Analyse

So war Wladimir Putins Rede am 9. Mai in Moskau: Nur ein Panzer wurde präsentiert

Die Feierlichkeiten zum 9. Mai in Moskau fielen bescheiden aus. Die Gründe sind profan. Putins Rede ließ tiefe Einblicke zu. Die Analyse danach.

Wladimir Putin am 9. Mai 2023 in Moskau
Wladimir Putin am 9. Mai 2023 in MoskauPool Sputnik Kremlin/AP

Mit großer Anspannung wurde die Rede des russischen Präsidenten Wladimir Putin anlässlich der traditionellen Feierlichkeiten am Roten Platz erwartet. Nicht wenige Beobachter befürchteten einen rhetorischen Rundumschlag, gefolgt von einer massiven Eskalation der Kriegshandlungen bis hin zum Einsatz taktischer Atomwaffen. Die große Eskalation blieb freilich aus. Doch der endgültig abgeblätterte Prunk der Siegesparade wusste zu überraschen.

Eine unerwartet kleine Siegesparade

Bei den Siegesparaden in Moskau schien in den vergangenen Jahren das olympische Motto „Schneller, höher, stärker“ den inoffiziellen Marschtakt vorzugeben. Denn die Militärparaden wurden von Jahr zu Jahr größer, ausgefallener und prunkvoller. Die gesamte militärische Macht Russlands inklusive allerneuester technologischer Entwicklungen sollte der staunenden Welt unverhüllt demonstriert werden.

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Zum Autor
Dr. Alexander Dubowy ist Politik- und Risikoanalyst sowie Forscher zu internationalen Beziehungen und Sicherheitspolitik mit Schwerpunkt auf Osteuropa, Russland und GUS-Raum. Er ist Mitarbeiter der Berliner Zeitung am Wochenende.

Bereits die Siegesparade vom 9. Mai 2022 grenzte sich deutlich von den Feierlichkeiten der Vergangenheit ab, doch umso mehr die Siegesparade des Jahres 2023. Im vergangenen Jahr hat Moskau nicht nur älteres Militärequipment eingesetzt, sondern auch wesentlich weniger Bodentruppen aufmarschieren lassen, als dies bei vergleichbaren Siegesparaden der Fall war; selbst der stets aufwendige Luftshowteil der Militärparade wurde unerwartet aus Witterungsgründen abgesagt. Im Jahr 2023 wurde nicht nur die Flugshow abgesagt, es kam so gut wie keine Technik zum Einsatz, dem staunenden Publikum ist nur ein (!) Kampfpanzer stolz präsentiert worden.

Während einige russische Oppositionelle, wie beispielsweise der langjährige Wegbegleiter Aleksej Nawalnys Leonid Wolkow, in den seit 2022 laufenden Säuberungen in den Reihen russischer Streitkräfte einen wesentlichen Grund für die Absage der Luftshow und die deutlich kleinere Dimensionierung der Parade erblicken, dürften die eigentlichen Gründe deutlich profaner sein. Zum einen werden aktuell die Ausrüstung sowie die Truppen dringend für den Kriegseinsatz gegen die Ukraine gebraucht. Und zum anderen scheint die internationale Dimension der Feierlichkeiten der russischen Führung gleichgültig geworden zu sein. In den Jahren 2022 und 2023 richten sich die Feierlichkeiten nicht an das internationale Publikum, sondern ausschließlich an die russische Bevölkerung.

Die verbitterte Ratlosigkeit Wladimir Putins

Dafür, dass die Rede Putins vor dem Hintergrund eines brutalen Krieges stattfand, war diese erstaunlich gewöhnlich und wusste durch nichts Originelles oder auch nur Neues zu überraschen. Im Grunde genommen war das von Wladimir Putin Gesagte in dieser oder sehr ähnlicher Form bereits mehrfach, auch in deutlich aggressiverer Form, verlautbart worden. Der russische Präsident wirkte wenig angriffslustig, lustlos, kränklich und erweckte streckenweise einen ratlosen Eindruck.

Die Eskalation genauso wie die Verkündung eines Teilerfolges der russischen Spezialmilitäroperation blieben aus. Nur zu offensichtlich konnten selbst die einst hochgefeierten Polittechnologen und Spindoktoren des Kremls aus dem militärischen Vorankommen Russlands in der Ukraine keine mehrheitsfähige Siegesmeldung ableiten. So verkam die Rede Putins im Wesentlichen zu einer erneuten Abrechnung mit dem Westen.

