Berlin-Der russische Angriffskrieg in der Ukraine wird in diesem Jahr das beherrschende Thema der jährlichen Gedenkfeiern zum Ende des Zweiten Weltkrieges am 8. und 9. Mai in Berlin sein. Gleichzeitig wollen viele in der Berliner ukrainischen Community nicht, dass der Beitrag ihres Landes zum sowjetischen Sieg vergessen wird.
Im Interview erklärt Anton Dorokh, Mitbegründer des Berliner Ukraine-Vereins Vitsche, warum Feierlichkeiten speziell für die ukrainische Gemeinschaft so wichtig – und welche Veränderungen in der deutschen Erinnerungskultur nach dem Krieg notwendig sind.
An diesem Wochenende plant Ihr Verein verschiedene Veranstaltungen in Berlin, damit die ukrainische Community des Krieges gedenken kann. Gab es schon immer solche Veranstaltungen in Berlin speziell für Ihre Community?
Nicht, dass ich wüsste. Es hat lange Zeit ein großes Problem in Berlin gegeben, dass es keine starke subjektiv ukrainische Gemeinschaft gab. Der russischsprachige Teil der Community hat daher immer mit den Feierlichkeiten der russischen Community mitgemacht, wo ihre ukrainische Identität nicht gesehen und in gewisser Weise ausgelöscht wurde. Jetzt verändert das sich langsam. Aber ich glaube, es ist noch ein langer Weg, bis die ukrainische Gemeinschaft in Berlin völlig unabhängig wird und niemand mehr denkt, dass wir ein Teil Russlands oder eines Ostblocks sind.
Heutzutage wird bei den Feierlichkeiten zum 9. Mai in Moskau die Geschichte des Zweiten Weltkriegs oft sehr nah mit Russland und der modernen russischen Politik in Verbindung gebracht – dazu gehört nun auch der Angriffskrieg in der Ukraine. Was bedeutet das für Ukrainer wie Sie?
Wir leben in sehr postmodernen Zeiten, und unsere Geschichte wird nun gegen uns instrumentalisiert. In Russland geht es am Tag des Sieges nicht mehr um den gemeinsamen Sieg mit uns, sondern um den aktuellen Sieg über uns, über die Ukraine, über die Ukrainer, die alle Nazis sind, wie Putin sagte. Das macht mich natürlich sehr wütend, aber es erscheint mir auch so absurd. Dieses Narrativ wurde uns als Kindern und Jugendlichen in den Kopf gesetzt, aber wir haben es nie ernst genommen, weil wir so was nie erlebt hatten.
Jetzt machen wir durch diese Botschaften die reale Erfahrung von Gewalt gegen uns und unserem Land – durch den Krieg, aber auch durch Diskriminierung. Einigen unserer Freiwilligen, einigen unserer Freunde wurde gesagt, dass ihre Nation nicht existiert und sie eliminiert werden sollten, nur weil sie ukrainische Flaggen tragen und ukrainisch sprechen. Wir können uns nur wehren und zurückschlagen. Die Art und Weise, wie wir das tun, besteht darin, ein starkes Gefühl für unsere eigene Community und Identität zu entwickeln.
Sieht man diese Wahrnehmung von Russland als alleiniger Erbe des sowjetischen Sieges auch in Deutschland?
Auf jeden Fall! Und zwar nicht nur in Deutschland, sondern in der gesamten Europäischen Union. Das ist eine sehr koloniale Sichtweise auf Osteuropa: Polen, Slowaken, Belarussen, Ukrainer, Russen – sie seien einfach alle gleich. Jetzt ist es an der Zeit, uns zu fragen: Wem sollten die Rechte an den Denkmälern in Berlin gehören? Sollte es nur Russland sein? Wie sollten wir diese Rechte aufteilen? Soll es tatsächlich solche Denkmäler geben wie im Treptower Park, wo es um den Triumph des Sieges geht, aber nicht um das Gedenken an die Opfer? Das ist eine unmenschliche Art des Gedenkens.
Was haben Sie über die spezifische Geschichte der Ukraine im Zweiten Weltkrieg gelernt, als Sie in der Ukraine aufwuchsen?
Die Ukraine war im Zweiten Weltkrieg vollständig besetzt, es gab dort Dutzende von Arbeits- und Gefangenenlagern. Die Hälfte der Ostarbeiter, die während des Krieges nach Deutschland gebracht wurden, stammte aus der Ukraine. Ich habe bei meinen persönlichen Nachforschungen viel erfahren, was nicht mit dem übereinstimmt, was mir in der Schule in der Ostukraine beigebracht wurde. Uns wurde nichts über die ukrainische Geschichte erzählt, stattdessen wurde uns immer gesagt, dass alle Republiken der Sowjetunion gelitten haben – aber Russland wurde als Nachfolger der Sowjetunion angesehen. Und so wurde der gesamte Sieg der Sowjetunion Russland zugeschrieben.
