Mobilität

U-Bahn-Experte: „Der Hype um die Straßenbahn kann Berlins Probleme nicht lösen“

Das BVG-Konzept für 171 Kilometer Neubaustrecke war überfällig, so Markus Hecht von der Technischen Universität. Er erklärt, welche Chancen es Berlin bietet.

Der Bahnhof Rotes Rathaus an der U5 in Mitte. Die Strecke vom Alexanderplatz zum Hauptbahnhof war das bisher letzte Neubauprojekt. Die 2,2 Kilometer kosteten mehr als eine halbe Milliarde Euro.
Der Bahnhof Rotes Rathaus an der U5 in Mitte. Die Strecke vom Alexanderplatz zum Hauptbahnhof war das bisher letzte Neubauprojekt. Die 2,2 Kilometer kosteten mehr als eine halbe Milliarde Euro.Sabine Gudath

Wie müde ist Berlin? Kann die Stadt überhaupt noch visionär denken? Ein Team der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) hat es versucht – und heftige Reaktionen geerntet. Doch das Konzept „Expressmetropole Berlin“, das 171 Kilometer U-Bahn-Neubaustrecke vorsieht, wird nicht nur kritisch gesehen. Nachdem sich Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) begeistert geäußert hat, zollt nun auch ein renommierter Bahn-Experte den Planern Lob . „Ich habe lange darauf gewartet, dass die BVG einen Plan zur Erweiterung des U-Bahn-Netzes vorlegt“, sagte Markus Hecht, Professor an der Technischen Universität. „Das U-Bahn-Konzept war lange überfällig.“

Mit der U-Bahn nach Weißensee, Hohenschönhausen, Staaken, Kleinmachnow – und zu vielen anderen neuen Zielen. Mit neuen Straßenbahnstrecken, zum Beispiel zum Zoo, nach Steglitz oder Spandau. Und einer Seilbahn über die Havel hinweg in die Spandauer „Südstaaten“. Mit der Blaupause für einen möglichen Masterplan zur Entwicklung des Schienenverkehrs in Berlin haben sich die BVG-Angebotsplaner verdient gemacht, so Hecht. Ein so umfassender Ausbau des derzeit 147 Kilometer langen U-Bahnnetzes biete die Chance, Verkehr ganz anders zu konzipieren – und damit besser zu machen.

„Zuletzt gab es vor allem Pläne für Neubaustrecken der Straßenbahn oder zu Detailthemen“, sagte der Eisenbahningenieur, der an der Technischen Universität das Fachgebiet Schienenfahrzeuge leitet, der Berliner Zeitung. „Die jüngste Fassung des bislang letzten Masterplans dieser Art, des 200-Kilometer-Ausbauplans der West-Berliner Senatsverwaltung, liegt schon fast fünf Jahrzehnte zurück.“

Mit Tempo 100 oder 120 durch den Berliner Untergrund

Markus Hecht sieht mehrere fachliche Gründe dafür, dass sich Berlin endlich wieder mit dem U-Bahn-Bau beschäftigen sollte. „An erster Stelle steht die Feststellung, dass die Fahrzeiten im öffentlichen Verkehr in vielen Fällen immer noch zu lang sind“, sagte er. Im Vergleich zum Auto sei die BVG oft im Hintertreffen. „Die BVG wird konkurrenzfähiger, wenn das U-Bahn-Netz wächst. Denn die U-Bahn ist ein potenziell schnelles Verkehrsmittel.“

Wenn Fahrzeiten verkürzt werden, wirke das positiv in zwei Richtungen. „Zum einen sinken die Kosten, weil der U-Bahn-Betreiber weniger Fahrzeuge und weniger Personal braucht. Zum anderen steigt die Attraktivität, was bedeutet, dass Fahrgastzahlen und Fahrgeldeinnahmen steigen werden.“ Auf U-Bahn-Neubaustrecken seien Geschwindigkeiten wie 100 oder 120 Kilometer pro Stunde problemlos möglich. Im Vergleich zur heutigen Berliner U-Bahn, die auf vielen Abschnitten nur Tempo 80 oder gar nur Tempo 50 fahren kann, wäre ein deutlicher Fortschritt möglich.

