Berlin-Die junge Frau hatte ordentlich gefeiert und war durch die Bars gezogen. Betrunken setzte sie sich in ihren Mercedes, um nach Hause zu fahren. Alkoholbedingt war ihr Blickfeld eingeengt, als der Fahrer eines geparkten Lkw am Anhänger seines Lasters werkelte. Als er einen Bremsklotz unter dem Reifen hervorzog, um loszufahren, wurde er von einem Auto angefahren. Er erlitt mehrere Beinbrüche, zwei Halswirbelfrakturen und eine Hirnblutung. Das Unfallauto fuhr weiter.
Eine Mordkommission nahm Ermittlungen wegen versuchten Mordes durch Unterlassen auf. Der Zusammenprall war so stark, dass blaue Lacksplitter vom Unfallauto auf der Straße zurückblieben. Die Spurensicherung fand auch ein kleines blau lackiertes Plastikteil des Stoßfängers. An der Hose und am T-Shirt des Unfallopfers entdeckten Kriminaltechniker ebenfalls Lacksplitter.
Die Ermittler schickten die Splitter zum Fachbereich „Physik/Chemie/Textilien“ des Kriminaltechnischen Instituts am Tempelhofer Damm. Dieser Bereich mit dem Kürzel KTI 43 gehört zu den thematisch vielfältigsten im Institut. Wissenschaftler untersuchen hier zum Beispiel Brandschutt auf Benzinrückstände. Sie bestimmen die Echtheit von Gemälden und analysieren unbekannte Substanzen sowie Sicherheitstinten. Letztere befinden sich in Kassetten von Geldautomaten. Werden die Kassetten unbefugt geöffnet, explodieren die Farbpatronen und tränken die Geldscheine mit Farbe, die die Beute entwertet. Die Tinte enthält Merkmale, an denen der jeweilige Automat identifiziert werden kann. Solche eingefärbten Geldscheine landen dann im Labor von KTI 43, wenn mal wieder jemand versucht hat, sie bei einer Bank einzuzahlen oder damit im Laden einzukaufen.
Die Chemiker untersuchen auch Lacke: sichergestellte Graffiti-Sprühdosen, Inhalte von Farbbeuteln, die Linksautonome gegen Häuser warfen, den Lack von Einbruchswerkzeugen. Einmal hatten sie eine Schädeldecke auf dem Tisch, die ihnen die Rechtsmedizin brachte. Auf dem Knochen hafteten Spuren des Lackes der Mordwaffe.
Opel Corsa „Cityrot“, Baujahr 2001 bis 2002
In ihrem Bestand haben die Chemiker auch etwa 18.600 Proben von Autolacken – runde sogenannte Stanzlinge aus Blech von einem Zentimeter Durchmesser. Sie stammen von Schrottplätzen, aus Werkstätten und manchmal von Autoherstellern. Die Plättchen, die wie bunte Smarties aussehen, werden für Vergleichsuntersuchungen benutzt. Auch andere Landeskriminalämter haben solche Sammlungen, deren Messdaten in einer Datenbank des BKA zusammengeführt sind. Über hunderttausend Lackdaten sind dort gespeichert. Die Proben stammen aus verschiedenen Zeiten von verschiedenen Herstellern, von denen viele individuelle Lacke verwenden. So lässt sich bestimmen: Opel Corsa „Cityrot“, Baujahr 2001 bis 2002.
„In den vergangenen Jahren ist es schwieriger geworden, die Fahrzeuge einzugrenzen“, sagt Marlena F. Die Chemikerin ist Spezialistin für Lacke. „Denn immer öfter werden die gleichen Lacke verwendet. Sowohl Auto- als auch Lackhersteller fusionieren, Zulieferer beliefern verschiedene Automarken.“

Optimal ist es für die Chemikerin, wenn sie Lacksplitter unters Mikroskop bekommt, bei denen alle vier Schichten erhalten sind: der Klarlack, der Basislack als farbgebende Schicht, der Füller, die Grundierung. „Die oberste und die unterste Schicht sind am meisten standardisiert, weshalb es wichtig ist, dass die Lacksplitter den kompletten Aufbau haben“, sagt Marlena F. Über den Klarlack allein ein Auto zu finden, sei schwierig.
Die besten Chancen auf einen Treffer haben die Chemiker, wenn sie es mit höherwertigen Autos zu tun haben. Bei diesen unterscheiden sich die Lacke stärker. Und am liebsten sind ihnen Autos der höchsten Preiskategorie – Ferrari etwa. Oder Porsche. Wenn so einer in einen Unfall verwickelt ist, ist die Wahrscheinlichkeit, ihn zu finden, hoch.
Geradezu wie ein individueller Fingerabdruck sind Splitter, die von nachlackierten Karosserieteilen stammen. Kürzlich hatten sie im Labor eine Probe, die oben rot war, darunter grau, darunter schwarz, darunter lag blauer Effektlack und darunter wiederum schwarzer Effektlack. „Wenn alle diese Schichten bei einem Unfall übertragen werden, kann man schon von einer Identifizierung sprechen“, sagt Marlena F.
Bei der Lackfahndung werden über den Lack und dessen Farbton das Fahrzeugmodell und dessen ungefähre Bauzeit eingegrenzt. Dann schaut das ermittelnde Kommissariat im Melderegister, wie viele solcher Autos in Berlin zugelassen sind. Polizisten fahren dann die Fahrzeughalter an und gleichen ab, ob ihr Auto Unfallspuren aufweist, deren Erscheinungsbild zum Unfall passt.
Die polnische Polizei fand das Auto in Stettin wieder
Nach dem Unfall mit Fahrerflucht wurde genau so verfahren. Als die Chemiker die blauen Lacksplitter vom Tatort untersuchten, stellten sie fest, dass der Klarlack Siliziumdioxid-Nanopartikel enthielt, die ihn kratzfest und beständiger machten. Das deutete auf ein höherwertiges Fahrzeug hin. Die Unterseite der Grundierschicht zeigte Anteile von Aluminium. Der Lack haftete also auf Aluminiumbauteilen, etwa Motorhaube oder Kotflügel. Jetzt kam ein Audi, ein BMW oder Mercedes infrage.
Ein Lacksplitter wurde zum Bundeskriminalamt geschickt, um eine zweite Meinung einzuholen. Ein anderer Splitter wurde von einem Lackhersteller untersucht. Dieser konnte anhand des Anteils des Elements Wismut mitteilen, dass die Grundierung zwischen 2007 und 2011 verwendet wurde. Das BKA stellte eine Übereinstimmung mit dem Lack „Cavansitblau“ von Mercedes fest.
Die Mordkommission ermittelte einen passenden Mercedes in Cavansitblau, Erstzulassung 11. November 2011. Die Halteradresse war einen halben Kilometer vom Unfallort entfernt. Bei der Polizei wurde der Wagen einen Tag nach dem Unfall als gestohlen gemeldet.
Die polnische Polizei fand ihn in Stettin wieder. Die Polizei überführte das Auto nach Berlin ins Kfz-Labor der Kriminaltechnik. Der rechte Kotflügel war demoliert. Später kam vor Gericht heraus, dass der Freund der Unfallfahrerin das Auto nach Polen gebracht hatte, um es billig zu verkaufen, was ihm aber nicht gelang, weil die Händler misstrauisch wurden. Also nahm er einen Stein und zertrümmerte den Kotflügel weiter, um die Unfallspuren zu vernichten.

