Nachdem monatelang zum Thema Nord-Stream-Anschlag bemerkenswert wenig zu hören war, sind in den vergangen Wochen gleich zwei konkurrierende Medienberichte aufgetaucht, um die sich mittlerweile ein Dickicht von Spekulationen rankt. Zeit für einen Versuch, den Dschungel zu lichten und die Geschichten auf ihre Plausibilität zu prüfen.
Zuerst erschien am 8. Februar 2023 der Bericht des Investigativreporters und Pulitzer-Preisträgers Seymour Hersh, der unter Berufung auf eine anonyme Quelle behauptete, die US-Regierung sei für die Anschläge verantwortlich, unterstützt von norwegischem Militär.
Die New York Times, deren Starreporter Hersh einst war, brachte dann am 7. März eine eigene Geschichte, nach der nicht die US-Regierung, sondern eine „pro-ukrainische Gruppe“ die Anschläge durchgeführt haben soll. Die Quellen: auch hier anonym. Die Zeit, in einem Rechercheverbund mit ARD und SWR, veröffentliche parallel zur New York Times eine detailreichere Version, in deren Zentrum ein verdächtiges Segelboot steht und die sich teilweise auf Angaben des Generalbundesanwalts bezieht.
Beginnen wir mit der Segelboot-Geschichte, an der mittlerweile von Militärexperten und Journalisten zahlreiche Ungereimtheiten festgestellt wurden. Schwedische und deutsche Ermittlungsbehörden hatten immer wieder darauf hingewiesen, dass nur ein staatlicher Akteur ernsthaft für die Tat in Betracht kommt. Das Boot und die Umstände wollen zu dem logistischen Aufwand einer komplexen militärischen Operation nicht wirklich passen.
Um Hunderte Kilo Sprengstoff unter Wasser zu platzieren, benötigt man Hebevorrichtungen und Ortungsbojen. Mehrere Tauchgänge mit stundenlangen Arbeiten in 80 Metern Tiefe brauchen extrem lange Dekompressionszeiten von bis zu mehreren Tagen; nur eine Dekompressionskammer, die aber nicht auf das Boot passt, hätte diese Zeiten verkürzen können. Der lange Umweg von Polen über Rostock nach Bornholm ergibt kaum Sinn – und vieles mehr.
Ungewöhnlich viele Spuren
Jenseits dieser logistischen Fragen gibt es auch noch einen anderen kritischen Punkt. Laut Bundesanwaltschaft wurden auf dem Kajütentisch des Segelbootes Spuren eines Explosivstoffes gefunden – das einzige bisher bekannte konkrete Indiz. Warum aber haben die Täter, wenn sie denn in der Lage gewesen seien sollen, eine so anspruchsvolle militärische Operation durchzuführen, nicht einmal das Boot gereinigt?
Holger Stark, Leiter des Ressorts Investigative Recherche bei der Zeit, schrieb dazu: „Offenbar waren die Attentäter unter Druck und hatten nicht ausreichend Zeit, ihre Spuren zu verwischen.“ Der Anschlagsort ist Hunderte Kilometer vom Rostocker Hafen entfernt, wo die Jacht zurückgegeben wurde. Warum sollten die Täter auf dieser langen Reise keine Zeit gehabt haben, ihre Spuren zu verwischen?
Die Untersuchungen der Bundesanwaltschaft fanden außerdem erst im Januar statt, also Monate nach den Anschlägen – Zeit genug, um Spuren zu verwischen oder neue zu legen. Was noch schwerer wiegt: Sprengstofffachleute und Ermittlungsbehörden haben immer wieder darauf hingewiesen, dass für die Zerstörung einer so massiven Struktur aus Beton und Stahl militärischer Unterwassersprengstoff benutzt worden sein muss. Solche Sprengsätze werden nicht am Küchentisch zusammengebaut, sondern sind hochdicht verpackt, sie hinterlassen normalerweise keine Spuren.
Geht es bei den amerikanischen Berichten um eine Täuschungsoperation?
