Seit einiger Zeit ist die Notfallrettung selbst ein Notfall - bundesweit und auch in Berlin. Man stelle sich vor, bei Diagnosen wie Aneurysma-Ruptur, Lungenembolie, traumatische Amputation oder Fremdkörperaspiration (Gegenstand in den Atemwegen) kommt ewig kein Rettungswagen.
Denn inzwischen wird fast jeden Tag „Ausnahmezustand Rettungsdienst“ ausgerufen, weil zu wenige Rettungswagen (RTW) besetzt sind. Feuerwehrleute, die eigentlich auf Löschfahrzeugen eingetaktet sind, müssen dann aushelfen. Einen Großbrand oder zwei Feuer zur gleichen Zeit sollte es dann besser nicht geben.
Dass der Ausnahmezustand inzwischen Normalzustand ist, hat verschiedene Gründe. Unter anderem mangelt es an Personal. Schichtbetrieb, laue Bezahlung, aber auch ein Mangel an bezahlbaren Wohnungen wirken nicht gerade motivierend, diesen Beruf zu ergreifen oder als gelernter Notfallsanitäter aus einem anderen Bundesland nach Berlin zu ziehen. Laut Landesrechnungshof bräuchte die Berliner Feuerwehr 1000 Mitarbeiter mehr, um die Arbeit sicherzustellen. Das ist illusorisch, auch wenn wieder verstärkt ausgebildet wird.
Wegen der Krise wird schon seit dem vergangenen Jahr in Berlin an einigen „Stellschrauben“ gedreht, wie aus der Verwaltung hin und wieder verlautet. So wurden mehr als hundert Einsatzcodes entschärft, die einen RTW ausrücken lassen. Zudem gibt es hier und da noch Abläufe, die optimiert werden können. Doch das alles wird nicht helfen.
Angesichts von 1000 bis 1400 Rettungsdiensteinsätzen pro Tag in Berlin erscheint Aufgabenkritik dringend nötig: Der Rettungsdienst sollte sich wieder um Fälle kümmern, die lebensbedrohlich sind oder bei denen schwere Gesundheitsschäden drohen. So war es schon einmal. Bis durch eine Änderung des Rettungsdienstgesetzes die Aufgaben erweitert wurden.
Eine Pflegekraft wählt die 112, weil sie keinen Krankentransporteur erreicht
Muss wirklich ein RTW los, wenn jemand einen eingerissenen Zehennagel hat? Oder wenn jemand mit einer verstauchten Hand in die 200 Meter entfernte Rettungsstelle gebracht werden möchte? Muss ein RTW Amtshilfe-Taxi für die Polizei sein, wenn jemand in psychischem Ausnahmezustand in eine Klinik eingewiesen wird? Rettungswagen, deren Einsatz die Feuerwehr beziehungsweise das Land Berlin bei den Krankenkassen mit 299 Euro und 11 Cent abrechnet, werden mit Vorliebe angefordert, obwohl es etwa 100 private Krankentransportunternehmen in Berlin gibt. Dann muss ein RTW schon mal einen Senior vom Krankenhaus Neukölln nach Nikolassee bringen. Oder eine Pflegekraft eines Seniorenheims, die es bei zwei Unternehmen telefonisch probiert hat, wählt dann lieber doch die 112. Was fehlt, ist eine zentrale Vermittlung dieser Transporte, seit die Kassenärztliche Vereinigung Berlin (KV) diese eingestellt hat.
Sicher – oftmals wird der Notruf 112 oder die Nummer 116117 der KV gewählt, obwohl bereits ein Wadenwickel bei Fieber helfen würde. Und auch über Themen wie Leidensfähigkeit und „Resilienz“ der Bevölkerung lohnt es sich zu reden. Aber der Bedarf nach Betreuung ist nun mal da. Wenn sich der Rettungsdienst auf die dringenden und lebensbedrohlichen Fälle konzentrieren soll, wie von verschiedener Seite gefordert, müssen die Aufgaben, die ihm abgenommen werden, von anderen übernommen werden: von Hilfsorganisationen, privaten Krankentransporteuren, Arztpraxen.


