Feuerwehr

Berliner Rettungsdienst ist wieder im Ausnahmezustand – jetzt soll eine Lösung her

Seit Mitte Mai gilt für die Rettungswagen in Berlin eine neue Regelung. Das hat nicht gereicht - und das Schlimmste kommt noch.

Rettungskräfte der Berliner Feuerwehr im Einsatz 
Rettungskräfte der Berliner Feuerwehr im Einsatz Seeliger/imago

Eine Horrorvorstellung: Atemnot und stechender Brustschmerz – Verdacht auf Herzinfarkt. Und der Rettungswagen braucht ewig, bis er endlich da ist. Das sind die Zustände in Berlin. Es gibt Momente, in denen ist nicht ein einziger Rettungswagen verfügbar. Da ist es nur eine Frage der Zeit, bis jemand nachweislich wegen des desolaten Notfallrettungs- und Gesundheitssystems stirbt.

Einen ersten Schritt zu einer Linderung der Misere hat jetzt die Feuerwehrführung gewagt: Höherqualifizierte Notfallsanitäter sollen nicht mehr zum gewöhnlichen Beinbruch ausrücken, sondern nur dann, wenn Menschenleben in Gefahr sind oder schwere gesundheitliche Schäden drohen. Auf diese Weise will die Behördenleitung die zahllosen Krisenmomente verringern, in denen der „Ausnahmezustand Rettungsdienst“ ausgerufen werden muss.

Eine solche Regelung gilt seit dem 16. Mai dieses Jahres für die Besetzung der Rettungswagen (RTW). In einer E-Mail, die den Zugführern zuging und die der Berliner Zeitung vorliegt, wird die neue Verfahrensweise erläutert.

Demnach sollen die sogenannten RTW-B, die zu Einsätzen mit geringerer Priorität ausrücken, nur noch mit Rettungssanitätern als „Medizinisch verantwortlicher Einsatzkraft“ besetzt werden. Die höher qualifizierten Notfallsanitäter hingegen fahren nur noch auf den RTW-C zu den dringenden und lebensbedrohlichen Fällen. Freie Notfallsanitäter sollen unbesetzte RTW der „Organisationseinheit Rettungsdienst“ besetzen. Diese befindet sich in der Feuerwache an der Voltairestraße in Mitte. Deren Personal besetzt Einsatzfahrzeuge des Rettungsdienstes auf mehreren Feuerwachen und Rettungswachen im gesamten Stadtgebiet.

Zulasten des Brandschutzes: Personal geht von Löschfahrzeugen auf RTW

Grundlage dafür ist die sogenannte Rettungsdienst-Abweichverordnung. Diese konnte in der Innenverwaltung erst erarbeitet werden, nachdem das Abgeordnetenhaus im Januar das Rettungsdienstgesetz entsprechend änderte. Dies ist eine Konsequenz aus dem vergangenen Jahr, als fast jeden Tag Ausnahmezustand Rettungsdienst ausgerufen werden musste – und zwar mehrmals am Tag. Zeitweise stand überhaupt kein RTW zur Verfügung.

Ausnahmezustand gibt es immer dann, wenn mehr als 80 Prozent der Rettungswagen ausgelastet sind und die vorgegebene Zeit vom Notruf bis zum Eintreffen der ersten Helfer nicht mehr eingehalten werden kann. Dann muss Personal, das eigentlich laut Plan auf Löschfahrzeugen sitzt, Rettungswagen besetzen - was zulasten des Brandschutzes geht.

Die neue Regelung soll etwas Linderung bringen. „Jetzt gibt es einen viel größeren Personenkreis, der die RTWs besetzen kann“, sagt Feuerwehrsprecher Thomas Kirstein. „Die Dauer der Ausnahmezustände ist gesunken. Wir haben ein bisschen Luft bekommen“, sagt er. „Aber die Abweichverordnung sei kein Allheilmittel.“

Das sehen auch andere in der Behörde so. Denn wenn die Feuerwehrleute, die sämtlich eine Sanitäterausbildung haben, nun verstärkt die RTW-B besetzen, heißt das: Es wird noch mehr Personal von den Löschfahrzeugen abgezogen. Schon jetzt sind diese Fahrzeuge nur zur Hälfte besetzt.

Kassenärztliche Vereinigung Berlin vermittelt keine Krankentransporte mehr

Und auch nach der Neustrukturierung im Mai gab es wiederholt Ausnahmezustand: zuletzt etwa am Freitag von 18.52 bis 22.45 Uhr, am Sonnabend von 19.50 bis 0.39 Uhr und am Montag von 12.36 bis 15.40 Uhr. In solchen Zeiten ist es besser, in Berlin keinen Herzinfarkt oder Schlaganfall zu bekommen. Auch am Dienstag wurde um 11 Uhr der Ausnahmezustand ausgerufen. Der Rettungsdienst hatte mehr als 100 Einsätze gleichzeitig zu bewältigen.