Tatsächlich öffnet die fragwürdige Geschichte der Sprengstoffspuren Raum für eine ganz andere Interpretation. Könnte es sich um eine absichtlich gelegte falsche Fährte handeln, um von den tatsächlichen Tätern abzulenken? Diese Möglichkeit sieht zum Beispiel Jeremy Scahill, einer der renommiertesten investigativen Journalisten der USA und Mitgründer des Nachrichtenmagazins The Intercept. Scahill, dessen Recherchen zu Geheimoperationen bereits mehrere Untersuchungen des US-Kongresses ausgelöst haben, schreibt über die Sprengstoffspuren: „Dies ist entweder Beweis für totale Unprofessionalität oder eine vorsätzlich gelegte ‚Spur‘, die in der Absicht hinterlassen wurde, zu täuschen.“
Wenn es sich um eine Finte handeln sollte, ist die Frage, wer denn eine solche Spur hätte legen können und mit welcher Absicht. Laut New York Times kamen die Hinweise auf die Segelboot-Geschichte von US-Beamten, die sich wiederum auf Geheimdienstquellen stützten. Der Zeitpunkt ist auch nicht unwichtig. Die US-Beamten begannen erst dann, die neue Geschichte zu verbreiten, als der Artikel von Seymour Hersh auf der ganzen Welt Wellen geschlagen hatte, vom deutschen Bundestag bis zum UN-Sicherheitsrat.
Die USA waren unter Druck, zumal auch die Aussagen von Präsident Biden vom Februar 2022, die USA würden den Pipelines ein Ende setzen, rund um den Globus neu bewertet wurden. Scahill schreibt auch, dass die Art, wie die Informationen der New York Times zugespielt wurden, „an andere Bemühungen von anonymen US-Geheimdienstquellen erinnert, ein bestimmtes Narrativ unter dem Deckmantel einer Exklusivmeldung zu lancieren“. In einem Interview fügte er hinzu: „Ich glaube, dass es Elemente innerhalb der US-Geheimdienste gibt, die diese Geschichte verdrehen, (…) entweder um von Hershs Bericht abzulenken oder weil es sich um eine Täuschungsoperation handelt.“
Absichtliche Fehlinformation der Presseorgane durch Geheimdienste?
Scahills Überlegungen werden gestützt durch Steven Aftergood, der von 1991 bis 2021 das Forschungsprogramm zu Geheimoperationen der US-Regierung bei der Federation of American Scientists leitete. Aftergood weist darauf hin, dass die Verbreitung alternativer Narrative mit dem Ziel, eine Operation zu verschleiern, „gängige Praxis bei militärischen Operationen und nachrichtendienstlichen Aktivitäten ist“. Sie werde oft als „Tarnung und Täuschung“ bezeichnet.
Die Übermittlung absichtlicher Fehlinformationen von Geheimdiensten an Presseorgane, die diese dann unkritisch verbreiten, ist leider keine Seltenheit in der US-Geschichte. Der bekannteste Fall ist die Ente zu Massenvernichtungswaffen im Irak. Damals war es die New York Times, die dieser so folgenreichen Lüge der Geheimdienste die Weihe des Qualitätsjournalismus verlieh. Ein Jahr später, nachdem Hunderttausende Menschen im Irak gestorben waren, entschuldigte sich die Times mit den Worten: „Rückblickend hätten wir uns gewünscht, dass wir die Behauptungen aggressiver überprüft hätten.“
Die Finte könnte zum richtigen Täter führen
Von einer aggressiven Überprüfung der Segelboot-Geschichte kann leider im aktuellen Fall auch keine Rede sein. Julian Barnes, einer der Autoren des New-York-Times-Artikels vom 7. März, jubelte im Podcast der Zeitung, sein Team wisse nun, wer für die Anschläge verantwortlich sei – nur um am Ende der Sendung das Gegenteil zu sagen: „Ich sollte klarstellen, dass wir wirklich sehr wenig wissen. Diese Gruppe bleibt mysteriös, auch für die US-Regierungsvertreter, mit denen wir gesprochen haben.“ Und dann fügt er noch einen Satz hinzu, der aufhorchen lässt: Die US-Regierungsvertreter „wissen, dass sie [die Gruppe, Anm. d. Red.] nicht mit der ukrainischen Regierung in Verbindung steht“. Wenn diese Gruppe so mysteriös ist, woher will man dann genau wissen, mit wem sie nicht in Verbindung steht?
