8. Mai in Berlin

Ukrainischer Botschafter antwortet Melnyk: Diplomatie „wird nicht auf Twitter gemacht“

Der Verein Vitsche findet, zu wenig Deutsche wissen von dem Leid der Ukrainer im Zweiten Weltkrieg. Bei einer Gedenkaktion tadelt Botschafter Makeiev Vorgänger Melnyk.

Ukrainer in Berlin singen ihre Nationalhymne als Teil der Gedenkveranstaltung des Vereins Vitsche zum Tag der Befreiung.
Ukrainer in Berlin singen ihre Nationalhymne als Teil der Gedenkveranstaltung des Vereins Vitsche zum Tag der Befreiung.John MacDougall/AFP

Die Demonstration war zunächst ganz anders, als man sie in Berlin von dem ukrainischen Verein Vitsche kennt: Am Tag der Befreiung war das laute Skandieren von Slogans nicht mehr zu hören, auch die sonst üblichen bunten Plakate waren kaum zu sehen – stattdessen herrschte überwiegend eine feierliche Stille, als Hunderte Demonstranten durch Prenzlauer Berg zogen. Es war ein Symbol, das auch mit einem zentralen Anliegen der Organisatoren zusammenhängt – dem fehlenden Fokus in der deutschen Erinnerungskultur auf die ukrainischen Opfer des Zweiten Weltkriegs.

Die Anfangs- und Endpunkten des Gedenkzuges – die Kulturbrauerei in der Schönhauser Allee und die Sophiensälen in der Sophienstraße - sind nicht zufällig gewählt worden. Denn dort befanden sich während des Zweiten Weltkrieges Arbeitslager, wohin Zwangsarbeiter unter anderem aus der Ukraine deportiert wurden. Doch das wissen zu wenig Deutsche, sagen die Aktivisten von Vitsche –das heutige Gedenken an die sowjetischen Opfer des Zweiten Weltkrieges werde aus ihrer Perspektive nur in Zusammenhang mit Russland gebracht. Spätestens seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges ist es höchste Zeit, dass sich das ändert, sagen sie.

Aktivisten: Wir brauchen eine „dringende Überprüfung“ der Erinnerungskultur

„Leider fehlt die Ukraine als direktes Opfer der militärischen Aggression und des Terrors der Nationalsozialisten immer noch auf der historischen Landkarte“, sagte Eva Yakubovska, eine leitende Aktivistin von Vitsche auf der Kundgebung an der Kulturbrauerei vor dem Marschbeginn. Die Stille des Marsches, sowie die Schweigeminuten, die am Anfang und Ende der Aktion eingehalten wurden, sei stellvertretend für die Stimmen der ukrainischen Opfer sowohl im Zweiten Weltkrieg, die vergessen worden seien. Yakubovska betont allerdings: Diese Aktion gedenkt aller Kriegsopfer.

Eva Yakubovska glaubt, es brauche eine „dringende Überprüfung“ der bisherigen deutschen Erinnerungskultur, damit Deutsche ihr Wissen um den Zweiten Weltkrieg erweitern. Dabei sollte Deutschland auch seine historische Verantwortung gegenüber der Ukraine anerkennen. Bisher, sagt Yakubovska, gebe es ein solches Verantwortungsgefühl nur gegenüber Russland – was von Russland „zynisch ausgenutzt“ werde, um seine „imperiale Ziele“, wie im aktuellen Krieg in der Ukraine, voranzutreiben.

Ein Protestplakat behauptet, Russland habe den sowjetischen Sieg über Nazismus im Zweiten Weltkrieg für sich beansprucht - und nutze diesen jetzt aus, um den Angriffskrieg in der Ukraine zu rechtfertigen.
Ein Protestplakat behauptet, Russland habe den sowjetischen Sieg über Nazismus im Zweiten Weltkrieg für sich beansprucht - und nutze diesen jetzt aus, um den Angriffskrieg in der Ukraine zu rechtfertigen.John MacDougall/AFP

In den Sophiensälen erinnert ein Gedenktafel an die Geschichte des Orts und das Schicksal der dorthin deportierten Menschen – erwähnt allerdings nicht, wo sie herkamen. Im letzten Jahr hatte Vitsche zum 8. Mai ein vorübergehendes Denkmal im Hof der Sophiensäle erstellt – in diesem Jahr fordern sie auch eine permanente Lösung mit der Errichtung einer Gedenkstätte in Berlin für die ukrainischen Opfer des Zweiten Weltkrieges.