Eine Konzentration auf den Tramausbau, der bisher die Planungen dominierte, sieht Hecht skeptisch: „Mit der Straßenbahn wäre es nicht möglich, in diesem Maße Fahrzeiten zu verkürzen. Der Hype um die Straßenbahn kann Berlins Verkehrsprobleme nicht lösen.“

Hecht warnte vor einem Missverständnis. „Die U-Bahn-Diskussion in Berlin krankt daran, dass viele Debattenteilnehmer den heutigen Zustand und das heutige technische Niveau der Berliner U-Bahn vor Augen haben“, sagte er. Das betreffe nicht nur die Streckengeschwindigkeit. „Wenn wir ins Ausland blicken, erkennen wir, dass man dort vielerorts auch in anderer Hinsicht weiter ist. Der großflächige Neubau von U-Bahnen  würde uns eine Chance bieten, endlich wieder ans internationale Niveau anzuschließen.“

Bahnexperte aus Berlin: Markus Hecht (65) leitet seit 1997 das Fachgebiet Schienenfahrzeuge am Institut für Land- und Seeverkehr der TU.
Bahnexperte aus Berlin: Markus Hecht (65) leitet seit 1997 das Fachgebiet Schienenfahrzeuge am Institut für Land- und Seeverkehr der TU.Privat

So sind die U-Bahn-Züge in Singapur, wo Markus Hecht ebenfalls lehrt, mit 3,20 Meter deutlich breiter. „Wie in Berlin verkehren die Fahrzeuge dort auf Normalspur, aber der Raumeindruck in den Wagen ist besser und die Kapazität ist größer als bei uns. Bei der Berliner U-Bahn sind Kleinprofilzüge circa 2,40 Meter breit, das entspricht einer schmalen Straßenbahn. Großprofilzüge haben eine Breite von rund 2,65 Metern.“ 

Auch in Berlin könne es künftig U-Bahnen geben, die kein Fahrpersonal mehr benötigen. „Nachdem in Berlin Anstrengungen zur Teilautomatisierung der U-Bahn in den Nullerjahren abgebrochen worden sind, kann dieses Thema nun wieder ins Blickfeld rücken“, so Hecht. Weltweit entstünden voll automatisierte U-Bahn-Systeme ohne Fahrpersonal. „Dadurch lassen sich nicht nur beachtliche Zugfrequenzen erreichen, auch die Wendezeit an den Endstationen lässt sich verkürzen – auf 15 bis 20 Sekunden. In Zeiten des Personalmangels werden solche Systeme auch in Europa stärker beachtet. Auf den neuen Berliner U-Bahn-Strecken müssen die Züge automatisch fahren.“

Eine Ringlinie U0 in Berliner Außenbezirken wäre „eine tolle Sache“

Das BVG-Konzept sieht auch eine Ringlinie vor. Die Linie U0 könnte Zentren außerhalb der Innenstadt verbinden – etwa Neukölln, Schöneweide und Weißensee. „Eine tolle Sache“, kommentierte Markus Hecht. „Aber natürlich ist das BVG-Konzept in einigen Teilen diskussionswürdig. Das betrifft zum Beispiel die Pläne, auch Kleinprofillinien wie die U3 und U4 zu Langstrecken zu erweitern. Gemessen an den Kosten pro Fahrgast und Kilometer sind die Kosten im Kleinprofil rund 20 Prozent höher als im Großprofil. Das wird maßgeblich dadurch bestimmt, dass die Wagen kleiner sind und weniger Reisende fassen. Unterm Strich wird auch mehr Personal gebraucht.“

Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), der Fahrgastverband IGEB sowie andere Akteure halten das BVG-Konzept für irreal – schon wegen der hohen Kosten. So rechnet der BUND damit, dass die Investitionen mindestens 35 Milliarden Euro verschlingen. Dafür könnte Berlin rund 1700 Kilometer Straßenbahnstrecke bauen.

