Russland

Warum ich für Russia Today gearbeitet und wieder aufgehört habe

Thomas Fasbender war Mitarbeiter bei Russia Today in Deutschland. Er ging bei seinen Freiheiten bis an die Grenzen – bis es nicht mehr ging. Ein Gastbeitrag.

Blick auf den Roten Platz und den Kreml in Moskau.
Blick auf den Roten Platz und den Kreml in Moskau.Jens Kalaene/dpa-Zentralbild/dpa

Ich sollte zunächst erzählen, warum ich für Russia Today (RT) gearbeitet habe. Im Mai 1992 bin ich nach Moskau gezogen und geblieben, 23 Jahre lang bis 2015. Zuerst als Manager in einem multinationalen Unternehmen, später als Unternehmer, schließlich als Buchautor.

Was als Liebe auf den ersten Blick begann, wuchs zu einer Ehe mit Höhen und Tiefen – von den Tiefen keine so tief wie derzeit. Liebe zu einem Land; eine Wahlheimat ist wie ein Ehepartner.

Aber Liebe bedeutet auch, die hässlichen Seiten auszuhalten. Ich habe die „demokratischen“ Neunziger erlebt (froh über den Volvo mit Chauffeur und die Dienstwohnung) und ab 2000 ein alt-neues Russland, zunehmend autoritär, in Teilen revisionistisch. Spätestens nach Michail Chodorkowskis Verhaftung 2003 war unübersehbar, dass Russland den Westen enttäuschen wird. Die Liebe hat standgehalten, aber sie war nie blind. Ich kenne die falschen Narrative, die Propaganda, die potemkinschen Täuschungen. Genauso die realen Interessen, die wahren Gefühle, Befindlichkeiten und Empfindlichkeiten. Die Mentalität.

Anderssein Rechnung tragen

Mein erstes Russlandbuch, 2009 geschrieben und 2014 erschienen, trägt den Untertitel: „Russlands Weg und die Illusionen des Westens“. Vor allem aber trägt es den Titel „Freiheit statt Demokratie“. Sakrileg! Wie ich so etwas behaupten könnte, hielt mir der damalige Europa-Abgeordnete Elmar Brok bei einer Veranstaltung empört vor: Freiheit und Demokratie seien identisch, ein und dasselbe.

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Foto: privat
Zum Autor
Thomas Fasbender, Jg. 1957, aufgewachsen in Hamburg. Ausbildung zum Industriekaufmann, Philosophiestudium mit Promotion, Volontariat und Redakteur bei einer bayerischen Tageszeitung. Vorstandsassistent in einem energietechnischen Konzern. 1992 Umzug nach Moskau, Restrukturierung sowjetischer Joint Ventures, Geschäftsführer einer russischen Tochtergesellschaft. Nach 1999 selbstständig, u.a. Gründer und Geschäftsführer einer Moskauer Gesellschaft für Fuhrparkverwaltung. Seit 2010 wieder journalistisch tätig, 2015 Rückkehr nach Deutschland. Verheiratet, fünf Kinder, lebt in Berlin. Autor von „Freiheit statt Demokratie. Russlands Weg und die Illusionen des Westens“ (2014), „Kinderlieb“ (2016), „Wladimir Putin. Eine politische Biographie“ (2022) und „Das unheimliche Jahrhundert“ (2022).

Da ist es: das Verweigern der Möglichkeit des Andersseins. Hätte Elmar Brok den Titel nach der Lektüre des Buches besser verstanden? Ich bezweifle es. Wer sich Freiheit nur in Gestalt demokratischer Praxis vorstellen kann, wird Russland nie verstehen. Von dieser Unfähigkeit hat schon Winston Churchill gesprochen, 1939, in seinem geflügelten Wort von Rätsel, Mysterium und Geheimnis. Was die Zitatensammlungen verschweigen, ist der Nachsatz des klugen Mannes. Er hat Russland sehr wohl entschlüsselt, und zwar über das nationale Interesse. Die Tragik ist, dass der europäische Friede, von dessen Möglichkeit Michail Gorbatschow uns überzeugt hatte, an der Unfähigkeit gescheitert ist, dem Anderssein der Anderen Rechnung zu tragen.

„Freiheit statt Demokratie“

Ich höre schon: Unsinn. Das expansionistische, revanchistische, imperialistische Russland ist schuld. Und von der anderen Seite: die übergriffige Nato, das zerstörerisch-gefräßige liberale Imperium. Und so fort. Bis am Ende Blut und Eisen entscheidet.

