Wie dringend eine Reform der Notfallversorgung in Berlin ansteht, zeigt folgender Fall: Ein Mann wählt den Feuerwehrnotruf 112. Er sei vor zwei Stunden mit dem Fahrrad gestürzt und habe sich mit der Brust am Lenker gestoßen.
„Sind Sie zu Hause?“, fragt der Feuerwehrmann am anderen Ende.
Der Mann bejaht.
„Haben Sie Schwierigkeiten beim Atmen?“ Diese Frage schreibt das Abfrageprotokoll vor; mit ihr soll festgestellt werden, ob die Lunge verletzt ist.
„Ja.“
„Wir schicken einen Notarzt.“
„Gut, ich komm’ dann schon mal runter!“, sagt der erfreute Anrufer. So schlecht kann es ihm dann doch nicht gehen.
Der Feuerwehrmann in der Leitstelle, ein erfahrener Rettungssanitäter, entschließt sich daraufhin, keinen Notarzt, sondern nur noch einen Rettungswagen (RTW) zu schicken. Und weicht damit von der Regel ab, sich an das sogenannte standardisierte Notrufabfrage-Protokoll zu halten.
Er fragt den Anrufer noch, warum dieser nicht einfach selbst zum Arzt gegangen ist. Er wisse es auch nicht so genau, antwortet der Mann.
Gremium soll über neue Einsatzcodes entscheiden
Solche und viele andere nicht lebensbedrohliche Fälle, von denen Feuerwehrleute berichten, haben den Rettungsdienst der Hauptstadt an den Rand des Zusammenbruchs gebracht. RTWs und Notarztwagen werden losgeschickt, weil sie – bis auf Ausnahmen – bei jedem Notruf geschickt werden müssen. So sieht es eine Regelung vor, die jetzt abgeschafft werden soll. Voraussetzung ist eine Änderung des Rettungsdienstgesetzes, auf das sich SPD und Grüne in dieser Woche geeinigt haben. Im Januar sollen die Änderungen im Abgeordnetenhaus beschlossen werden.
Bislang legt allein der Ärztliche Leiter Rettungsdienst fest, wann ein Notarzt und wann welcher RTW geschickt wird. Künftig wird das der Landesbranddirektor als Behördenchef entscheiden. Auf den medizinischen Rat des Ärztlichen Leiters muss er weiterhin hören. Allerdings soll ein Gremium, das unter anderem aus Notärzten besteht, die bisherigen Einsatzcodes überarbeiten, unter denen festgelegt ist, welche Rettungsmittel geschickt werden. Das Gremium wird auch weitere Fälle festlegen, die durch die Leitstelle per Knopfdruck an den Ärztlichen Bereitschaftsdienst der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) abgegeben werden.
Weil sich die Situation in diesem Jahr besonders katastrophal zeigt und weil es an manchen Tagen überhaupt keinen freien Rettungswagen gibt, wurden schon im Juli 14 Einsatzcodes überarbeitet. Zu diesen werden nun keine RTW mehr geschickt – etwa bei Bauchschmerzen, allergischer Reaktion ohne Atem- oder Schluckbeschwerden, geringfügiger Verbrennung oder Schürfwunden. Solche Anrufer werden an die KV weitergeleitet. „Seitdem stieg die Zahl der Abgaben an die KV von 80 auf bis zu 220 pro Tag“, sagt Feuerwehrsprecher Thomas Kirstein am Mittwoch der Berliner Zeitung.
Kassenärztliche Vereinigung nur noch mit einem Arzt besetzt
Allerdings ist sich auch Kirstein bewusst, dass das Problem nur verlagert werde. Die KV Berlin hatte schon vor einigen Tagen Alarm geschlagen, auch angesichts der derzeitigen Erkältungswelle, die zu langen Wartezeiten bei der Bereitschaftsnummer 116117 führe. Als Beispiel nannte die KV den 6. Dezember. An diesem Tag übernahm sie von der Feuerwehr 163 Fälle – eine Steigerung von rund 200 Prozent gegenüber dem Vorjahr.
Im Laufe des Tages wurden zudem bei der 116117 rund 1000 Anrufer erfasst. Jeder Vierte gab als Grund einen grippalen Infekt an. Die Wartezeit am Telefon lag durchschnittlich bei rund 26 Minuten – 15 Minuten mehr als im Jahresdurchschnitt. Ab 19 Uhr war der fahrende Hausbesuchsdienst ausgebucht, sodass Patienten auf den nächsten Tag vertröstet werden mussten.
Die Notfallversorgung der KV Berlin komme an ihre Grenzen, erklärte deshalb der Vorstandsvorsitzende Burkhard Ruppert. Die Situation wird sich nach seiner Ansicht verschärfen. Wegen der schlechten Finanzierungslage der ambulanten Notfallversorgung wird die KV Berlin ihren telefonischen Beratungsdienst reduzieren. Ab 1. Januar wird sie von Montag bis Freitag anstatt bisher zwei nur noch einen Beratungsarzt pro Schicht einsetzen. „Wir müssen die Reißleine ziehen, weil es seitens der regionalen Krankenkassen bisher keinen Willen gibt, dieses Angebot mitzufinanzieren“, so Ruppert.
Branchenfremde in der Notrufannahme
Dass es in diesem Jahr besonders schlimm um den Rettungsdienst der Berliner Feuerwehr bestellt ist, hat aber auch mit der Corona-Pandemie zu tun. So wurden in der Corona-Zeit unerfahrene junge Brandmeister auf Probe in Schnellkursen für die telefonische Notrufannahme geschult. Damit wollte man krankheitsbedingten Ausfällen in der Leitstelle vorbeugen.
Einen Fall wie den des gestürzten Radfahrers, der über Brustschmerzen klagte, würden sie wohl nicht einschätzen können. Denn mangels Erfahrung arbeiten sie stur das standardisierte Notrufabfrage-Protokoll ab, was ebenfalls zur Erhöhung der Einsatzzahlen beitrage, wie die Deutsche Feuerwehrgewerkschaft kritisiert. Diese spricht sich dafür aus, wieder Rettungssanitäter an den Notruf zu setzen. Diese Forderung decke sich auch mit der des Rettungsdienstgutachten 2016, das die Feuerwehr selbst beauftragt hat. „Nur wer Wissen und Erfahrung hat, kann auch Ermessen ausüben“, sagt Gewerkschaftssprecher Manuel Barth. „Das kann man kaum von Beschäftigten erwarten, die keinerlei Erfahrung und Grundwissen mitbringen. Trotzdem geben sie ihr Bestes. Deshalb braucht es Fort- und Weiterbildung.“