Russland hat sich sehr darum bemüht, dass dies so bleibt und dieses Narrativ sogar noch zu verstärken – zum Beispiel durch die Behauptung, die ukrainischen Partisanen und Soldaten, die auf beiden Seiten gekämpft haben, seien alle Nazis gewesen. Das ist falsch, aber das erfahren wir zum Teil erst jetzt, sogar in unseren eigenen Familien: Ich habe zum Beispiel erst letztes Jahr von meiner Großmutter erfahren, dass meine Urgroßmutter bei der Evakuierung ihres Dorfes von einer Nazi-Granate getötet wurde. Es ist also gerade jetzt sehr wichtig für uns, etwas über unsere ausgelöschte Geschichte zu erfahren, nach den fehlenden Teilen zu suchen und unsere eigene Geschichte zu erzählen, aber auf unabhängige Weise.
Seit 2015, nach der Annexion der Krim, ist der 9. Mai in der Ukraine kein Nationalfeiertag mehr und das Ende des Krieges wird offiziell am 8. Mai mit einem Tag der Erinnerung und Versöhnung begangen. Wie oft kommt es aber in der Ukraine noch vor, dass die Menschen den 9. Mai feiern?
Für die ältere Generation, zum Beispiel für meine Oma, ist das immer noch ein wichtiger Tag. Ich kann verstehen, warum, denn sie haben die meiste Zeit ihres Lebens mit diesem Tag im Hinterkopf gelebt. Es gibt immer noch Menschen, die versuchen, jedes Jahr den 9. Mai in der Ukraine zu feiern, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass die Gesellschaft dies tolerieren wird. Dieses Jahr hat alles verändert: Es ist das erste Mal in der Geschichte, dass wir einen vollen Krieg zwischen Russland und der Ukraine als unabhängige Nationen haben. Ich hoffe, dass der 9. Mai für die Ukraine friedlich sein wird und dass Russland dieses Datum nicht als Vorwand nutzt, die Ukraine mit Atomwaffen zu bombardieren oder so etwas. Im Moment können wir uns aber nichts sicher sein.
Warum ist es für die ukrainische Community so wichtig, ihre eigenen Gedenkfeiern für das Kriegsende unabhängig vom 9. Mai abzuhalten?
Dieser Sieg im Zweiten Weltkrieg wurde nun als Sieg über die Ukraine vereinnahmt, wie Putin es jetzt will. Wie können wir etwas feiern, das den Kern der Ideologie darstellt, die versucht, uns zu zerstören? Wir wissen, dass dieses Regime und diese Ideologie irgendwann von selbst fallen werden – aber das hängt davon ab, wie gut wir uns versammeln und wie laut die ganze Welt darüber spricht.
Was muss sich aus Ihrer Perspektive in Deutschland ändern, damit es ein differenzierteres Verständnis für die Sieger des Krieges gibt und dass diese Geschichte nicht nur Russland gehört?
Wir brauchen in Deutschland einen eigenen Gedenkort für die ukrainischen Opfer des Zweiten Weltkriegs, damit wir alle dorthin gehen können, um diesen Menschen zu gedenken und uns wieder mit unserer Geschichte zu verbinden. Die Ukraine ist das drittgrößte Land, was die Zahl der Opfer im Zweiten Weltkrieg angeht, nur Russland und China haben mehr verloren. Und doch gibt es keinen spezifischen Erinnerungspunkt in Berlin für die Ukraine. Am Montag machen wir eine Blumenniederlegung in der Sophienstraße, am Handwerkervereinshaus, wo während des Krieges viele Ukrainer im Zwangsarbeitslager arbeiten mussten. Aber die Gedenktafel dort erwähnt keine Ukrainer, es gibt kein offizielles Mahnmal – und doch ist dies das Beste, was wir im Moment haben. Die Gedenkstätten, die wir bereits haben, sollten auch entkolonialisiert werden – es sollte keine Waffen im Tiergarten geben, zum Beispiel. Dieser Sieg gehört so vielen Menschen, und es ist komplett unpassend, wie er all die Jahre Russland zugeschrieben wurde.
Die Frage der historischen Verantwortung Deutschlands gegenüber Russland ist während und im Vorfeld des aktuellen Krieges viel diskutiert worden. Hat Deutschland eine Verantwortung, auch andere postsowjetische Gemeinschaften bei ihrer Erinnerung an den Krieg zu unterstützen?