Mag sein, es ist mein Karma, den Menschen im Klein-Klein der Überzeugungsarbeit das russische Anderssein näherzubringen. Das hat mit „Freiheit statt Demokratie“ begonnen, und es bleibt nicht ohne Wirkung. Natürlich sind die Bastionen des Mainstreams und der staatsnahen Medien, dort, wo man in Kriterien von Fortschritt und Rückständigkeit denkt, unüberwindbar. Aber dieser Teil der öffentlichen Meinung, sagen wir das stubenreine Denken, beherrscht nur noch die Hügel, verschanzt hinter den stolzen Zinnen des Juste Milieu und der korrekten Meinung. In den Tälern schwindet seine Macht. Dort tummelt sich zwar allerhand Gelichter und nicht nur stubenreines Volk. Aber es ist in den Tälern, wo man arbeiten kann und muss. Dort war auch RT zu Hause, auch nicht immer stubenrein.

Ständig kamen Vorwürfe

Wer die Kontaktschuld scheut, auf seinen Ruf hält und sich nicht schmutzig machen will, bleibt hinter den hohen Zinnen. Mein Ort ist das nicht. Das Verbotene ist so viel interessanter, erst recht das verbotene Denken. Ich mache mich ohnehin nie gemein, nicht mit denen auf den Hügeln und nicht mit denen im Tal. Daher habe ich auch nicht gezögert, als RT mir 2018 zwei gemeinsame Formate anbot. Gute Freunde haben mich gewarnt; ich sollte besser vorsichtig sein. RT war damals schon Feindsender. Doch darum ging es mir ja: den eigenen, westlichen Anteil an dieser Feindschaft herauszuarbeiten, die Balken im eigenen Auge zu beleuchten, die eigene Falschheit, die eigene Doppelmoral.

Das Moskau-Büro des TV-Senders Russia Today
Das Moskau-Büro des TV-Senders Russia TodayPavel Golovkin/picture alliance

Das Ergebnis waren ein Gesprächsformat und wöchentliche Videokommentare von je acht Minuten, sarkastisch-ironisch, mitunter auch polemisch. Bald gab es ein treues Publikum, stets begleitet von Vorwürfen, ich sei zu links, zu rechts oder zu mainstreamig. Mission accomplished.

Nach drei oder vier Wochen schaltete die Redaktion den Kommentaren einen Disclaimer vor: Das hier Gesagte gibt nicht notwendig die Auffassungen von RT wieder etc.

Man wünschte sich wohl keine Kritik an China

Natürlich habe ich den Zuschauern auch russische Sichtweisen nähergebracht. Wobei ich nie Falsches oder Erfundenes verbreitet habe. Truth well told, das alte und immer noch beste PR-Rezept. Ich war frei in der Wahl meiner Themen und Gäste, und nur ein einziges (!) Mal wurde ich gebeten, eine Formulierung zu korrigieren. In einer ironischen Wendung hatte ich von der „gelben Gefahr“ gesprochen – man wünschte sich wohl keine chinesische Kritik.

Schade war, dass die wenigsten Interviewpartner von außerhalb der politischen Ränder kamen. Wenn doch, waren sie beruflich oder finanziell unabhängig, hatten ihre Karriere hinter sich oder besaßen wirklich Charakter. Wen haben wir nicht angefragt? Da hieß es dann oft: Mit Ihnen gerne, Herr Fasbender, aber RT … Sie müssen verstehen. Selbstverständlich verstehe ich. Wir wollen alle leben.

Eine Diskussion mit Ralf Fücks

Es wäre Heuchelei zu behaupten, ich bereute die Zusammenarbeit. 2021 haben wir 30 Interviews mit ausgewanderten Westeuropäern gedreht, auch an ihren russischen Wohnorten, ein unvergessliches Erlebnis. Und noch zehn Tage vor dem russischen Einmarsch war ich mit meinem Sohn und einem RT-Team im ostsibirischen Oimjakon, dem kältesten besiedelten Ort der Welt. Auch menschlich gab es nie etwas auszusetzen, ein junges, internationales Team mit Vertretern aller Kontinente, die Atmosphäre professionell und gut gelaunt.

Und dann der Angriff. Buchstäblich am Vorabend, am 23. Februar, saß ich mit Ralf Fücks, Co-Chef des Zentrums Liberale Moderne, auf dem Podium eines Berliner Salons. Wir führten ein Streitgespräch anlässlich meiner kurz zuvor erschienenen Putin-Biografie. Die Möglichkeit des Krieges stand im Raum, und ein bekannter Journalist fragte, wie viele tote russische Soldaten Putin in Kauf nehmen würde. Meine Antwort: viertausend, maximal das Doppelte. An jenem Abend klang das wie eine astronomische Zahl.

