Berlin-Es war eine mysteriöse Sache: Am Morgen des 16. Oktober 2019 brach im Hermes-Versandzentrum in Haldensleben in Sachsen-Anhalt ein Betriebstechniker zusammen. Am Nachmittag wurde ein Paketbote tot am Lenkrad gefunden. Am gleichen Tag kippte im selben Versandzentrum auch noch ein Kollege mit Krämpfen um.
An einen Zufall glaubte damals kaum jemand. Das Versandzentrum wurde gesperrt, Feuerwehrleute rückten in Schutzanzügen an, der Lieferwagen wurde beschlagnahmt. In Berlin stiegen in der Tiefgarage des Landeskriminalamtes Wissenschaftler in ihren Transporter.
Mit Blaulicht rasten sie die 172 Kilometer über die A2 nach Haldensleben. „Es lag der Verdacht nahe, dass ein gefährlicher Stoff mit der Post verschickt und dort ausgetreten war“, sagt Lukasz Bucki heute rückblickend. Der 37-jährige Biotechnologe ist Leiter des Fachbereichs „Gefahrstoffe/Explosivstoffanalytik“, der zum Kriminaltechnischen Institut (KTI) gehört.
Die rund 20 Experten sind für die Abwehr akuter Gefahren chemischer, biologischer, radiologischer und nuklearer Art zuständig. Im Fachjargon heißt das CBRN-Gefahren. Die Wissenschaftler sind Teil der Analytischen Task Force (ATF) des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK). Die Task Force ist bei sieben Feuerwehren im Bundesgebiet und der Polizei Berlin mit CBRN-Erkundungswagen und Gerätewagen für Dekontamination ansässig. Sie kommt zum Beispiel, wenn ein Gefahrguttransporter auf der Autobahn umkippt.
Aus der Ferne sehen, ob im Olympiastadion Bier getrunken wird
Die Berliner Kriminaltechniker decken für die Task Force einen Radius von etwa 200 Kilometern bis zur Ostseeküste ab. Dafür werden sie vom BBK stets mit neuester Messtechnik versorgt, die sperrige Namen trägt wie Photoionisationsdetektor oder Ionenmobilitätsspektrometer oder Gaschromatograph-Massenspektrometer.
Eine wundersame Geschichte wird von Polizisten immer wieder gern erzählt: Aus fünf Kilometern Entfernung könne man sogar sehen, ob im Olympiastadion gekifft wird. Tatsächlich haben die KTI-Wissenschaftler ein vom BBK bereitgestelltes FT-Infrarot-Fernerkundungsgerät, das am Monitor die Alkohol-Ausdünstungen der Fans als farbige Wolke darstellt. Das Gerät ist allerdings für den Einsatz bei wirklichen Gefahren gedacht, etwa wenn bei einem Industrieunfall Gifte in die Luft austreten.
Der letzte große ATF-Einsatz war am 11. Februar, als in Marienfelde ein Galvanik-Betrieb brannte. „Bei solchen Bränden können Blausäure und Schwermetalle freigesetzt werden“, sagt Lukasz Bucki. Die Wolke zog weg von der Stadt. Allerdings wurde mit viel Wasser gelöscht und es war eine hohe Cyanidbelastung zu erwarten. Die Chemiker der Kriminaltechnik analysierten die Proben in ihrem Labor. In dessen Räumen herrscht Unterdruck, und wenn man die Tür öffnet, weht dort der Wind herein.
Ein Friseur hortet 70 Kanister voller Wasserstoffperoxid
Vor einiger Zeit waren die Wissenschaftler als ATF-Mission schon einmal nach Sachsen-Anhalt alarmiert worden. In einem Einfamilienhaus hatte es eine Explosion gegeben, die einem Mann die Hand zerfetzte. Zusammen mit den Entschärfern untersuchten die Berliner, ob der Mann versucht hatte, einen Sprengsatz zu basteln. Es stellte sich heraus, dass er auf chemischem Wege Gold aus elektronischen Leiterplatten gewinnen wollte.
Durchschnittlich etwa 200 Einsätze pro Jahr hat der KTI-Fachbereich „Gefahrstoffe/Explosivstoffanalytik“. Nicht alle erreichen solche Dimensionen, dass sie im Rahmen der bundesweiten Task Force laufen. „Aber wir lernen das Leben kennen und staunen immer wieder“, sagt Lukasz Bucki. So standen die Wissenschaftler einmal in der Garage eines Friseurs vor rund 70 Kanistern voller Wasserstoffperoxid. Der Haarkünstler hatte nicht etwa vor, damit eine Bombe zu bauen, sondern wollte lediglich genug Vorrat fürs Blondieren haben.

