Mobilität

U-Bahn-Revolution: Das steht im Masterplan der BVG – und das steckt dahinter

„Größenwahn“, „Nullnummer“: Die Reaktionen auf das 318-Kilometer-Ausbaukonzept fallen kritisch aus. Doch es gibt Vorbilder. Wie realistisch sind die Ideen?   

Künftig wird das Studium des Liniennetzplans länger dauern.
Künftig wird das Studium des Liniennetzplans länger dauern.Chrostoph Söder/dpa

Mit der U-Bahn nach Weißensee, Hohenschönhausen, Staaken, Kleinmachnow – und zu vielen anderen neuen Zielen. Das Konzept, mit dem die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) Schlagzeilen gemacht haben, sieht mehr als eine Verdoppelung des Streckennetzes vor. Highlight ist eine Ringlinie. Doch bislang fallen die Reaktionen skeptisch bis spöttisch aus. Von einem „Aprilscherz“ und von „Größenwahn“ ist die Rede. Auch der SPD-Politiker Sven Heinemann, der bei den Verhandlungen der Koalition die Arbeitsgruppe Mobilität, Klimaschutz und Umweltschutz leitet, teilt die Zukunftsbegeisterung der BVG nicht. Was steckt hinter dem BVG-Plan? Und wie realistisch ist er?

Worum geht es? Bislang hielt sich die BVG in der Öffentlichkeit mit Vorschlägen dieser Art zurück. Wenn überhaupt, beschränkte sich das Landesunternehmen auf kleine Vorhaben wie die Verlängerung der U3 zum Mexikoplatz. Deshalb war die Überraschung gelungen, als am Wochenende das Konzept „Expressmetropole Berlin“ bekannt wurde. So einen Aufschlag, eine so weitreichende infrastrukturpolitische Vision hat es in dieser Stadt schon lange nicht mehr gegeben. Das 16-seitige farbig illustrierte Papier, das Anfang März vorgelegt wurde, sieht nicht mehr und nicht weniger vor, als das derzeit 147 Kilometer lange Streckennetz der Berliner U-Bahn auf 318 Kilometer zu erweitern.

Wo soll das Netz zuerst wachsen? In einer ersten Phase werden alle neun Linien verlängert – in fünf Fällen an beiden Enden. Dadurch bekommen rund eine Million Berliner neue schnelle Direktverbindungen, die zum Beispiel im Spandauer Ortsteil Staaken und in Zehlendorf-Düppel an die Stadtgrenze oder im Fall des Flughafens BER darüber hinaus führen. Ein Schwerpunkt ist es, die Außenbezirke besser anzuschließen, so die BVG. „Das heutige Netz erschließt überproportional die Innenstadt.“

So soll das U-Bahn-Netz in Berlin wachsen. Ambitioniertestes Projekt ist die Ringlinie U0.
So soll das U-Bahn-Netz in Berlin wachsen. Ambitioniertestes Projekt ist die Ringlinie U0.Quelle: BVG. Grafik: Mónica Rodríguez/ Berliner Zeitung

U-Bahnen nach Lichterfelde Ost, Weißensee - und unter der Torstraße

Was ist in der ersten Stufe geplant? Die U1 wird künftig vom Park-and-Ride-Platz Staaken im äußersten Westen Berlins zum Antonplatz in Weißensee führen. Die U2 verläuft vom Falkenhagener Feld in Spandau nach Pankow Kirche. Die U3 soll Düppel-Kleinmachnow mit der Warschauer Straße verbinden. Die heute relativ kurze Linie U4 führt in Zukunft vom Nollendorfplatz zur Appenzeller Straße in Lichterfelde Ost. Die U5 aus Hönow wird bis Jungfernheide verlängert, die U6 aus Alt-Tegel im Süden zur Nahariyastraße in Lichtenrade. Die U7, heute schon die längste U-Bahn-Linie, soll die Gatower Straße mit dem Flughafen BER verknüpfen. Die U8 führt vom Märkischen Viertel nach Buckow Süd, die U9 von Pankow-Heinersdorf zur Buckower Chaussee.