Die Abkehr Russlands von der europäischen Welt

Am darauffolgenden Morgen Schockstarre. Ein Krieg wider alle Vernunft, dazu militärisch aussichtslos: viel zu wenige Soldaten, eine viel zu lange Front. Ein erfolgreicher Blitzkrieg hätte mit der Macht des Faktischen neue Verhältnisse geschaffen, doch statt des Blitzkriegs kam die Abwicklung der petrinischen Wende vor 300 Jahren, die Abkehr Russlands von der europäischen Welt.

Ein von russischen Raketen zerstörtes Auto am 24. Februar 2022 in Mariupol
Ein von russischen Raketen zerstörtes Auto am 24. Februar 2022 in MariupolDarvik Maca Vojtech/imago

Am 4. März 2022 wurde mein letzter RT-Kommentar aufgezeichnet. Die Chefredaktion war vorgewarnt; die Verurteilung des Angriffs war die Bedingung, dass ich vor die Kamera trat: „Der russische Krieg in der Ukraine [gehört] zum Schrecklichsten, was ich in diesen 30 Jahren erlebt habe.

Ich kann ihn nicht verstehen, nicht verteidigen, nicht erklären. Ich bete nur, dass er aufhört. Dieser Krieg ist durch nichts entschuldbar. Auch nicht durch die Kriege der anderen.“ RT hat den Kommentar hochgeladen und erst nach einigen Wochen gelöscht.

Russland kennt nur Hammer

Der Krieg machte den Unterschied; er war die rote Linie, das Tabu. Dieser Angriff hätte nie sein dürfen. Für ein Russland, das einen solchen Krieg führt, ergreife ich nicht Partei. Auch wenn ich Putins Gründe zu kennen glaube – sie können den Krieg nicht rechtfertigen. Natürlich hat der Kreml sich ausbooten lassen in der Ukraine, Schritt für Schritt und 20 Jahre lang. Aber da war er selbst schuld.

Die USA haben ihr Spiel besser gespielt und gewonnen. Zehn Monate vor Kriegsbeginn habe ich einem der Moskauer Chefpropagandisten gesagt, worin das russische Problem liegt: Ihr habt nur einen Hammer, und wer nur einen Hammer hat, sieht überall Nägel. Er hat laut gelacht und sich den Satz aufgeschrieben, aber das war kein Witz. Wenn es um die ex-sowjetischen Nachbarn geht, kennt Russland nur Hammer. Das gehört zum Kapitel hässliche Seiten. Russland ist nicht nur Schwanensee; Russland ist ein Kettenhund, dem man nicht zu nahe kommen will. Wer weiß schon, ob die Kette nicht plötzlich reißt?

Mit dem Ukraine-Krieg bricht auseinander, was niemals zusammengehörte. Gorbatschow und seine westlichen Partner sind einer Illusion aufgesessen. Europa von Lissabon bis Wladiwostok war immer eine Fata Morgana. Es hat nicht sollen sein, und es hat nicht können sein. Es war auch kein Fehler der Deutschen, dass sie in Russland investiert und von dort günstige Energie bezogen haben. Ihr Fehler war zu glauben, die liberale Weltordnung ließe sich ohne böse Konsequenzen bis dicht an die russische Grenze vorschieben, vielleicht sogar darüber hinaus. Wer dem Kettenhund so nahe tritt, muss risikovergessen sein.

Das Schicksal ist ein launischer Platzanweiser

An jenem 4. März nahm ich zuerst noch an, ich würde weitermachen bei RT. Aber ich hatte die Wahrheit gesagt. Ich kann diesen Krieg nicht verstehen, nicht verteidigen, nicht erklären. Ich werde es nicht einmal versuchen. RT war Vergangenheit.

Das Schicksal ist ein launischer Platzanweiser; bisweilen landet man zwischen den Stühlen. Dann wieder gibt es Situationen, da sind das sogar die besten Plätze. Der russische Angriff zwingt zur Parteinahme, so offensichtlich widerrechtlich, so offensichtlich vertragsbrüchig. Doch jede Parteinahme kompromittiert. Wenn die Bomben fallen, geht die Wahrheit als erste mit drauf. Nun ist Neutralität im moralischen Krieg gleichbedeutend mit Fahnenflucht, in jedem Fall ein Verdachtsmoment. Das gilt es, auszuhalten. Mich interessiert, wie es weitergeht. Im Übrigen werde ich nicht müde, für die Realität zu werben, und die Realität diktiert: Russland bleibt, und es hat eine Zukunft. Mein altes Russland, mit dem ich immer noch verheiratet bin. Immer noch ein Stück Europa.

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