Bevor die Veranstaltung beginnt, werden den Besuchern erst mal ein paar Regeln genannt. „Bitte fassen Sie sich kurz“, sagt die Moderatorin zu ihrem Publikum, etwa hundert überwiegend älteren Pankowern. „Bitte bleiben Sie sachlich, freundlich und respektvoll und warten Sie, bis Sie drankommen“, sagt sie. Und am wichtigsten: „Wer sich rechtsextrem äußert, wird von der Versammlung ausgeschlossen.“
Es scheint wichtig zu sein, dass die Moderatorin diesen letzten Punkt noch einmal betont. Sogar eine eigene Folie in der Powerpoint-Präsentation hat sie dafür vorbereitet. Sie verweist darin auf das Versammlungsgesetz. Offenbar befürchten die Organisatoren eine Eskalation bei dieser Bürgerversammlung im Pankower Ortsteil Buch, einen Ausbruch rechter Ideologie unter Berliner Rentnerinnen und Rentnern.
Wie geht es weiter mit der Aufnahmeeinrichtung in der Groscurthstraße? Das ist das Thema dieses Abends, zu dem nicht nur Vertreter der Berliner Polizei und des Landesamts für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) gekommen sind, sondern auch die neue Bezirksbürgermeisterin von Pankow, Cordelia Koch (Grüne), außerdem der Sozial-Staatssekretär Aziz Bozkurt (SPD). Es geht um das sogenannte Tempohome in Buch, ganz im Nordosten von Berlin. Eine Flüchtlingsunterkunft aus Containern für insgesamt 580 Personen.

16 Prozent aller Flüchtlinge sind in Pankow
Eigentlich wurde die Unterkunft im September 2020 geschlossen, um einem neu zu bauenden Schulgebäude zu weichen. Doch gebaut wurde nicht, stattdessen zog im Mai 2021 ein Corona-Testzentrum in die Container ein. Und als die Flüchtlingszahlen wieder stiegen, da eröffnete das LAF die Flüchtlingsunterkunft Ende Februar 2022 erneut. Sie ist damit die dritte allein in Buch. Pankow ist der Bezirk, der fast 16 Prozent aller Flüchtlinge in Berlin aufnimmt – in keinem anderen Bezirk sind es mehr.
Aktuell wohnen in der Einrichtung in der Groscurthstraße nach Angaben des Betreibers Milaa gGmbH 534 Menschen aus 22 Nationen. Die am meisten vertretenen Herkunftsländer sind: Moldau (116), Georgien (96) und die Türkei (78). Immer wieder gebe es Probleme, sagen die Anwohner. Diebstähle, Lärmbelästigungen und Bedrohungen. Daran müsste sich endlich etwas ändern. Daher nun diese Veranstaltung.
Schon im Sommer des vergangenen Jahres sollte es eine solche Zusammenkunft zwischen Bucher Bürgern und der Politik geben. Doch diese wurde offenbar von der AfD gekapert, berichten Gäste des Abends. Hunderte Menschen habe die rechtsextreme Partei aus ganz Berlin mobilisiert und in den Ortsteil gelotst, in dem sie mit 15,8 Prozent die zweitstärkste Kraft bei der Abgeordnetenhauswahl wurde, hinter der CDU. Am Ende musste sich der Pankower Abgeordnete Johannes Kraft (CDU) allein gegen eine wütende Menge behaupten.
Starker Anstieg von Polizeieinsätzen in Buch (Pankow)
Heute nun soll ein neuer Anlauf unternommen werden. Denn die Probleme seien nach wie vor dieselben wie vor einem Jahr. Die Polizei verzeichnet eine stark steigende Zahl von Einsätzen in Buch wegen Ruhestörungen und Diebstählen. Das ergab eine Anfrage von Johannes Kraft bei der Innenverwaltung im Juli 2022. Eine ältere Dame im Publikum formuliert es an diesem Abend so: „Aus meinem Fenster gegenüber der Unterkunft beobachte ich immer wieder, wie Menschen klauen, jede Nacht ist Lärm, die saufen da jeden Abend Bier.“ Sie sei entsetzt über diese Zustände, sagt sie aufgebracht. „Deutsche Ordnung existiert nicht mehr.“
Auf diese Äußerung hin wird sie zunächst von Staatssekretär Bozkurt zurechtgewiesen, man dürfe nicht verallgemeinern. „Sicher trinken nicht alle dort Alkohol“, sagt er. Denn viele der Bewohner seien gläubige Muslime. Dennoch nehme er die Äußerungen der Frau ernst, er sei hier „in erster Linie, um Ihnen zuzuhören“.
