Tag der Befreiung

Berlin feiert den 8. Mai: Zwischen Flaggen-Streit und massivem Polizeiaufgebot

Berliner gedenken dem Ende des Hitlerfaschismus. Es gab Streit, für den Dienstag rechnen die Behörden mit noch mehr Konflikten. Ein Report.

Besucher des Sowjetischen Ehrenmals im Treptower Park in Berlin
Besucher des Sowjetischen Ehrenmals im Treptower Park in BerlinMarkus Wächter/Berliner Zeitung

Nino läuft im Treptower Park langsam auf die riesige Statue des Soldaten zu. Er trägt in der einen Hand einen kleinen Strauß roter Nelken und in der anderen einen Bilderrahmen, darauf sind die Gesichter zweier Männer zu erkennen.

Der eine sei sein Großvater, sagt er, Nenad Radojevic, der sich im Jahr 1941 als Partisan im damaligen Jugoslawien meldete. „Da war er 14 Jahre alt.“ Der andere Mann auf dem Bild sei Iwan Resinkin, ein Kasache, der während des Zweiten Weltkriegs in der Roten Armee diente. „Iwan ist der Großvater einer russischen Freundin“, sagt Nino. Er soll heute der beiden Männer gedenken, er wird ihre Porträts und die Blumen am Pavillon des Sowjetischen Ehrenmals niederlegen.

Am 8. Mai 2023 jährt sich die Kapitulation der Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg zum 78. Mal – und zum zweiten Mal stellt sich auch die Frage, wie dieses Ereignis gefeiert werden kann, wenn Krieg in Europa ausgebrochen ist. So gab es tagelang Streit um die Frage, ob Menschen eine ukrainische oder russische Fahne mitbringen dürfen. Doch am Mittag des 8. Mai wehen kein Fahnen im Treptower Park, sondern nur die Blätter der Weidenbäume im Park im Wind. Die strahlende Sonne am wolkenlosen blauen Himmel beleuchtet die zahlreichen Nelken und Rosen, die die Berlinerinnen und Berliner einzeln und in Stille an den Statuen und Gedenktafeln im Park niederlegen.


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Es ist das dritte Mal, dass Nino den 8. Mai in Berlin feiert und dafür aus Kroatien angereist ist. Es ist ihm ein großes persönliches Anliegen; er muss kurz innehalten, als er von seinem Uropa erzählt, er wurde in Auschwitz ermordet. „Ich kenne nur das, was mein Opa mir von dem Krieg erzählt hat“, sagt er. Seine Geschichten erinnern ihn daran, dass Soldaten vieler Nationalitäten zur sowjetischen Armee gehörten – Ukrainer, Russen, Kasachen und viele mehr. „Sie haben alle eine Ehrung verdient, egal wo sie herkamen.“ Seine Freundin Sumy stimmt ihm zu. „Das Erinnern an dem Zweiten Weltkrieg muss von dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine getrennt angesehen werden“, sagt sie. „Es geht heute um die Ehre für die Helden von damals, nicht um den Krieg von heute.“

Vom Gedenken an die Befreiung zu Sanktionen von heute

Eine Perspektive, die Gregor Gysi (Die Linke) offenbar nicht teilt; das wird in seiner Rede deutlich, die er am Nachmittag im Rahmen der Gedenkveranstaltung des Bunds der Antifaschistinnen und Antifaschisten im Treptower Park hält. Er thematisiert vor allem die Kritik an den Sanktionen gegen Russland, an der Nato und der Ausrüstung der Bundeswehr.

Doch ansonsten prägt der Krieg die Stimmung am Tag der Befreiung nicht so deutlich wie vor einem Jahr. Es bleibt besinnlich auf dem Gelände des Treptower Parks, wo sich die Gräber von 7000 Sowjetsoldaten befinden. 

Auch am Sowjetischen Ehrenmal im Tiergarten ist im Vergleich zum vergangenen Jahr wenig los. Damals legte der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk dort einen Blumenkranz nieder unter großen Begleitung aus der Politik und der Polizei; es war nur elf Wochen nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine, nun sind es 63 Wochen. Begrüßt wurde Melnyk damals von vielen Ukrainern, die für eine Stunde ihre Fahne wehen durften, aber auch von Gegendemonstranten, die „Melnyk raus!“ skandalierten.

Die Szene am gleichen Ort ein Jahr später könnte kaum unterschiedlicher sein: Mal schauen sich um die 50 Personen lose verteilt auf den Betonplatten der Gedenkstätte um, die meiste Zeit sind es noch weniger. Gegen 13 Uhr sind beispielsweise wesentlich mehr Polizeibeamte als Besucher vor Ort.

Der Flaggen-Streit zwischen Polizei und Gericht

Komplett ohne Zwischenfälle ist die Szene am Ehrenmal allerdings nicht; auch hier taucht der Flaggen-Streit wieder auf. Die Berliner Polizei wollte die Entscheidung des Verwaltungsgerichts – auch russische Fahnen auf den Sowjetischen Gedenkstätten zu erlauben – offenbar nicht hinnehmen: Vor dem Eingang der Gedenkstätten stehen Beamte im Spalier, begutachten Menschen, verweigern ihnen den Zutritt, wenn sie Symboliken wie die russische Fahne, Putin-Shirts oder das orange-schwarze Sankt-Georgs-Band mit sich tragen. Am Montagnachmittag entscheidet das Oberverwaltungsgericht final: Russische Fahnen und weitere sowjetische Symbole werden am 9. Mai doch verboten.