„Was die möglichen Kosten eines U-Bahn-Ausbaus anbelangt, lassen sich jetzt noch keine seriösen Berechnungen anstellen“, entgegnete Markus Hecht. Es wäre nicht hilfreich, ausgehend von der Verlängerung der U5 in Mitte, dem bisher letzten Neubauprojekt, die zu erwartenden Aufwendungen hochzurechnen. Die 2,2 Kilometer lange Trasse, die 525 Millionen Euro kosten sollten, sei in einem schwierigen innerstädtischen Umfeld und mit Schildvortrieb, also in bergmännischer Bauweise, entstanden.

„Das war kostspielig. Aus meiner Sicht wäre es möglich, einen großen Teil der Tunnel in offener Bauweise zu errichten. Das würde die Anwohner vorübergehend stärker belasten als wenn sie gebohrt würden. Doch unterm Strich werden sie von den Neubaustrecken profitieren“, sagte der TU-Professor.

Hochbahn-Trassen aus Holz mit guter Klimabilanz

In Außenbezirken könnten die Trassen aufgeständert werden – also als Hochbahnen entstehen. „Teurer als Straßenbahn-Neubaustrecken werden die neuen U-Bahn-Trassen sicherlich sein. Aber die Kosten ließen sich niedriger gestalten als dies angenommen wird“, erklärte der Ingenieur. „Wenn Neubaustrecken oberirdisch verlaufen, wären auch Holzkonstruktionen denkbar. Hochbahnen aus Holz – das ist heute möglich. Dadurch ließe sich der Kohlendioxidausstoß, der beim Bau entsteht, deutlich verringern. Aber auch Tunnel aus Beton können heute klimafreundlicher als bisher gebaut werden, wenn auf die richtige Wahl des Betons Wert gelegt wird.“

Wie die Berliner Zeitung erfuhr, sind die Grundlagen für den U-Bahn-Ausbauplan bereits 2022 während eines Brainstorming-Wochenendes entstanden. Als der Beginn der Koalitionsverhandlungen absehbar wurde, hätten die Planer ihr Konzept präzisiert. Doch in der SPD gibt es Skepsis. Planer, Verwaltung und Bauwirtschaft wären schon gut ausgelastet, wenn sie „nur“ die beschlossenen Schienenprojekte endlich umsetzen würden. Sie summierten sich bereits auf mehr als zwölf Milliarden Euro.

Jens Wieseke vom Berliner Fahrgastverband IGEB sieht viele Fragezeichen. „So frage ich mich zum Beispiel, ob es sinnvoll ist, neben dem Klein- und Großprofil ein drittes U-Bahnsystem in Berlin zu schaffen“, sagte er am Freitag. In zahlreichen Einzelheiten sei der Plan unausgegoren. Die Ringlinie U0 würde fast nur aus Kurven bestehen, so Wieseke. In Weißensee im Nordosten Berlins würde die Strecke sensible Bereiche berühren. „Den Jüdischen Friedhof könnten die Tunnelbauer nur im teuren Schildvortrieb unterqueren. Eine offene Bauweise mit Baugruben wäre ebenso wenig möglich wie der Bau von Notausstiegen.“ Eine Streckenführung als Hochbahn wäre dort ebenfalls nicht möglich.

„Berlin und die BVG sind aus ihrer Lethargie aufgewacht. Das finde ich gut“

Markus Hecht wirbt dafür, die Vision des Landesunternehmens nicht zur Seite zu schieben. „Es ist gut, dass die BVG nun kreativ geworden ist“, lobte er. „Die große Koalition sollte die Vorschläge sorgfältig prüfen und weiterentwickeln und zur Grundlage der künftigen Berliner Verkehrspolitik machen. Überhaupt sollte der Senat aktiver werden, wenn es darum geht, die Zukunft zu planen. Berlin und die BVG sind aus ihrer Lethargie aufgewacht. Das finde ich gut.“