ein Tipp, den sie anderen Suchenden ans Herz legen möchte. Am jeweils dritten Tag eines Monats habe sie bei Verwaltungen angerufen, „da gehen die Kündigungen von Mietern ein“. Mit einer Maklerin vereinbarte sie, dass sie sich alle zwei Wochen melden dürfe. „Niemand führt Listen über Interessenten, die Makler sind von der Lage auf dem Markt auch überfordert.“ Unterlagen von Bewerbern werden nicht aufbewahrt, sondern müssen vernichtet werden.
Im Februar, elf Monate nach der Kündigung, habe sie gespürt, „wie mir die Kehle zuging“. Immoscout, Bewerbungen, Besichtigungen, Absagen. Sie habe sich auf eine Stelle in einer kleineren Stadt beworben, auch in der Hoffnung, dort einfacher eine neue Wohnung zu finden. Für Mai war ein Gerichtstermin angesetzt, die Räumungsklage.
Es habe sich wie ein Überlebenskampf angefühlt, und das trotz ihrer komfortablen Situation. „Wie muss es erst einer alleinerziehenden Mutter gehen? Familien?“, fragt Astrid Hollmann. Ihre Suchdokumentation umfasste 202 Einträge.
Im April, ein Jahr nach der Kündigung, schickte sie Ostergrüße an Hausverwaltungen und Makler. Das vermerkte sie in der Tabelle nicht mehr, weil dann alles sehr schnell ging. Eine Maklerin habe angerufen, sich für die Grüße bedankt. Und gesagt: Morgen gibt es eine Besichtigung. Hollmann sah sich die Wohnung an, mit etwa zwanzig anderen, verschickte innerhalb einer Stunde ihre Bewerbungsunterlagen. Und bekam eine Woche später den Zuschlag. Die Wohnung liege in der Nähe der Schröderstraße, die Miete sei bezahlbar.

Anfang Mai stimmte die Kreisdelegiertenversammlung der SPD Mitte dem Antrag zu, den Astrid Hollmann eingebracht hat. Er beginnt mit dem Satz: „Der Verlust der Wohnung durch Eigenbedarfskündigung darf nicht zu finanziellen und sozialen Verwerfungen auf Seiten des/der betroffenen Mieters/Mieterin führen.“ In Gebieten „mit angespannter Wohnlage“ sollen Mietern sechs Monate mehr bis zum Auszug eingeräumt werden als gesetzlich bisher vorgeschrieben.
Jetzt kämpft sie für ein neues Gesetz
Die Kosten von Wohnungssuche und Umzug soll der Eigentümer tragen, der einem Mieter kündigt. „Ein Vermieter ist ein Unternehmer, er muss das Risiko einkalkulieren, dass er die Wohnung selbst nutzen muss“, sagt Hollmann. Keinem Mieter soll mehr gekündigt werden dürfen, um in der Wohnung ein Homeoffice einzurichten. Der Antrag enthält auch diesen Satz: „Das Recht auf Eigenbedarfskündigung für nahe Familienangehörige entfällt.“
Im November ist der Landesparteitag der SPD Berlin. Hollmann hofft dort auf Zustimmung für ihren Antrag. Und dann auf den nächsten Bundesparteitag der SPD. Vieles, was in der Wohnungspolitik geändert werden müsse, müsse auf Bundesebene geändert werden, sagt sie. Sie wird für ihr Anliegen kämpfen. Auch ihre neue Wohnung gehört einem privaten Vermieter. Im Vertrag steht nur ein Mindestmietrecht von zwei Jahren.
Eine Wohnung sei kein Wirtschaftsgut wie jedes andere, sagt Astrid Hollmann. Sondern ein Zuhause für Menschen. Ein Lebensmittelpunkt. Ein Leben. Die beiden Frauen, die mit ihr jahrelang das Fest in der Schröderstraße organisiert haben, seien inzwischen ebenfalls nicht mehr da, einer der beiden sei auch der Mietvertrag gekündigt worden. Wegen Eigenbedarf. Das Fest gibt es nicht mehr.











