8./9.Mai

Warum ich mir den Tag des Sieges von Putin nicht nehmen lasse

Am 9. Mai erinnert unser Autor an den Sieg der Sowjetunion über den Faschismus. Natürlich auch in diesem Jahr! Nicht nur, weil es um seinen Uropa geht.

Der Uropa unseres Autors fiel 1943 als Sowjetsoldat. Der Enkel gedenkt in Berlin-Treptow. (Symbolbild)
Der Uropa unseres Autors fiel 1943 als Sowjetsoldat. Der Enkel gedenkt in Berlin-Treptow. (Symbolbild)imago stock&people

Viele Menschen mit Vorfahren aus ehemaligen Sowjetrepubliken haben sich in den letzten Tagen und Wochen eine Frage gestellt. Wie gehe ich dieses Jahr mit dem 9. Mai um? Schließlich lässt sich die Geschichte durch den russischen Angriff auf die Ukraine in ein vor und nach dem 24. Februar teilen.

Auch ich habe mich das gefragt. Mein Uropa war Rotarmist und ist im Zweiten Weltkrieg gefallen. Für den Sieg der Alliierten über den Nationalsozialismus. Ich habe den Tag des Sieges gefeiert, solange ich denken kann. Nicht nur in Berlin, meiner Heimatstadt, im Treptower Park, an dem ich aufgewachsen bin. Sondern auch in Minsk, der Heimatstadt meines Vaters, in Sankt Petersburg und in Vilnius, wo ich studiert habe.

In Minsk und Sankt Petersburg fühlte sich der Tag an wie eine Art Open-Air-Festival. Restaurants und Hotels waren Wochen zuvor ausgebucht, die Städte voller Touristen aus den umliegenden Provinzen. Für viele Menschen in Belarus und Russland sind die Maifeiertage (zu denen auch der Tag der Arbeit am 1. Mai zählt) inoffizieller Start der Sommermonate.

Auch wenn es in Sankt Petersburg, wo ich den 9. Mai 2018 beging, am nächsten Tag schneite. Nach großen, staatlich organisierten Paraden, Straßenfesten und Konzerten endete der Tag in Belarus und Russland mit Feuerwerk, das noch größer war als das zum Jahreswechsel.

In Vilnius war es still. In Litauen wird die Zeit zwischen Ende des Zweiten Weltkriegs und dem der Sowjetunion als Fremdherrschaft gesehen, der 9. Mai ist für die meisten dort kein Tag der Sieges.

Familienfest mit Wodka: Auf den Uropa!

Für mich war der 9. Mai aber bisher vor allem ein Tag der Familie. Wir wohnten nur fünf Fußminuten vom Sowjetischen Ehrenmal in Treptow entfernt, als ich ein Kind war. Die Menschenmassen, die am Tag des Sieges über unsere Gegend hereinbrachen, mieden meine Eltern und ich zumindest am Vormittag noch.

Dafür wurde üppiger als sonst aufgedeckt. Es gab mal osteuropäische Küche, mal etwas anderes. Meine Mutter ist in Ost-Berlin aufgewachsen, mein Vater stammt aus Belarus. Egal, was es zu essen gab, es war klar, was getrunken wurde: Wodka, um oft anzustoßen. Typisch für diesen Tag waren die Toasts auf die gefallenen Vorfahren meines Vaters, auf die Großeltern, den Frieden, die Liebe und die Zukunft.

Am Nachmittag brachen wir zum Spaziergang zum Ehrenmal auf. Das Wetter war in meiner Erinnerung immer schön. Je näher uns die Füße zum imposanten Triumphbogen trugen, desto mehr andere Menschen sahen wir zur Gedenkstätte pilgern.

In den letzten Jahren versammelte sich eine friedliche, bunte Menge: Familien aus Russland, der Ukraine, Belarus, Kasachstan, Russlanddeutsche, Alt- und Junglinke, ehemalige NVA-Soldaten, zum Teil in den alten Uniformen, Kommunisten, Touristen, die einfach in den „Trepi“ wollten und nicht verstanden, in welchen Tag sie geraten waren.