Auf manche Dinge hat die Feuerwehr keinen Einfluss. Denn am Dienstag fehlten allein bei den Hilfsorganisationen neun von 39 RTW. Denn auch DRK, Johanniter oder Malteser, die die Berliner Berufsfeuerwehr täglich unterstützen, haben große Probleme, ihre Autos mit Nofallsanitätern zu besetzen. Sie streiten sich derzeit mit den Krankenkassen, weil diese weniger für einen Einsatz zahlen, wenn „nur“ Sanitäter zum Beinbruch fahren.

Verschlimmert wird der Zustand dadurch, dass die Kassenärztliche Vereinigung wegen finanzieller Defizite einen Beratungsarzt eingespart hat. Zudem vermittelt sie seit Februar keine privaten Krankentransporte mehr, weil sie das von den Kassen nicht bezahlt bekommt. Rund 17.000 Transporte waren das pro Jahr. Patienten, die zeitnah einen Krankentransport benötigen und diesen nicht selbst organisieren können, wenden sich nun an die Feuerwehr.

Fast jeden Tag fehlen die Rettungswagen. Dabei hat der eigentliche Personalengpass noch gar nicht eingesetzt, den es im Sommer stets gibt.

Standardisierte Fragen mit dem Notrufabfrage-Protokoll SNAP

Was also tun? Der Landesrechnungshof stellte im vergangenen Jahr fest, dass rein rechnerisch mehr als tausend Stellen fehlen, um die Aufgaben – so wie sie jetzt anfallen – zu lösen. Gleichzeitig verwies der Rechnungshof darauf, dass die Zahl der Notrufe in den vergangenen Jahren relativ konstant blieb. Trotzdem stieg die Zahl der Einsätze, in denen RTW geschickt wurden, stark an.

Wie kann das sein? Feuerwehrchef Karsten Homrighausen begründete dies in einem früheren Gespräch mit dieser Zeitung mit der Änderung des Rettungsdienstgesetzes ab 2016. Darin wurde nicht mehr nur die unmittelbare Lebensgefahr in die Aufgaben des Rettungsdienstes gehoben, sondern auch eine Gefahr, die für die Gesundheit drohen kann. „Insofern ist hier Aufgabenkritik angezeigt, und wir sollten uns beschränken auf die lebensbedrohlichen Lagen“, so Homrighausen. „Nicht jeder braucht einen Notfallsanitäter. Es gibt auch Lagen, da reicht ein Krankentransport. Oder auch nur eine Taxifahrt.“

Das ist ein wichtiger Punkt. Früher wurden solche Anrufer bereits am Telefon an private Krankentransport-Unternehmen oder Taxis verwiesen. Doch 2005 brachte der damalige Landesbranddirektor eine Erfindung aus dem amerikanischen Florida von einer Reise mit: Er führte in der Leitstelle das Standardisierte Notrufabfrage-Protokoll (SNAP) ein. Es stellt den Mitarbeitern standardisierte Schlüsselfragen, auf deren Basis Einsatzkräfte losgeschickt werden. Die Software, die auch in Österreich benutzt wird, soll Rechtssicherheit gegen Haftungsansprüche geben.

Der Verein „Berlin brennt“ kritisiert die vielen unnötigen Einsätze

Für den Verein „Berlin Brennt“, in dem sich Feuerwehrleute organisiert haben, ist SNAP einer der Hauptgründe für den Anstieg der Einsätze bei konstant bleibender Notruf-Zahl. Denn oft fahren RTW, obwohl es gar nicht nötig wäre.

RTW werden auch geschickt, weil jemand leichte Rückenschmerzen hat, sich in den Finger geschnitten hat oder an Einsamkeit leidet. Derlei Erzählungen sind zahlreich: Eine Frau wählt die 112 und fragt, wo die nächste Rettungsstelle ist. Die Telefonkraft in der Feuerwehr-Leitstelle schickt umgehend einen Rettungswagen (RTW). Ein Mann fragt bei der 112, ob er bei Kopfschmerzen ein Paracetamol oder doch lieber zwei nehmen soll. Zehn Minuten später steht ein RTW vor seiner Tür. 

