Im Tarifstreit bei der Bahn schließt die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG weitere Warnstreiks nicht aus. „Wir erwarten ein ernsthaftes, verhandlungsfähiges Angebot“, sagte Cosima Ingenschay, die Vizevorsitzende der Gewerkschaft, am Montag während einer Kundgebung am Ostbahnhof. Wenn die Bahn die Forderung bis zur nächsten Verhandlungsrunde Mitte April nicht erfüllt, werde die EVG über weitere Aktionen beraten. Dazu könnte auch ein erneuter Arbeitskampf gehören. „Am heutigen Montag haben wir gezeigt, dass wir handlungsfähig sind“, so Ingenschay.
Von 4 Uhr früh an fuhr keine einzige S-Bahn. Regionalverkehrszüge, Intercitys und ICE standen ebenfalls in den Abstellanlagen. Obwohl sie vom Tarifstreit nicht betroffen sind, blieben auch die Züge von Konkurrenten der Deutschen Bahn (DB) im Depot.
„Die Lok – die fährt heut nicht los. Was ist denn da bloß los?“
Im Ostbahnhof in Friedrichshain trippelten Tauben seelenruhig umher, ansonsten blieben die Bahnsteige leer - und die Gleise sowieso. Umso voller war es auf dem benachbarten Hermann-Stöhr-Platz, einer struppigen Grünfläche vor dem früheren HO Centrum-Warenhaus. Die EVG hatte zur Demonstration vor dem Eingang West 2 aufgerufen. Mehrere Hundert Gewerkschaftsmitglieder, die meisten von der DB, unterstrichen mit viel Lärm die Forderung: zwölf Prozent mehr Lohn und Gehalt, mindestens 650 Euro mehr im Monat, ein Tarifvertrag mit zwölf Monaten Laufzeit.
„Ich kann gar nicht so schlecht arbeiten, wie ich bezahlt werden“, stand auf einem Transparent. „Die Lok – die fährt heut nicht los. Was ist denn da bloß los?“ sang Liedermacher Karl Nümmes alias Eckhard Franke. Und: „Da ist der Wurm drin, Kspitalusmus muss weg.“
Doch den Demonstranten geht es nicht nur um Inflationsausgleich und bessere Bezahlung. Wer sich mit ihnen unterhält, der spürt, wie viel Frust sich angesammelt hat. An diesem kalten sonnigen Morgen ist auch ein Eisenbahner aus einem Dorf nordöstlich von Berlin zum Ostbahnhof gekommen. „Mir geht es um die Kollegen, die nur den Mindestlohn bekommen. Das ist viel zu wenig“, erklärt er. So bekämen viele Reinigungskräfte nur zwölf Euro brutto pro Stunde. „Oft auch nur dann, wenn die Zuschläge einberechnet werden.“ Aber es gebe noch andere Gründe, zu demonstrieren: Bei der Bahn fühle er sich schon lange nicht mehr zu Hause, sagt das EVG-Mitglied.
Nach der Arbeit um 2.30 Uhr zu Hause, um 11 Uhr geht es wieder los
Zunächst bei der Deutschen Reichsbahn als Schlosser beschäftigt, heute Mitarbeiter im DB-Konzern, ist der 56-Jährige sein ganzes Berufsleben Eisenbahner. Die Arbeitsstelle hat er allerdings mehrmals gewechselt. Mal half er einige Monate im Werk Neumünster aus, dann verlor er seine langjährige Stelle in Eberswalde. Die DB verkaufte den Betrieb, in dem Güterwagen ausgebessert wurden. In Polen ließe sich das preiswerter machen, habe die Belegschaft erfahren. Außerdem sei der Güterverkehr zurückgegangen. „Heute wird wieder jeder Wagen gebraucht.“ Auch andere Werke wurden verkauft, in einem Fall Anlagen nach China. „Damals wurden bundesweit auch Gleise und Weichen abgebaut“, erzählt der Eisenbahner. Die würden heute ebenfalls vermisst.
„Seit 2015 arbeite ich im Werk Schöneweide der S-Bahn Berlin“, berichtet er. An jedem Arbeitstag fährt er im Schnitt rund zwei Stunden mit dem Auto nach Berlin und nach der Schicht zwei Stunden wieder zurück. „Manchmal komme ich nachts um 2.30 Uhr nach Hause, und um 11 Uhr vormittags muss ich wieder los.“
Früher seien seine Vorgesetzten Meister ihres Fachs gewesen, sie hätten meist selbst einen Bahnberuf erlernt. Heute komme es vor, dass Chefs ohne ein Team von Referenten und Beratern nicht mehr auskämen. Er habe nicht selten das Gefühl, dass es kaum noch um die Sache gehe: die Bahn am Laufen zu halten, Fahrgäste und Güter gut zu befördern. „Ich habe das Gefühl, dass es in so vielen Unternehmen Frust gibt. Eigentlich müssten heute alle mitstreiken“, sagt der Mann.

