„Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus!“ Das Bekenntnis gehört nach NS-Raub- und Vernichtungskrieg und millionenfachem Judenmord seit 78 Jahren zum Kern des Gedenkens an die Opfer deutscher Gewalt.
Es gilt auch an diesem 8. Mai, dem Tag der Befreiung der Deutschen von ihrem Nationalsozialismus, dem eine Mehrheit lange die Treue gehalten hatte. Es gilt auch im zweiten Jahr des russischen Überfalls auf die Ukraine.
An den historischen Tatsachen hat sich nichts geändert. Die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht in der Nacht vom 8. zum 9. Mai 1945 war in erster Linie der beispiellosen Befreiungstat der Roten Armee zu danken, erreicht unter maximaler Kraftanstrengung der sowjetischen Gesellschaft, bezahlt mit Millionen Toten, Zivilisten wie Soldaten. Keine Familie blieb verschont, nicht nur in Russland.
Nicht nur „die Russen“
Auch Ukrainer, Kasachen, Kirgisen, Usbeken, Armenier, Turkmenen, nicht zuletzt 500.000 sowjetische Juden – Männer und Frauen aus 15 Volksgruppen kämpften in der Sowjetarmee. Die 80.000 Sowjetsoldaten, die allein in den letzten Tagen der Schlacht um Berlin fielen, kamen aus allen Teilen der Sowjetunion.
Die Verkürzung auf „die Russen“ war immer falsch. Der russische Krieg gegen die Ukraine hat das Gedenken gespalten. Das ist tragisch, aber folgerichtig, und wird doch, historisch betrachtet, den Toten nicht gerecht. Sie haben gemeinsam gekämpft.
Den deutschen Erben einer unteilbaren Geschichte steht kein Urteil über das Gedenken der Befreier zu. Für die Befreiten ist es in diesem Jahr besonders schwierig, abseits allen Streits um Waffenlieferungen und Verhandlungsforderungen individuell oder gemeinsam eine Form des Gedenkens zu finden. Das Bedürfnis in der Berliner Bevölkerung, dankbar auf den Tag der Befreiung und die Befreier zu blicken, ist groß. Das war Jahr um Jahr unübersehbar. Ja, es gilt wie eh und je: Dank Euch, Ihr Sowjetsoldaten!
Doch seit einem Jahr scheint die Geschichte auf den Kopf gestellt: Die Mehrheit im einst von Deutschen überfallenen Russland begrüßt den Überfall auf die Ukraine, bestreitet das Recht der Ukraine auf Selbstbestimmung. Erst klang die russische Propaganda von den Faschisten in Kiew absurd. Inzwischen ist klar: Die Mobilisierung der tief sitzenden, mit der Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg gegen Hitlerdeutschland verbundenen Emotionen in der russischen Bevölkerung funktioniert als effektives Mittel zum Stählen der Heimatfront: Die Russen billigen – noch immer – zu mehr als 70 Prozent diesen Krieg, der nicht so heißen darf.
„Der 9. Mai ist für uns alle ein heiliges Datum. Der Sieg über den deutschen Nationalsozialismus war ein großer Meilenstein in der tausendjährigen Geschichte Russlands.“ Mit diesen Sätzen beginnt ein offener Brief, den Gennadi Sjuganow, Chef der Kommunistischen Partei Russlands, im April an den „lieben Wladimir Wladimirowitsch“, also an Präsident Putin, richtete. Die KP ist die zweitstärkste Partei im russischen Parlament, der Duma. Man muss annehmen, dass der Brief die Stimmung erfasst.
Westen „gnadenlos“ gegen Russland
Sjuganow schreibt, die „Vereinigten Staaten und ihre Nato-Komplizen“ führten einen „Vernichtungskrieg gegen uns“; Ziel sei die „Zerstückelung des Landes, die Versklavung der Menschen und die Verwandlung unseres Landes in eine Zone kolonialer Raubzüge“. Der Plan sei, die russische Kultur „gnadenlos“ auszubrennen: „Ihr Hass entlädt sich wütend auf den leidgeprüften Donbass.“ In einer solchen Situation zu verlieren, „bedeutet zu verschwinden“. Die aufgeführte Schicksalslinie reicht von Zar Peter dem Großen, über den Überfall Nazi-Deutschlands bis zur „verräterischen Zerstörung der UdSSR“.
Der Feind Russlands ist demnach derselbe wie seit Jahrhunderten, die Ukraine sein Trojanisches Pferd. Eine solche Logik verlangt, dass sich die bedrängte, gedemütigte Heimat wehren muss – jeder Angriff ist damit berechtigt. Putin ist nicht Hitler, aber die Anklänge zur nationalsozialistischen Propaganda über nationale Schmach und edles Volkstum wecken kaltes Grausen.