Welche Neubauprojekte sieht die zweite Stufe vor? Zwei Linienverlängerungen sollen die Erreichbarkeit des Nordostens verbessern. Demnach soll die U3 in Zukunft über den Wittenbergplatz hinaus zum Alexanderplatz, zur Greifswalder Straße, zum Antonplatz, nach Hohenschönhausen und Falkenberg verlaufen. Da die erste Stufe des Konzepts vorsieht, die U3 im Süden bis Düppel-Kleinmachnow zu verlängern, würde eine große Durchmesserlinie entstehen. Das gilt auch für die U4, die künftig in Lichterfelde Ost beginnen soll. Der BVG-Plan sieht vor, sie vom Nollendorfplatz zum Glambecker Ring in Marzahn zu verlängern – über Hauptbahnhof, Rosenthaler Platz, Rosa-Luxemburg-Platz und Landsberger Allee. In Mitte bekäme die Torstraße eine U-Bahn.

Und die dritte Stufe? Sie ist das wohl ambitionierteste Teilprojekt: eine „komplett neue Ringlinie“, die „schnelle, direkte Verbindungen zwischen den wichtigsten Zentren der äußeren Stadt“ schaffen soll, wie die BVG erläutert. Die künftige Linie U0 soll zum Teil weit außerhalb der 37 Kilometer langen Ringbahn verlaufen – damit würde sie deutlich länger als der S-Bahn-Ring. Zu den Stationen der neuen U-Bahn-Ringlinie würden Schöneweide, Karlshorst, Tierpark, der Antonplatz, Pankow, Jungfernheide, das Westkreuz, Steglitz, Mariendorf und Buckow gehören.

Geht es auch um den Straßenbahn- und Busverkehr? Ja. „Straßenbahnen und Busse sorgen für eine schnelle Anbindung der Kieze an die Bahnhöfe der U- und S-Bahn sowie für kurze Querverbindungen“, so die BVG. Sie will eine „konsequente Weiterplanung und schnellstmögliche Umsetzung der bestehenden Straßenbahnausbauprojekte“ sowie die „Erweiterung des Straßenbahnnetzes in Richtung Westen und Lückenschlüsse im heutigen Netz“. Eine Karte zeigt neue Strecken etwa nach Spandau, Steglitz, zum Bahnhof Zoo und von dort nach Neukölln sowie Baumschulenweg. Vorgesehen sind zudem „neue Express- und Metrobustrassen zur kurzfristigen Stärkung wichtiger Relationen, auch über die Stadtgrenze hinaus“. Für die Spandauer Ortsteile Gatow und Kladow schlägt die BVG vor, Seilbahnen über die Havel hinweg zu bauen.

BUND: Für das Geld könnte Berlin bis zu 1700 Kilometer Straßenbahn bauen

Wie lang wird der Ausbau des U-Bahn-Netzes dauern? Und wie viel Geld wird das Ganze kosten? Als Zeithorizont gibt die BVG „zukünftig“ an, zu den Kosten schweigt sich das Konzept aus. Laut dem Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) Berlin werde die Realisierung „nicht unter 35 Milliarden Euro kosten. Das ist mehr Geld, als Berlin bis 2035 für Ausbau und Modernisierung des kompletten Nahverkehrsnetzes einsetzen will. Damit ließen sich bis zu 1700 Kilometer Straßenbahnstrecken errichten“, hieß es. Beispiel aus der Praxis: Elf Jahre dauerte es, die U5 in Mitte zu verlängern. Für die 2,2 Kilometer langen Tunnel hat die BVG Projekt GmbH 525 Millionen Euro veranschlagt.

Was bezweckt die BVG? Die BVG Projekt GmbH braucht neue Beschäftigung. Sonst besteht die Gefahr, dass Fachleute abwandern. Zudem endet der gültige Nahverkehrsplan in diesem Jahr, eine Novellierung steht an. Doch der wichtigste Anlass, kurzfristig vorzupreschen und Pflöcke einzurammen, sind die Verhandlungen der großen Koalition. Das Konzept ist maßgeschneidert für CDU und SPD. Beide Parteien wollen, anders als die Grünen, den U-Bahn-Bau vorantreiben. Sie fordern bessere Verbindungen in die Außenbezirke, nachdem die Grünen angeblich die Innenstadt bevorzugt haben. Mit dem Plan, eine Seilbahn nach Kladow zu bauen, dürfte sich auch der künftige Regierende Bürgermeister Kai Wegner (CDU), der in Kladow wohnt, gut bedient fühlen.