Doch schon die bundesweiten Arbeitsniederlegungen im Verkehrsbereich, zu denen die EVG und Verdi aufgerufen hatten, erzielten Wirkung. „Mit Stand 8 Uhr waren mehr als 28.000 Kolleginnen und Kollegen im Ausstand“, berichtete Cosima Ingenschay am Ostbahnhof. „Ihr könnt stolz auf euch sein“, rief die Gewerkschafterin den Demonstranten zu. „Zusammen mit Verdi zeigen wir heute, was passiert, wenn die gesamte Verkehrsbranche in Deutschland zusammensteht.“
Fünf Prozent mehr Lohn reichen nicht
„Auch bei uns ist die Wut groß“, sagt Robert Seifert, der bei der S-Bahn Berlin den Betriebsgruppenvorstand der EVG leitet. „Das Management der DB genehmigt sich 14 Prozent mehr, und wir werden mit einem Angebot von fünf Prozent mehr Lohn über 27 Monate Laufzeit abgespeist.“ Zusätzlich bietet die DB eine Inflationsausgleichsprämie von 1500 Euro an. Von 4 bis 15 Uhr sollten in Berlin und Brandenburg auch keine S-Bahnen fahren. Dieser Streikaufruf sei befolgt worden, so Seifert. Berichten zufolge erschienen von den 30 Werkstattbeschäftigten, die im Werk Wannsee zu einer Schicht am Montag eingeteilt waren, gerade mal drei zur Arbeit.
Zwar ist das Fahrpersonal vor allem bei der Konkurrenzgewerkschaft GDL organisiert. Dafür ist die EVG bei DB Netz gut vertreten, zum Beispiel in der Betriebszentrale in der Pankower Granitzstraße. Auch bei den Fahrdienstleitern in der S-Bahn-Betriebszentrale Halensee sei der Organisationsgrad verhältnismäßig hoch. „Wenn sie ihren Dienst nicht antreten, reagiert das Leit- und Sicherungssystem, indem es automatisch alle Signale auf Rot stellt“, erklärt Seifert. Und so geschah es Montagmorgen auch – nicht nur bei der S-Bahn. In ganz Deutschland lag Bahninfrastruktur lahm.
Darum traf der Aufruf zum Warnstreik auch die Wettbewerber der Bahn - was bei GDL-Lokführerstreiks, die sich gegen die DB richten, nicht der Fall ist. Nicht nur Güterzüge von DB Cargo, auch Frachttransporte von Konkurrenten des Bundesunternehmens blieben stehen. Bei der Niederbarnimer Eisenbahn (NEB), die in Berlin und Brandenburg Regionalzüge betreibt, wurden nur die Linien RB27 und RB35 bedient. Erstere verläuft auf Anlagen, die der NEB gehören. Fahrdienstleiter der DB haben dort nichts zu sagen.
Noch stärker war die Ostdeutsche Eisenbahn (Odeg) betroffen, die ihren Marktanteil Ende des vergangenen Jahres nach einer Ausschreibung deutlich erhöht hat. „Alle 14 Linien werden nicht befahren“, sagte Dietmute Graf, die Sprecherin des Unternehmens. Zwar hätte Zugpersonal zur Verfügung gestanden. „Doch es wäre nicht sinnvoll gewesen, am Morgen loszufahren – und dann wären Züge unterwegs durch rote Signale gestoppt worden“, so Graf. Die Fahrgäste sollten nicht stranden, dann lieber gar nicht erst starten. Auch die Odeg habe sich darauf eingestellt, dass bis 24 Uhr gestreikt wird. Am Montagmorgen sei dann die Nachricht gekommen: Um 15 Uhr ist Schluss. Doch bei der Odeg rechnet man, dass sich der Betrieb erst am späten Abend normalisiert.
EVG-Vizevorsitzende: „Es muss etwas passieren"
Wie geht es nun weiter? Die DB und die übrigen rund 50 Bahnunternehmen müssten sich auf die EVG zubewegen, bekräftigt Cosima Ingenschay. „Es muss etwas passieren.“ Nicht nur was die Bezahlung anbelangt, sollten die Arbeitgeber verhandlungsfähige Vorschläge präsentieren. „Immer noch kommt es vor, dass die gleiche Arbeit in Ost und West unterschiedlich bezahlt wird“, berichtet die EVG-Vizevorsitzende. Auch das müsse sich ändern.
Aber auch der Fahrgastverband Igeb hat eine Forderung: Es müsse endlich einen Notfahrplan geben, damit den Reisenden zumindest ein Basisangebot offeriert werden kann. In Italien gibt es so etwas schon.
Am Mittwoch beginnt die zweite Verhandlungsrunde. Den Anfang macht die Osthannoversche Eisenbahn. Mitte April ist dann die DB an der Reihe, so Ingenschay. Von diesem Unternehmen hänge ab, ob es weitere Arbeitsniederlegungen gibt.