Unsere erste rote Nelke, die gängige Blume zum Tag des Sieges, wurde an der Mutter-Heimat-Statue abgelegt. Eine Statue, die konträr zu dem sowjetischen Triumphalismus in der Erinnerung an den Weltkrieg steht. Die nächsten Schritte entlang der Birkenallee, dann der Blick über das Areal der Gedenkstätte. Ich musste immer kurz innehalten. Vor den zwei knieenden sowjetischen Soldaten die nächste Möglichkeit, Nelken abzulegen. Die meisten machen hier ihre Erinnerungsfotos. Es gibt einfach das beste Panorama als Hintergrund.

Besucher des Sowjetischen Ehrenmals gedenken das Ende des Zweiten Weltkriegs.
Besucher des Sowjetischen Ehrenmals gedenken das Ende des Zweiten Weltkriegs.Berliner Zeitung/Paulus Ponizak

Meine Urgroßmutter wusste, dass sie nun Witwe war

Wir liefen weiter, die lange Schlange zur Krypta wurde von unserer dreiköpfigen Gruppe meist ignoriert. Zu viel Trubel. Wir konnten das Ehrenmal an jedem Tag besuchen, wir wohnten ja um die Ecke.

Der Spaziergang am 9. Mai war trotzdem wichtig. Und meine Art, meines belarussischen Urgroßvaters zu gedenken. Er fiel im Dezember 1942 im Kaukasus. Immer wieder hat mir meine belarussische Oma die Geschichte ihres Vaters erzählt. Er starb in der Region Stawropol. Die Nachricht von seinem Tod erreichte seine Frau und Kinder in einem dreieckigen Brief der Roten Armee. Mein Urgroßmutter wusste, bevor sie ihn öffnete, dass sie nun Witwe war.

Im belarussischen Provinzdorf meiner Vorfahren kamen bis 1945 viele solcher dreieckigen Briefe an. Mein Urgroßvater, Andrei Fedosowitsch Iwaschkow, wurde 35 Jahre alt. Er hinterließ zwei Töchter und einen Sohn.

Die Erinnerung an meinen Uropa war in der Familie zweigeteilt. Einerseits bekam der 9. Mai dadurch, dass die Familie ein Kriegsopfer zu beklagen hatte, einen persönlichen Charakter. Da sein Grab jedoch im über 1600 Kilometer entfernten Kaukasus lag, wurden die roten Nelken für ihn auf dem Siegesplatz von Minsk gelegt.

Dort ähnelte vieles einer typischen kollektiven Gedenkveranstaltung von Sowjet-Belarussen. Praktisch jede belarussische Familie hat mindestens ein Kriegsopfer zu beklagen. Für meine Verwandten war der 9. Mai ein Tag der gemischten Gefühle. Da waren Trauer und Schmerz auf der einen Seite. Und der Jubel über den großen Sieg auf der anderen.

Wir Deutschen tragen Verantwortung

Ich lasse mir auch aus meinem gesellschaftspolitischen Bewusstsein den 9. Mai nicht von Putin nehmen. Russlands Propaganda versucht, den Zweiten Weltkrieg zu vereinnahmen, den Angriff auf die Ukraine zu einer Fortführung des Kampfs gegen den Faschismus zu verklären. Auch bei einigen Deutschen verfängt diese Rhetorik. Das dürfen wir auf keinen Fall zulassen.

Zugleich dürfen wir nie vergessen, dass wir Deutsche die Verantwortung tragen für den Tod von mehr als 27 Millionen sowjetischen Soldaten und Zivilisten. Ich habe nicht nur belarussische Vorfahren, sondern auch deutsche.

In den Gräbern des Treptower Parks liegen 7200 Rotarmisten; sie kamen aus der Ukraine, Belarus, Russland, dem Kaukasus, Zentralasien und weiteren Gebieten der Sowjetunion. In den letzten Schlachten vor der Befreiung Berlins ließen vor allem Soldaten der Ersten und Zweiten Belarussischen Front sowie der Ersten Ukrainischen Front ihr Leben.

Der 9. Mai ist kein rein russischer Feiertag. Ich habe nicht vor, ihn in Berlin russischen Nationalisten und Kriegsbefürwortern zu überlassen. Als der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk vor kurzem die Schmierereien am Ehrenmal in Treptow verurteilte, sagte er, dass dieser Ort „auch für Ukrainer heilig ist“. Für mich ist er es auch. Vor allem an diesem Tag.