Wie zur Zeit des Zweiten Weltkrieges stehe die Welt erneut vor einem Wendepunkt, polterte Putin. Wie damals werde auch heute gegen Russland ein „echter Krieg“ geführt. Doch so wie das russische Volk sich gegen den internationalen Terrorismus zu wehren wüsste, werde Moskau auch dieses Mal die Bevölkerung des Donbass zu verteidigen wissen.

Doch ungeachtet des Krieges kenne Russland keine feindlichen Völker und strebe nach Frieden, Wohlstand, Stabilität und einer gerechten Welt für alle. Die globalistischen Westeliten verabscheuen „traditionelle Familienwerte“, haben ein weltweites System des Raubes, der Gewalt und der Unterdrückung geschaffen, unterstützen das „neonazistische Regime“ in der Ukraine, seien in einem „neuen Kreuzzug“ und versuchen Russland, die „multipolare Welt“ sowie das gesamte Völkerrecht zu zerstören.

Das ukrainische Volk sei zum Opfer westlicher Intrigen geworden, zur Geisel eines „Staatsstreiches“ und zur Spielmasse seiner „westlichen Herren“. Russland werde aus diesem Krieg siegreich hervorgehen. Denn der Kampf für die eigene Freiheit in Zeiten größter Gefahr sei stets die Grundlage des Handelns der russischen Bevölkerung gewesen – im Großen Vaterländischen Krieg, genauso wie auch heute. Die „heldenhaften Teilnehmer“ der „Spezialmilitäroperation“ sollen wissen, dass das gesamte russische Volk hinter ihnen stehe, ihnen nach Kräften helfe und für sie bete. Die „glorreichen Vorfahren“, wie Peter der Große, weisen Russland heute den Weg in die Zukunft.

Selbstredend durfte auch die obligatorische gedankliche Brücke zwischen dem Kampf sowjetischer Soldaten im Großen Vaterländischen Krieg (Kampf der Sowjetunion gegen Deutschland 1941–1945) und der sogenannten Spezialmilitäroperation in der Ukraine keinesfalls fehlen. Auf diese Weise sollte der Einsatz russischer Streitkräfte in den Augen der russischen Bevölkerung als Befreiungs- und Überlebenskampf legitimiert werden. Schließlich sollte die Bemerkung Putins über einen „echten Krieg“ gegen Russland keinesfalls verunsichern. Denn das russische Regime wähnt sich rhetorisch seit vielen Monaten im Krieg gegen den gesamten Westen; die Ukraine erscheint dabei lediglich als das unmittelbare Schlachtfeld.

Insgesamt bieten Putins Ausführungen einen präzisen Blick in die kafkaesken – vom rational-objektiven Standpunkt – unergründlichen Untiefen der politisch-strategischen Erfahrungswelten des Kremls. Wenig überraschend erscheinen indessen die nur zu offensichtlichen Parallelen zur Gedankenwelt Nikolaj Patruschews, der mutmaßlichen ideologischen „Grauen Eminenz des Kremls“. Die russischen Eliten sind wohl endgültig in Erfahrungswelten eingezogen, die uns – glücklicherweise – zu betreten nicht vergönnt sind.

Keine Deeskalation zu erwarten

Das Ausbleiben großer Ankündigungen (Mobilmachung, Kriegszustand) hängt wohl in erster Linie damit zusammen, dass Putins Worte eine innenpolitische Zielsetzung zu erfüllen hatten. Wladimir Putins Rede wollte bei der russischen Zuhörerschaft den Eindruck der Scheinnormalität erwecken sowie den Beweis für die volle Handlungs- und Kontrollfähigkeit der Staatsführung sowohl über die Entwicklungen in Russland als auch über die sogenannte Spezialmilitäroperation liefern.

Obwohl die vom Westen befürchtete Eskalation ausblieb: Von Beschwichtigungen oder gar einer Deeskalation kann freilich nicht die Rede sein. Mit seiner Rede gelang es Wladimir Putin, sich zum wiederholten Male viele Entscheidungsfreiräume zu verschaffen. Dass er sich zu keinen großen Ankündigungen verleiten ließ, ermöglicht ihm die Definitionshoheit über Sieg und Niederlage beizubehalten. Doch ein baldiges Ende des Krieges ist nicht zu erwarten.

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