Bei näherer Betrachtung zeigt sich die Segelboot-Geschichte im besten Fall als wenig plausibel, im schlechtesten als eine falsche Spur, der einige hochkarätige Medien auf den Leim gegangen sind. Das bedeutet nicht, dass man ihr nicht weiter nachgehen sollte. Es ist durchaus nicht auszuschließen, dass das Boot eine Rolle gespielt hat, wenn auch nicht die angenommene. Selbst wenn es eine Finte ist, könnte sie zum richtigen Täter führen.
Seymour Hersh konnte bislang nicht eindeutig widerlegt werden
Und damit wären wir bei der Konkurrenzgeschichte von Seymour Hersh und der Frage, wie glaubwürdig oder unglaubwürdig sie ist. Die einzige konkrete Kritik an seinen Aussagen jenseits der erwartbaren Dementis von US-Regierung und CIA kommt bisher aus dem Bereich der Open Source Intelligence (OSINT), also von Datensammlern, die frei zugängliche Informationen über den Flug- und Schiffsverkehr auswerten. Der mit Abstand meistzitierte Artikel dazu stammt von dem Dänen Oliver Alexander.
Ein Kernstück von Alexanders Beitrag ist die Behauptung, Hershs Thesen seien unglaubwürdig, weil im fraglichen Zeitraum kein norwegisches Flugzeug vom Typ P-8, das laut Hersh den Trigger für die Bomben abgeworfen haben soll, über dem Schauplatz der Detonationen geortet wurde. Hersh hat immer wieder darauf hingewiesen, dass die Umgehung und Täuschung von OSINT Teil der operativen Planung gewesen und bei solchen Geheimoperationen ohnehin Routine sei. Oliver Alexander stellt in seinem Artikel auch selbst fest, dass bei P-8-Flugzeugen die OSINT-Ortung technisch umgangen werden kann – und entkräftet damit sein eigenes Argument.
Die Geschichte von Seymour Hersh ist bisher weder bewiesen noch widerlegt, und es ist wie in jedem Kriminalfall ratsam, offen für unerwartete Wendungen zu bleiben. Hersh hat aber eine starke Stütze, gewissermaßen eine zweite unabhängige Quelle: die Aussagen der US-Regierung selbst. Am 7. Februar 2022 verkündete Joe Biden in einer Pressekonferenz mit Olaf Scholz im Weißen Haus, dass die USA die Pipeline „beendigen“ würden, falls Russland in der Ukraine einmarschierte.
Nicht nur das Statement selbst war bemerkenswert, sondern auch die Reaktion des Kanzlers und in der Folge fast der gesamten westlichen Medienlandschaft: Schweigen. Hatte nicht gerade ein US-Präsident gesagt, dass er kritische Infrastruktur eines Bündnispartners eigenmächtig ausschalten würde? Hätte dies nicht umgehend eine Diskussion über Fragen staatlicher Souveränität nach sich ziehen müssen?
Eine merkwürdige Reaktion
Selbst nach den Anschlägen fand dieser bemerkenswerte Teil der Pressekonferenz wenig Beachtung. Dabei hätten die USA für jeden unvoreingenommenen Ermittler allein aufgrund dieser Aussagen als Hauptverdächtiger gehandelt werden müssen. Dazu bedurfte es nicht einmal der Bestätigung durch die Unterstaatssekretärin Victoria Nuland, die einst durch ihren Ausspruch „Fuck the EU“ von sich reden machte und nach den Anschlägen bemerkte: „Die US-Regierung ist sehr zufrieden, dass Nord Stream 2 nun ein Haufen Metall am Meeresboden ist“ – eine merkwürdige Reaktion auf einen der schwerwiegendsten Fälle von internationalem Terrorismus in der jüngeren Geschichte.