Von den 27 Millionen sowjetischen Staatsbürger, die im Zweiten Weltkrieg ums Leben kamen, waren etwa acht bis zehn Millionen Ukrainer. Doch bei den vielen sowjetischen Ehrenmäler in Berlin sei kein Ort dabei, wo Ukrainer des Leids ihrer Vorfahren gedenken können, sagt Vlada Vorobiova von Vitsche. „Wie können wir an Orten gedenken, wo Zitate von Stalin aufgeführt werden?“ Am Sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park wird die Geschichte des Siegs der Roten Armee anhand von 22 Stalin-Zitaten erzählt; am Denkmal in der Schönholzer Heide gibt es sechs. Das mache diese Gedenkstätten für Ukrainer zu „einem schmerzhaften Symbol für Unterdrückung, Diktatur und Leid“, so Vorobiova.

Problematisch sei auch, dass solche Denkmäler nur die Jahren 1941 bis 1945 als Kriegsjahren angeben. Das ignoriere zwei Jahren Schmerz und Leid nicht nur für Ukrainer, sondern auch für Länder wie Polen und die baltischen Staaten nach dem Abschließen des deutsch-sowjetischen Molotow-Ribbentrop-Pakts, sagt Vlada Vorobiova. Aus genau diesem Grund hatte der ukrainische Botschafter in Deutschland Oleksii Makeiev seine Landsleute darum gebeten, an keinen Gedenkveranstaltungen an sowjetischen Ehrenmälern in Deutschland teilzunehmen.

Botschafter bietet Unterstützung an – und antwortet subtil auf Melnyk-Kritik

Als der Protestmarsch von der Kulturbrauerei loszieht, gehen die Sängerinnen der Ukrainischen Kapelle in Berlin an dessen Spitze; während der gesamten Prozession singen sie ukrainische Volkslieder. Ihre Stimmen sind trauervoll und klagend – sie bringen viele Passanten zum Stehen, als sie die Prozession vorbeiziehen sehen. Hin und wieder läuten Fahrradglocken unterstützend; vom Gehweg aus ruft ein Mann „Slawa Ukraini“ - Ruhm der Ukraine. „Danke“, ruft ihm eine ukrainische Demonstrantin zurück.

Nach Ankunft des Marsches an den Sophiensälen spricht der Botschafter Oleksii Makeiev zu den Demonstranten. Er verspricht den Aktivisten seine Unterstützung dabei, den Berliner Senat und die Bundesregierung aufzufordern, die von Eva Yakubovska angesprochene „Überprüfung“ der deutschen Erinnerungskultur einzuleiten. Er habe bereits bei seinem Reichstagbesuch am Vormittag des 8. Mai mit Abgeordneten wie Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) und Tobias Lindner (Grüne) besprochen, wie das aussehen könnte – etwa durch Bildung und Begegnungen mit der ukrainischen Kultur.

Alle Ukrainer können auch einen Beitrag zu einer „Wende“ in der deutschen Erinnerungskultur leisten, sagte Makeiev, indem sie die Geschichten ihrer Vorfahren selbst immer wieder erzählen. Bei seinem Reichstagbesuch habe er den Abgeordneten von seinem Großvater erzählt, der als Panzerfahrer an der ukrainischen Front im Zweiten Weltkrieg kämpfte. „Mit diesen Geschichten werden die Deutsche mehr über die eigene Verantwortung gegenüber der Ukraine lernen, wir werden in Europa bekannt und respektiert“, sagte Makeiev. „Diese Arbeit ist sehr mühsam – und sie wird nicht auf Twitter gemacht.“

Es ist eine kaum verhüllte Anspielung auf seinen Vorgänger als ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk. In letzter Zeit hat Melnyk Makeievs Arbeit immer wieder kritisiert; Jüngst hieß es bei einem Interview mit der Zeit, Makeiev treibe die Diskussion zu deutschen Waffenlieferungen für die Ukraine nicht weiter. Makeiev hat sich in einem Interview mit t-online verteidigt – und erzählte, er habe Melnyk vor vielen Monaten gebeten, „sich nicht in meine Arbeit einzumischen“.

Doch auch gestern, an dem Tag, an dem die Hunderte von ukrainischen Demonstranten in der Sophienstraße in erster Linie der Opfer des Zweiten Weltkriegs gedenken wollten, kam weitere Kritik von Melnyk: Er sagte dem Redaktionsnetzwerk Deutschland, Makeiev habe sein Erbe „mit Füßen zertrampelt“. Makeiev betont am Dienstag, es sei ihm eine Ehre, sie in Deutschland zu vertreten; er sei stolz darauf, wie die Ukrainer in Berlin am 8. Mai „mit einer Stimme“ gesprochen hätten. Sein Ton klingt aufrichtig – und doch wirken auch diese Worte ein wenig wie eine weitere versteckte Botschaft an seinen Vorgänger in Kiew.