Doch immer wieder an diesem Abend kommt es zu ähnlichen Situationen: Die Bürger schildern ihre Eindrücke, berichten von Angst oder Sorge und werden anschließend vom Staatssekretär darauf hingewiesen, man könne das so nicht formulieren und man solle auch nicht „weiter nach unten treten“. „Lassen Sie kein Gift in die Gesellschaft einsickern“, mahnt er, ohne aber konkret auf die Aussagen der Anwohner einzugehen. Schon nach wenigen Minuten verlassen die Ersten die Veranstaltung.
Die, die bleiben, haben vor allem eine Frage: „Wann wird die Unterkunft endgültig geschlossen“, wollen gleich mehrere wissen. Ein Mann, der ebenfalls mit seiner Frau direkt gegenüber der Unterkunft wohnt, berichtet davon, dass sie nachts kein Fenster mehr offen lassen könnten wegen des Lärms. „Wir wohnen seit 40 Jahren hier und jetzt würden wir am liebsten wegziehen. Aber wo sollen wir denn hin bei den Mietpreisen?“
Cordelia Koch: Die Unterkunft in Pankow bleibt
Es ist ein Moment, in dem all die großen Fragen und Krisen dieser Zeit hier in der Mensa des Max-Delbrück-Centers kulminieren. Man habe nichts gegen Kriegsflüchtlinge, auch nicht gegen Ausländer, sagt eine Frau. Doch im Moment profitiere im Grunde nur die AfD von den Zuständen. „Der Rechtsruck nimmt zu in Buch und das macht mir große Sorgen“, sagt sie. Ein Mann, der Flüchtlinge in Deutsch unterrichtet, weist darauf hin, die Menschen in den Unterkünften hätten kaum etwas zu tun. Vor allem für Kinder, die keinen Schulplatz hätten, sei das eine schlimme Situation. „Hätten sie Aufgaben, gäbe es viele der Probleme wahrscheinlich nicht“, sagt er.
Cordelia Koch, die Bürgermeisterin von Pankow, notiert sich viele dieser Äußerungen. Doch eine befriedigende Antwort hat auch sie nicht für die Anwohner. „Eines muss ich Ihnen so sagen: Die Unterkunft wird nicht geschlossen“, sagt sie. Dennoch werde sie sich bemühen, für eine „stabilere Bewohnerschaft“ des Containerlagers zu sorgen. Sie sagt nicht, was genau sie sich darunter vorstellt. Und sie sagt auch nicht, dass sie als Bezirksbürgermeisterin dafür eigentlich gar nicht zuständig ist, sondern das LAF.
Nur eine Notlösung hat sie möglicherweise: Die Genehmigung für die Unterkunft wird immer nur um ein Jahr verlängert. Und über diese Genehmigung entscheidet das Bezirksamt Pankow. Gut möglich, dass Koch eine weitere Verlängerung der Unterkunft an Bedingungen knüpfen wird. Wohl wissend, wie dringend Berlin gerade jeden freien Platz für Flüchtlinge braucht.
Zehnttausende Flüchtlinge kommen allein in diesem Jahr noch nach Berlin
10.000 werden allein für dieses Jahr noch zusätzlich gebraucht. Man sei weit davon entfernt, sie zu finden, sagt der Sprecher des LAF, Sascha Langenbach. Er appelliert an das Verständnis der Bürger: „Wir arbeiten verdammt hart“, sagt er, es gebe wenige in der Berliner Verwaltung, die derzeit mit den Mitarbeitern des LAF tauschen wollen würden. „Und wir muten Ihnen als Bürger verdammt viel zu, das wissen wir, aber wir müssen lernen, solche Konflikte auszuhalten.“
Den eindrücklichsten Appel aber liefert an diesem Abend eine junge schwarze Frau namens Joyce. Sie erzählt, wie sie während ihrer Schwangerschaft im letzten Jahr kaum habe schlafen können wegen des Lärms. Es habe etliche Situationen gegeben, in denen sie ihren Mann gebeten habe, die Polizei zu rufen. Doch der habe abgelehnt. Aus Sorge, als Rechtsextremer zu gelten. Sie kenne sich mit den Pariser Banlieues aus, sagt sie, und könne daher sagen: „Diese Unterkunft in Buch ist ein Ghetto.“ Spontaner Applaus bricht los unter den Bürgern. Dann ruft Joyce den Politikern auf der Bühne zu: „Bitte betrachten Sie uns nicht als Menschen, die fremdenfeindlich sind!“
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