Neun U-Bahnlinien gibt es in Berlin. Alle Strecken sollen verlängert werden, sieht das BVG-Konzept vor.
Neun U-Bahnlinien gibt es in Berlin. Alle Strecken sollen verlängert werden, sieht das BVG-Konzept vor.Grafik: Hüther, Simon (V-UK1)

Wer steckt dahinter? Insider berichten, dass es nicht die Chefebene mit der Noch-Vorstandsvorsitzenden Eva Kreienkamp war, die hier Chancen gewittert und genutzt hat. Dem Vernehmen nach hat Klaus Emmerich, der als Bereichsleiter für die Angebotsplanung zuständig ist, die Arbeiten an dem Konzept vorangetrieben. Berichtet wird auch, dass Ute Bonde beteiligt ist. Als Finanz-Geschäftsführerin der BVG Projekt GmbH hat sie ein Interesse daran, dass ihre Leute neue Arbeit bekommen. Von Mai an ist Bonde Geschäftsführerin des Verkehrsverbunds Berlin-Brandenburg.

SPD-Politiker: „Wir haben kein Ideen-, sondern ein Umsetzungsproblem“

Wie reagiert die große Koalition? „Ich sehe das als Vision und ambitionierten Debattenbeitrag. Die Realität ist eine andere. Das weiß ich aus eigener leidvoller Erfahrung: Für mehr Verkehr auf die Schiene braucht man einen langen Atem“, sagt Sven Heinemann gegenüber der Berliner Zeitung. Bei den Koalitionsverhandlungen leitet der Sozialdemokrat die Arbeitsgruppe Mobilität, Klimaschutz und Umweltschutz. „Für mehr Verkehr auf die Schiene braucht man einen langen Atem. Wir haben kein Ideen-, sondern ein Umsetzungsproblem. Wir brauchen vielmehr einen gesellschaftlichen Konsens, dass der öffentliche Verkehr Klimaschützer Nummer eins ist.“

Welche Reaktionen gibt es in anderen Parteien? Die „Striche auf der Karte sind leider das genaue Gegenteil davon, was wir in der Verkehrspolitik brauchen und wofür die Linke immer stand: Prioritäten setzen und endlich machen, statt nur zu planen“, sagt der Linke-Verkehrspolitiker Kristian Ronneburg. Er befürchtet, dass das Konzept „letztlich vor allem dazu dienen soll, den Straßenbahnausbau auszubremsen. Rot-Grün-Rot hat 2021 einen Plan entworfen, wie der Ausbau von Straßenbahn und U-Bahn gemeinsam vorangebracht werden kann. Wenn CDU und SPD die BVG-Pläne für bare Münze nehmen sollten, werden sie sich hoffnungslos verzetteln, und es wird nichts mehr passieren. Es sei denn, es geschieht ein Wunder, und es wird in den nächsten 100 Jahren unbegrenzte personelle und finanzielle Mittel sowie eine unerschöpfliche Zahl an Bohrern geben.“

Der AfD-Verkehrspolitiker Rolf Wiedenhaupt sieht die Urheberschaft bei seiner Partei:  „Es ist gut, dass die BVG offenbar konkrete Vorschläge der AfD-Fraktion aufnehmen möchte, das Berliner U-Bahn Netz deutlich zu erweitern.“ Er wies Forderungen zurück, stattdessen das Straßenbahnnetz zu verlängern. Dafür müsste Straßenraum „vernichtet werden müsste, der besser für den Wirtschafts- und Individualverkehr sowie für Fahrradfahrer und Fußgänger genutzt werden könnte".

