Berlin-Schöne Menschen können ein Graus sein – zumindest für ermittelnde Polizisten. Schönheit, also das, worauf sich die Gesellschaft geeinigt hat, kann das Wiedererkennen eines Verbrechers oder einer Verbrecherin mit ebenmäßigem Gesicht erschweren. Denn einem ebenmäßigen Gesicht fehlen die außergewöhnlichen Merkmale – die Hakennase, die besonders weit oder eng stehenden Augen, die markanten Wangenknochen. „Je schöner das Gesicht ist, desto unwahrscheinlicher ist es, dass man es gut beschreiben und auch wiedererkennen kann, beispielsweise um mit einem Phantombild den entsprechenden Täter zu finden“, sagt Grit Schüler.
Die promovierte Humanbiologin leitet im Kriminaltechnischen Institut der Berliner Polizei den Bereich Visuelle Personenidentifizierung. Sieben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiten hier, davon drei als Sachverständige. Mehrere Tausend Aufträge für Lichtbildvergleiche und Gesichtserkennungsrecherchen bekommen sie pro Jahr auf den Tisch: Fälle von Raub, Körperverletzung, Taschendiebstahl, Sexualstraftaten, Mord – alles, was von einer Kamera festgehalten wurde. Sie haben dann die nicht immer leichte Aufgabe, herauszufinden, ob ein Zeuge recht hat, wenn er in der polizeilichen Lichtbildkartei einen Straftäter wiedererkannt haben will. Oder ob ein von der Polizei schon erkennungsdienstlich erfasster und fotografierter Verdächtiger beim Raub von einer Überwachungskamera gefilmt wurde.
2020 kam Grit Schüler nach Berlin zur Kriminaltechnik. Bis dahin war sie am Forensischen Institut Zürich. 2019 hatte sie für großes Aufsehen mit einer fotorealistischen Rekonstruktion des Künstlers Leonardo da Vinci anlässlich seines 500. Todestages gesorgt. Vorlage war unter anderem ein Bild des Malers Francesco Melzi, das ihn alt und mit Rauschebart zeigt. Grit Schüler und Bernd Roeck, der eine Leonardo-Biografie verfasst hat, ließen da Vinci als Enddreißiger wiederauferstehen. Das Ergebnis war ein glattrasierter Mann mit langem kastanienbraunem Haar, der gut aussah.
2 Prozent sind gesichtsblind und 2 Prozent sind „Super-Recognizer“
Doch wie bei Rekonstruktionen historischer Persönlichkeiten hat auch das Wiedererkennen heutiger Menschen seine Tücken. Je eigenschaftsloser ein Verbrechergesicht auf einem veröffentlichten Phantombild ist, desto mehr Menschen melden sich bei der Polizei, weil sie den Gesuchten soeben ganz bestimmt in ihrer Nachbarschaft gesehen haben. Auch die oft unscharfen Fahndungsfotos, die die Polizei veröffentlicht, bringen oft nichts. Einige stehen schon seit Jahren auf der Internetseite der Behörde. Bei Veröffentlichungen von gestochen scharfen Bildern sind die Verdächtigen hingegen nicht selten nach Stunden identifiziert. Weil ihre Besonderheiten, ihre „morphologischen Merkmale“, erkannt werden.

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„Der Gesichtssinn liegt uns allen zugrunde“, sagt Grit Schüler. „Über das Gesicht bekommen wir von unserem Gegenüber wichtige Informationen. Ob die Person gerade aufmerksam ist oder nicht, was sie fühlt. Ob der Mensch uns bekannt ist oder nicht, ob er uns wohlgesonnen ist oder nicht. Das war in der Evolution ganz entscheidend wegen des Fluchtinstinkts“, sagt die Biologin. „Ein Gesicht löst im Menschen einen Erkennungsmechanismus aus. Wir versuchen es zunächst einzuordnen und schließlich probieren wir, ob wir dem Gesicht einen Namen zuordnen können.“
Laut manchen Schätzungen kann der Mensch durchschnittlich 5000 Gesichter wiedererkennen. Die Fähigkeiten sind allerdings unterschiedlich verteilt. Am linken Ende der Gaußschen Glockenkurve sind die 2 Prozent der Bevölkerung, die an Prosopagnosie leiden, der sogenannten Gesichtsblindheit. Es sind Menschen, für die alle Gesichter gleich aussehen.
Am rechten Ende sind ebenfalls nur 2 Prozent: jene Menschen, die sich überdurchschnittlich gut Gesichter einprägen und diese wiedererkennen können, sogar, wenn sie diese nur kurz gesehen haben. Sie sind sogenannte Super-Recognizer. Die erste Einheit von Mitarbeitern mit Superblick wurde bei Scotland Yard in London gegründet.

Auch die Berliner Polizei sucht Menschen mit diesen Fähigkeiten. Super-Recognizer sind „Wiedererkenner“, aber sie können nicht identifizieren. Bis auf die Prosopagnostiker hat jeder die intuitive Fähigkeit, Gesichter zu erkennen. Deshalb will Grit Schüler dringend mit einem weitverbreiteten Missverständnis aufräumen: „Wiedererkennen bedeutet nicht, zu identifizieren und jemandem eine Personalie zuzuordnen.“
Ein Zeuge kann einen Täter „wiedererkennen“. Ein Zeitungsleser kann auf einem Phantombild einen Täter „wiedererkennen“ und auch jemand, der vor einer plastischen Rekonstruktion eines Gesichts steht, die anhand eines Schädels geformt wurde. Aber das ist eben keine gerichtsfeste Identifizierung, die wissenschaftlich, nachvollziehbar und unvoreingenommen sein muss - um einen Verdacht zu bestätigen oder auch um jemanden als Verdächtigen auszuschließen.