Die KTI-Experten waren auch mal bei einem „Chemie-Messie“ zu Hause. Aus Angst vor kosmischer Strahlung hatte er Alufolie vor dem Fenster und trug ein Drahtgeflecht als Unterhose. Beim Bau eines sogenannten Orgonakkumulators, der Lebensenergie aus dem Weltall sammeln soll, gingen bei ihm 250 Gramm Magnesiumpulver in Flammen auf. Als er Wasser draufkippte, gab es eine Verpuffung.
Do-it-your-self-Biologen legen Bakterienkulturen an
Und es gab den Fall eines sozial isoliert lebenden Eigenbrötlers, der in seiner Küche ein Biolabor aufgebaut hatte. Die Wissenschaftler waren von Polizisten gerufen worden, als diese gegen den Mann einen Haftbefehl vollstreckten. Der Mann hatte in Büchern und im Internet viel über Biologie gelesen und sich verschiedene Utensilien besorgt. An seiner Nase nahm er Abstriche und schaute zu, welche Bakterienkulturen da so heranwuchsen. Die Biologen der Polizei sahen am Ende keine Gefahr und konnten Entwarnung geben.
Ernst zu nehmen sind solche „Do it yourself“-Biologen trotzdem. „Das sind durchaus Menschen, die nichts Böses wollen und Interesse an Biologie oder Molekularbiologie haben“, sagt Bucki. „Wir sind dann dafür da, zu bewerten, ob das noch im Bereich des Erlaubten ist.“
Gefährliche Bastler gibt es dennoch. Als 2018 in Köln-Chorweiler ein islamistischer Terroranschlag verhindert werden konnte, erkannten die Behörden, dass solche Taten sich nicht nur auf Explosionen, Schießereien, Auto- und Messerattacken beschränken müssen. Ein Tunesier und seine deutsche Ehefrau wollten per Explosion den biologischen Kampfstoff Rizin freisetzen. Knapp eintausend Rizin-Dosen stellte die Polizei bei ihm sicher.
Nach Köln erscheinen auch Anschläge mit Pocken- und Pesterregern nicht mehr ausgeschlossen. „Aber wir sind gut vorbereitet“, versichert Bucki. Seine Experten teilen ihr Wissen mit anderen Ländern und sind – wie auch andere Fachbereiche des Berliner KTI – im Europäischen Netzwerk forensischer Institute organisiert.
Die Spezialisten spürten sogar Poker-Betrüger auf
Die Chemiker, Biotechnologen, Chemie- und Umweltingenieure und Laboranten sind rund um die Uhr erreichbar. Sie haben in ihrem Transporter ein mobiles Labor, mit dem sie schnell Substanzen identifizieren können. Etwa, wenn sie wieder zu einem Keller gerufen werden, in dem Sprengstoff hergestellt oder Drogen synthetisiert wurden. Wenn Böden kontaminiert sind. Oder wenn in Opas Keller Prüfröhrchen aus NVA-Zeiten zum Feststellen der Kampfstoffe Sarin, Soman oder VX gefunden wurden.

Sogar Poker-Betrügern spürten die Wissenschaftler nach. Im November 2016 maß der Geigerzähler am Tor einer Müllverbrennungsanlage höhere Radioaktivität in einem Müllauto. Darin lagen ausgestanzte Teile von ungültig gemachten Spielkarten. Betrüger hatten die Karten markiert – mit Jod 125, einem in der Medizin verwendeten Nuklid. Mithilfe eines Strahlendetektors am Körper konnte ein Spieler die markierten Karten erkennen und betrügen. Als die Ermittler die Route des Müllwagens zurückverfolgten, stießen sie auf einen Club in Lichtenberg. Dort fanden sie weitere radioaktive Spielkarten. Der Club war mit dem Jod-Isotop völlig kontaminiert.
Manchmal gibt es auch radioaktive Zufallsfunde. 2010 stellte ein Messwagen in Prenzlauer Berg eine Erhöhung der Radioaktivität fest. Zunächst dachten die Experten, die Strahlung käme aus einem geparkten Auto, und ließen es abschleppen. Doch die Radioaktivität blieb. Also wurde die Straße aufgerissen. Die Wissenschaftler fanden im Asphalt einen Prüfstrahler, der die Quelle für Cäsium 137 war. Solche Strahler werden unter anderem verwendet, um das Material von Wasserrohren zu prüfen. Vermutlich wurde er beim Straßenbau vergessen.
Weißes radioaktives Pulver rieselt aus einem Brief
Radioaktivität ist immer wieder mal Thema. In der Poststelle einer Botschaft schlug der Geigerzähler an. Ein Brief enthielt radioaktives Pulver. Der Absender konnte anhand der Fingerabdrücke auf dem Papier ermittelt werden: Ein verwirrter Berliner hatte ein seltenes leicht radioaktives Mineral zu Pulver zerkleinert und der Botschaft geschickt – nach eigener Aussage „als Glücksbringer“.
Briefe, aus denen Pulver rieselt, verursachen die meisten Einsätze. Frustrierte Menschen schicken solche Briefe an Botschaften und Ministerien, an Arbeits- und Sozialämter, um deren Arbeit lahmzulegen. Zurzeit sind auch Gesundheitsämter betroffen, wegen der Corona-Einschränkungen. Meistens enthalten solche Briefe harmloses Material wie etwa Zucker oder Mehl. Einmal rieselte auch Traubenzucker heraus. „Was Süßes für Euch, damit Ihr besser denken könnt“, hatte der Absender geschrieben.

Mit den Briefen angefangen hatte es 2001, als kurz nach den Terrorangriffen vom 11. September mehrere US-Nachrichtensender und Senatoren Briefe mit dem Anthrax-Erreger erhielten. Fünf Menschen starben an Milzbrand. Absender war ein US-Biowaffenexperte. Die Angst vor solchen Briefen ist immer noch groß. Nicht selten klagen Empfänger über Übelkeit. „Die Psychosomatik ist hier ein großes Thema“, sagt Bucki. „Es entstehen tatsächlich Reaktionen mit echten Symptomen.“
Auf der Suche nach chemischen Kampfstoffen
Nach den Anthrax-Anschlägen 2001 organisierte sich der Katastrophenschutz in Deutschland neu, die Berliner Polizei wurde in die Analytische Task Force des Bundes einbezogen. Denn West-Berliner Polizisten waren schon vor der Wende für Dinge verantwortlich, die normalerweise das Militär abdeckte, etwa die Kampfstoffbergung, mit der die Alliierten nichts zu tun haben wollten.