„Die neue Ringlinie heißt U0. Das Ganze ist also eine echte Nullnummer“

Was sagt der Fahrgastverband IGEB? „Ein ganz besonderer Aprilscherz der BVG – mehr aber auch nicht“, kommentiert der Verband. Und lästert: „Die neue Ringlinie heißt U0. Das Ganze ist also eine echte Nullnummer.“ Was die BVG plane, sei „ein nicht nur unrealistisches und größenwahnsinniges, sondern vor allem auch unsinniges Projekt“. Alle Erweiterungen würden halb so teuer wie die Aufstockung der Bundeswehr, die Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) versprochen hat: „Nimmt man die Erfahrungswerte der letzten Jahre zum Maßstab, werden es ohne Berücksichtigung von Preissteigerungen 40 bis 50 Milliarden Euro sein – also ein halber Wumms.“ Die Sanierung bestehender Strecken sei dringlicher. Einigen Nahverkehrsfans ist die Stellungnahme zu negativ. Offenbar gebe es bei der IGEB „persönliche Aversionen gegen einen U-Bahn-Ausbau“. 

Wie kommentieren andere Verbände den Plan? Axel Schwipps vom Bündnis Schiene Berlin-Brandenburg weist darauf hin, dass es bereits eine Ringlinie in Berlin gibt – den S-Bahn-Ring. „Weiter außerhalb genügt vom Verkehrsaufkommen her die Straßenbahn. Im Übrigen ist U-Bahn-Ausbau mit seinem gewaltigen, Kohlendioxid erzeugenden Zement- und Stahlverbrauch nicht mehr zeitgemäß und in einigen Jahren gemäß Bundesklimagesetz auch so nicht mehr machbar.“ Der BUND Berlin verlangt „zügig mehr Straßenbahn statt U-Bahn-Größenwahn. Nur mit der Tram kann Berlin vergleichsweise zügig eine flächendeckende Verbesserung des Nahverkehrs erreichen“, so Landesgeschäftsführer Tilmann Heuser. Er befürchtet, dass der Straßenbahnausbau zum Erliegen käme. „U-Bahnen sind Hochleistungsverkehrsmittel, die ihre Berechtigung auf entsprechend stark nachgefragten Korridoren haben. Die sind in Berlin allerdings fast vollständig abgedeckt.“

Längst nicht der erste Masterplan dieser Art

Ist dies die erste Vision dieser Art? Mitnichten. In Berlin gab es über die Jahre keinen Mangel an groß angelegten Konzepten. So legte die BVG 1929 einen Plan für ein 165-Kilometer-Netz vor. Auch darin war eine Ringlinie vorgesehen – die allerdings innerhalb des S-Bahn-Rings verlaufen sollte, im Osten im Verlauf der heutigen Straßenbahnlinie M10. Im Entwurf der Abteilung Tiefbau der West-Berliner Senatsverwaltung von 1953 war ebenfalls eine innerstädtische Ringtrasse enthalten. Die Fortschreibung mündete 1955 in der ersten Version des 200-Kilometer-Plans, der in den folgenden Jahrzehnten immer neue Fassungen erhielt. Zu den Projekten gehört die U10 von Lichterfelde über Steglitz in Richtung Schöneberg, die unter Rhein- und Hauptstraße verlaufen soll.

Wie wahrscheinlich ist es, dass das neue BVG-Konzept realisiert wird? Ein Blick in die Vergangenheit lohnt. Schon der 1929er-U-Bahn-Plan der BVG landete bald im politischen Aus. Denn 1931 verkündete der Magistrat wegen Geldproblemen das vorläufige Aus des U-Bahn-Baus. Die Nationalsozialisten maßen anderen Projekten, etwa dem S-Bahn-Tunnel, mehr Bedeutung bei. Auch die 1955 erstmals vorgestellten und später aktualisierten Pläne des West-Berliner Senats, das Streckennetz von einst 81 auf 204 Kilometer zu verlängern, blieben unvollendet. U-Bahn-Bau ist kostspielig, er bindet große Planungs- und Verwaltungskapazitäten. Damit der Bund Geld gibt, müssen die Projekte zudem harte Wirtschaftlichkeitsprüfungen bestehen. Alles deutet darauf hin, dass das Konzept „Expressmetropole“ das Schicksal seiner Vorgänger teilen wird.