„Durch SNAP entstehen eine Menge unnötiger Einsätze“, sagt Erik Herbote, Vorsitzender von „Berlin brennt“. Er sieht es als großes Problem, dass nicht mehr erfahrene Feuerwehrleute die Notrufe entgegennehmen und die Ernsthaftigkeit einschätzen. Würde man SNAP abschaffen, hätte man 300 bis 500 Einsätze am Tag weniger, schätzt Herbote. „Stattdessen wird durch Einsparungen Druck erzeugt, Personal herzuzaubern, das nicht da ist.“

„Calltaker“ nehmen Notrufe an der 112 entgegen

Tatsächlich werden nach Behördenangaben zunehmend sogenannte Calltaker eingesetzt – Branchenfremde von außerhalb, die auch schnell beschult wurden. Aber auch erfahrene Notfallsanitäter sind in der Notrufannahme gezwungen, die standardisierten Abfragen zu benutzen.

Dass die RTW-B nur noch mit Sanitätern besetzt sind, bedeutet für andere Mitglieder des Vereins den „Ausverkauf der Qualität“. Sarkastisch meint einer von ihnen: Auf einmal sei der unqualifizierte Rettungsmob, über den man jahrelang die Nase gerümpft habe, wieder gut genug.

Bald beginnt die Sommerpause in Behörden und Abgeordnetenhaus

Über eine entsprechende Rückänderung des Rettungsdienstgesetzes, damit sich die Sanitäter auf die Kernaufgaben, die Rettung von Leben, konzentrieren können, wird derzeit bei der Feuerwehr laut nachgedacht. Es gibt viele Ideen – über eine „kluge Anwendung“ von SNAP, wie das beispielsweise die Deutsche Feuerwehrgewerkschaft fordert, oder besser abgestimmte Ablösezeiten der Schichten in den Wachen oder das Aussortieren weiterer Einsatzcodes wie „Bauchschmerzen“, weshalb RTW bis vor kurzem noch ausrücken mussten. Doch immer wieder ist der Vergleich mit der Tischdecke zu hören, die, egal an welchem Ende man zieht, zu kurz ist.

Zudem melden sich viele Patienten mit Fieber oder einer Verstauchung bei der Feuerwehr oder der Kassenärztlichen Vereinigung – oder sie füllen die Rettungsstellen der Krankenhäuser, weil sie in Hausarztpraxen nicht aufgenommen werden, da die Budgets der Ärzte durch die gesetzlichen Krankenkassen gedeckelt sind. „Wir baden die Misere im Gesundheitswesen aus“, sagt ein Notfallsanitäter.

„Es gibt aber eine Vielzahl an Stellschrauben, etwa das Einrichten einer gemeinsamen Leitstelle für die Krankentransport-Unternehmen“, sagt Alexander J. Herrmann, Feuerwehrpolitischer Sprecher der CDU im Abgeordnetenhaus.

Der Ausnahmezustand am Dienstag dauerte neun Stunden

Schwarz-Rot möchte unter anderem das Rettungsdienstgesetz komplett überarbeiten. Ob darin der Rettungsdienst wieder auf seine Kernaufgaben beschränkt wird, nämlich Hilfe bei lebensbedrohlichen Fällen, wie es bis 2016 der Fall war, darauf will sich Herrmann noch nicht festlegen. „Wir müssen uns dafür Zeit nehmen und können uns keinen Schnellschuss leisten“, sagt er. „Aber 2024 muss etwas auf dem Tisch liegen, was Hand und Fuß hat.“

Martin Matz, innenpolitischer Sprecher der SPD, sieht es ähnlich. „Es gibt nicht nur das eine Problem, das man lösen muss und dann ist alles gut“, sagt er. „Es braucht mindestens zehn verschiedene Blickrichtungen.“ Eine der Möglichkeiten ist aus seiner Sicht die Schaffung einer integrierten Leitstelle, die die Hilfsorganisationen und die privaten Krankentransporte disponiert. „Dafür hat es auch Sinn, mal in die anderen Bundesländer zu schauen“, so Matz. Und den Rettungsdienst wieder auf die lebensbedrohlichen Fälle beschränken? „Jede Aufgabe, die wir da wegnehmen, muss dann auf andere Weise gewährleistet werden“, sagt er. Denn die Patienten seien noch da.

Die jetzt getroffenen Regeln, mit denen die RTW anders besetzt werden, bringen etwas, befindet Manuel Barth von der Deutschen Feuerwehrgewerkschaft. „Die Dramatik wie im vergangenen Jahr kann ich nicht zwingend beobachten“, sagt er. „Aber die Wunde juckt nur nicht. Sie ist noch da.“ Das Sammeln von Ideen für den Rettungsdienst im Abgeordnetenhaus und in den Behörden dauert Barth zu lange. „Bald beginnt die Sommerpause in den Behörden und im Abgeordnetenhaus.“

Der Ausnahmezustand am Dienstag dauerte neun Stunden. Er endete um 20 Uhr.