Als der Wagen bei der Polizei stand, konnten die Chemiker den Lacksplitter vom Unfallort mit dem Lack des Autos vergleichen. Bei solchen Untersuchungen ist das Mikroskop das Hauptarbeitsmittel. Mit ihm wird am Farbton und der Verteilung der Pigmente festgestellt, ob zwei Lackproben identisch sind. Ab 200-facher Vergrößerung erscheinen bei einer schwarzen Probe mitunter auch grüne, blaue und lila Pigmente.
Marlena F. schiebt die Probe eines grünen Metallic-Lacks unter das Mikroskop. Je stärker sie vergrößert, desto stärker zeigen sich die silberschimmernden Aluminiumteilchen, die den Metallic-Effekt verursachen. Auch die anderen Farbpigmente erscheinen plötzlich nicht mehr nur grün, sondern auch rot und blau. Und auch eine silberne Lackierung wirkt unter starker Vergrößerung bunt gescheckt. An Form, Anzahl und Verteilung der Pigmente kann man sehen, ob zwei Proben übereinstimmen.
Unterscheiden sich die Proben bereits unterm Vergleichsmikroskop, dann können die Sachverständigen eine Übereinstimmung sofort ausschließen. Unterscheiden sie sich nicht, dann gehen sie auf die nächste Ebene: die der Infrarot-Spektroskopie, um die chemische Zusammensetzung zu sehen. Können sie auch hier keine Unterschiede sehen, bleibt die Raman-Spektroskopie, mit der die Pigment-Zusammensetzung untersucht wird. Schließlich gibt es die Raster-Elektronenmikroskopie, um auf der atomaren Ebene zu sehen, ob die Probe Elemente wie Aluminium, Silizium oder Chlor enthält. Auch dies muss bei einem Spurenvergleich übereinstimmen.
Die Chemiker werden bei sogenannten Lackfahndungen gebraucht, bei denen es nur Spuren vom Tatort gibt, und auch zu Schnelluntersuchungen, bei denen sie vergleichen, ob Spuren zueinanderpassen. Jährlich fallen rund 500 Bagatellfälle an wie Parkplatz-Rempler. Oder jemand täuscht einen Unfall vor, indem er behauptet, ein unbekanntes Auto habe ihn gerammt. Doch ein Poller, gegen den er versehentlich fuhr, war völlig anders lackiert, als es Autos sind. Gleiches gilt für Laternenmasten, deren grüne Farbe ein Korrosionsschutz-Pigment enthält.
Die Form des Farbsplitters passte
Im Fall des schwer verletzten Lkw-Fahrers ergaben die Vergleichsuntersuchungen, dass die Lacksplitter vom Unfallort zu dem in Polen gefundenen Auto gehörten: kratzfester Klarlack, Wismut in der Grundierung, Übereinstimmung im Farbton und der Pigmentverteilung mit „Cavansitblau“.

Den endgültigen Beweis lieferte dann die Form eines Lacksplitters. Der Freund der Unfallfahrerin hatte zwar heftig auf den Kotflügel eingedroschen, aber die Stelle verfehlt, von der der Splitter stammte. Er konnte deshalb zweifelsfrei eingepasst werden. Auch die Oberflächenstruktur der Unterseite der Grundierung und des Aluminiums war identisch. Das am Tatort gefundene Plastikteil des Stoßfängers passte ebenfalls zum Unfallauto, das nun identifiziert war – und schließlich auch seine Fahrerin.
Die Frau sagte vor Gericht, dass sie sich nicht an den Unfall erinnere und nicht wisse, wie sie nach Hause kam. Sie wurde zu milden 18 Monaten Bewährung verurteilt, wegen fahrlässiger gefährlicher Körperverletzung, Gefährdung des Straßenverkehrs und Vortäuschens einer Straftat. Ihre Fahrerlaubnis musste sie ein Jahr lang abgeben. Ihr Freund bekam ebenfalls Bewährung. Der Lkw-Fahrer lag ein halbes Jahr im Krankenhaus und verließ es im Rollstuhl.