Der russische Botschafter nannte das Verbot in einer Stellungnahme „unmoralisch und inakzeptabel“. Man fordere die „vollständige Abschaffung der entsprechenden Verbote“ und erlebe, „wie in Europa die Nazis und ihre Handlanger in den Rang von Nationalhelden erhoben werden“, während die Leistung der Roten Armee diskreditiert werde.

Einmal ist ein älterer Mann mit einer großen blau-weiß-roten Flagge samt rotem Stern in der Mitte auf das Gelände der Gedenkstätte zugelaufen. Polizeibeamte begutachten die Fahne, es ist die Flagge des ehemaligen Jugoslawiens. Während der Mann die erste Polizeikontrolle noch passiert, stoppen ihn Polizisten am Geländeeingang und befragen ihn. „Was wollen sie hier mit der Jugoslawien-Flagge“, fragt ein Polizist den Herren. Der Mann verweist darauf, dass diese Fahne nicht verboten sei. Er wirkt aufgebracht.

Polizisten patrouillieren rund um das Sowjetische Ehrenmal am Treptower Park.
Polizisten patrouillieren rund um das Sowjetische Ehrenmal am Treptower Park.Markus Wächter/Berliner Zeitung

Ein Polizist sagt der Berliner Zeitung, man wolle schauen, ob eine Provokation zugrunde liege. „Von weitem könnte man meinen, es sei eine Russland-Flagge und die könnte Ukrainer provozieren“, sagt er. Nach einer Ansprache der Polizeibeamten geht der Mann wieder Richtung Brandenburger Tor, der Zutritt zum Ehrenmal wird ihm mit der Flagge verwehrt. Eine Dame mit blau-gelben Armbändern ruft dem Mann hinterher: „Hau ab von hier!“

Diese Demos und Veranstaltungen gibt es am 8. und 9. Mai in Berlin

Von Andreas Kopietz, Elizabeth Rushton

05.05.2022

Im Vergleich zum vergangenen Jahr ist das Gedenken an die Befreiung vom Hitlerfaschismus unpolitischer. Eine Familie aus Ahrensfelde legt derweil wie jedes Jahr in Tiergarten eine Strauß Blumen nieder, an die T-34-Panzer stecken sie rote Nelken an. Am frühen Nachmittag zieht die Berliner Polizei einen Großteil der Mannschaftswagen ab, die Lage bleibt auch bis Redaktionsschluss sehr friedvoll.

Eine rote Flagge vor dem Ehrenmal
Eine rote Flagge vor dem EhrenmalMarkus Wächter/Berliner Zeitung

Wird der 9. Mai konfliktreicher als der 8. Mai?

Im Vorfeld des 8. und 9. Mai hat die Berliner Polizei verstärkt mit Spannungen wegen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine gerechnet. Über 1500 Beamte sind deshalb im Einsatz. An dem Tag wird das Ende des Zweiten Weltkrieges in Russland sowie in mehreren anderen ehemaligen Sowjetrepubliken, als „Tag des Sieges“ gefeiert.

Im Treptower Park blickt auch Lisa Wolfson von dem Verein Demokrati-Ja sorgenvoll auf den Dienstag. „Ich mache mir Sorgen, dass wir morgen mit vielen aggressiven Putin-Fans zu tun haben werden“, sagt sie. In ihrem Verein versammeln sich viele Putin-kritische Russen. Sie haben in einer schattigen Ecke des Treptower Parks eine Ausstellung aufgebaut: eine Liste der Verbrechen des sowjetischen und russischen Regimes.

Wolfson sagt, bisher habe es keine negativen Reaktionen auf die Ausstellung gegeben. Man wolle mit der Aktion ein „differenziertes Gedenken“ an das Erbe der Sowjetunion ermöglichen. „Putin hat das Gedenken an den Zweiten Weltkrieg manipuliert, um seinen Krieg in der Ukraine zu rechtfertigen“, sagt sie. „Ohne Solidarität mit der Ukraine ist kein Gedenken an den Zweiten Weltkrieg möglich.“

Der ukrainische Botschafter in Deutschland, Oleksii Makeiev, hatte angekündigt, nicht an Gedenkveranstaltungen an sowjetischen Denkmälern teilzunehmen. Er legte am Montagmorgen zusammen mit Staatsminister im Auswärtigen Amt, Tobias Lindner (Grünen), und dem Regierenden Bürgermeister von Berlin, Kai Wegner (CDU), einen Blumenkranz an der Neuen Wache nieder; danach folgte ein Besuch der Graffitis von ukrainischen Soldaten der Roten Armee im Reichstagsgebäude. Am Abend schließt er sich einem Gedenkmarsch des ukrainischen Vereins Vitsche von der Kulturbrauerei bis in die Sophienstraße an.

Derweil hat der russische Botschafter in Deutschland, Sergei Netschajew gemeinsam mit den Botschaftern von Belarus und Armenien am dritten Ehrenmal Berlins – in der Schönholzer Heide – mehrere Kränze niedergelegt. Üblicherweise finden Kranzniederlegungen von offiziellen Vertretern aus Russland und Belarus stets am 9. Mai statt. Am Dienstag werden sie am größten Sowjetischen Ehrenmal in Berlin am Treptower Park erwartet.

Gemäß der russischen Tradition wird am Dienstag das „Unsterbliche Regiment“ – ein Marsch mit den Porträts von Vorfahren, die im Zweiten Weltkrieg dienten – ab dem Brandenburger Tor losziehen; die Putin-treuen „Nachtwölfe“, ein Rocker-Club, werden auch erwartet. Die Sicherheitsbehörden erwarten am 9. Mai „mehr Menschen und mehr potenzielle Konfliktmomente“.