Genau dies ist die Aufgabe des Bereichs Visuelle Personenidentifizierung. Die Sachverständigen müssen einer unbekannten Person eine Identität zuordnen. Und das ist möglich. Denn jeder Mensch ist einmalig, sogar eineiige Zwillinge sind es. Ihre Gesichter unterscheiden sich durchaus – schon als Kinder und später dann umso mehr, geprägt durchs Leben. Auf ihrem Monitor zeigt Grit Schüler ein Foto zweier Männer, die eineiige Zwillinge sind. Einer hat leichte Säcke unter den Augen, leichte Falten an der Wange und eine kleine Lidspaltenöffnung. Sogar der Augenabstand unterscheidet sich bei den beiden. Die Nasenflügel des einen sind asymmetrischer als die des anderen. In der Ober- und Unterlippe sind feine Unterschiede, auch beim Bartansatz.
„Man sieht immer Unterschiede“, sagt sie. „Das ist die Grundlage für unsere Identifizierungsarbeit.“ Schüler und ihre Kollegen beschreiben dabei die Merkmale in den einzelnen Regionen von Stirn, Augen, Nase, Mund. Sie legen Hilfslinien über die Bilder, um die Abstände zu vergleichen. Schauen sich auf den Vergleichsbildern die Proportionen und Körperverhältnisse zueinander an. Deshalb passen sie das Bildmaterial beim Vergleich am Schirm zueinander an: Den mittleren Augenbrauenpunkt, den mittleren Mundspaltenpunkt, Nasenbreite, Pupillenabstand, Form des Orbitalverlaufs, also der Augenhöhlenränder. An Hilfslinien können sie ablesen, ob eine Nase breiter ist oder die Abstände der Pupillen größer oder kleiner sind. Wenn sie die Möglichkeit haben, nehmen sie auch selbst Vergleichsbilder von Personen auf, entweder im Fotostudio des LKA oder in der Haftanstalt.
Die Auflösung der Überwachungskameras ist oft zu schlecht
Nicht immer bekommt man einen Verdächtigen ins Fotostudio. Manchmal gibt es nur ein unscharfes Foto aus einer Überwachungskamera. Bei einer solchen „One-to-many-Suche“ scannt eine Software die erkennungsdienstlichen Datenbanken durch, ob diese Person schon einmal von der Polizei fotografiert wurde. Algorithmen liefern dann Fotos ähnlicher Personen.
Doch Algorithmen sind auch nur „Wiedererkenner“. Ähnlich wie bei den Fingerabdrücken ist es der Mensch, der die Entscheidung trifft. Die Sachverständigen arbeiten vor Gericht mit Wahrscheinlichkeitsstufen: Die Person ist es „wahrscheinlich“ oder „sehr wahrscheinlich“, „höchst wahrscheinlich“ oder „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“.
In einem Fall hatte es Grit Schüler mit Geldkartenbetrug zu tun. Eine Frau hatte sich vermummt und mit einer gestohlenen Karte Geld abgehoben. Sie konnte an den Merkmalen ihrer Augen identifiziert werden. „Aber es hängt eben immer von der Bildqualität ab“, sagt die Sachverständige.
Und die Bilder sind – gelinde ausgedrückt – von unterschiedlicher Qualität. Mal ist die Kamera so weit oben montiert, dass das Gesicht, auf das es ankommt, verzerrt und zu weit weg ist. Mal ist die Auflösung so schlecht, dass die Gesichtsmerkmale nicht mehr zu erkennen sind. Dann wird es nichts mit dem Identifizieren. Der ermittelnde Kommissar, der sich jeden Tag mit einem und demselben Täter befasst, wird ihn auch bei schlechter Bildqualität wiedererkennen. Aber die Sachverständigen der Kriminaltechnik müssen für das Gericht verfolgbar machen, warum es sich um diese Person handelt: indem sie ihm morphologische Merkmale zuordnen, die ihn individualisieren.

Im Sonntagskrimi können die Ermittler noch aus den schlechtesten Aufnahmen ein Verbrechergesicht zaubern. Doch wo nichts ist und eine Nase nur noch drei Pixel hat, kann man nichts herausholen. Das Interpolieren, also das Hochrechnen von Bildern durch das Einfügen zusätzlicher Pixel, kann sogar gefährlich werden, weil ein anderes Gesicht herauskommen kann. Gleiches gilt auch für Datenbanken: Gibt man ein schlechtes Bild ein, dann bekommt man etliche „Treffer“ auf ebenso schlechte Bilder. „Man kann auch ein Punkt-Punkt-Komma-Strich-Bild eingeben. Die Frage ist nur, was herauskommt“, sagt Grit Schüler. „Das Entscheidende ist am Ende die Person, die die Identifizierung durchführt, die 15 Jahre Altersdifferenz erkennt oder auch kosmetische Operationen. Menschen können ihre Arbeit dokumentieren und nachvollziehbar machen. Algorithmen können das nicht.“
Und was ist mit Leonardo? Wenn einer mit einem Gesicht wie von Grit Schüler rekonstruiert beim Diebstahl einer Flugmaschine oder eines Gemäldes gefilmt worden wäre? „Nach heutigen Kriterien würde er nicht unbedingt als schön eingeordnet werden“, sagt die Forensikerin. „Schönheit liegt im jeweiligen Zeitalter begründet. Ich finde sein Gesicht recht markant.“ Eine gute Voraussetzung, um jemanden zu identifizieren.













