Vor 40 Jahren hat Schweden als erstes Land für den Atomausstieg gestimmt, 2010 wurde der Plan verworfen. Nun markiert das skandinavische Land eine eigene Energiewende.
Das schwedische Parlament hat im Juni die Energiepolitik umformuliert und der Mitte-rechts-Regierung von Ministerpräsident Ulf Kristersson grünes Licht gegeben, den Ausbau neuer Atomkraftwerke im Land voranzutreiben. Wie in der Corona-Pandemie geht Schweden offenbar einen eigenen Weg.
Der neue Fokus heißt: 100 Prozent fossilneutraler statt 100 Prozent erneuerbarer, oder grüner Strom. Nicht nur der Ausbau erneuerbarer Energien wird gefördert – auch für die Atomkraftwerke gibt es jetzt großzügige Kreditgarantien. Es ist ein großer Wandel für ein Land, das sich seit langem als grüner Vorreiter bezeichnet. So will das Land die Verdoppelung des Strombedarfs auf rund 300 Terrawattstunden (TWh) bis 2040 decken und bis 2045 Netto-null-Emissionen erreichen.
„Wir brauchen ein stabiles Energiesystem“: Kein Verlass nur auf erneuerbare Energien?
„Wir brauchen mehr Stromproduktion, sauberen Strom und ein stabiles Energiesystem“, forderte die schwedische Finanzministerin Elisabeth Svantesson dazu im Parlament. Der staatliche Energieversorger Vattenfall erwägt bereits den Bau von mindestens zwei kleinen modularen Reaktoren und will die Lebensdauer der bestehenden Reaktoren verlängern. Derzeit kommen schon über 30 Prozent des schwedischen Stroms aus den Kernreaktoren, der Rest wird aus Wasser- und Windkraft erzeugt. Bis 2030 soll nach dem Plan allein die Atomkraft 50 Prozent des Stroms liefern.
Deutschland hat sich in diesem Jahr allerdings bereits von der Atomkraft verabschiedet. Aus der Expertengemeinscheit und in den sozialen Medien hört man jedoch öfter die Kritik, dass die Bundesregierung – zum Beispiel beim Gebäudeenergie- oder Heizungsgesetz – Energieeinsparung und CO2-Minderung stärker im Fokus haben sollte, als den Ausbau der erneuerbaren Energien an sich. Die Autobranche setzt sich in diesem Kontext für E-Fuels als Alternative zu Elektroautos ein, die Heizungsindustrie – für mehr Technologieoffenheit und die Förderung des Wasserstoffs, die es bisher nicht gibt. Der Weg zur CO2-Minderung müsse maximal offen sein, forderte etwa die Bauingenieurin Prof. Dr. Lamia Messari-Becker im Interview mit der Berliner Zeitung. Sämtliche Versuche, Technologien zu regulieren und Wärmepumpen oder Fernwärme hervorzuheben, müsse man ersatzlos streichen.
Grüner Strom: Sollte Deutschland sich auf CO2-Minderung fokussieren?
Inzwischen soll der Heizungsgesetzentwurf von Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) deutlich technologieoffener gestaltet worden sein. Es fehlt in Deutschland jedoch gefühlt an verlässlichen Absicherungen für den Fall, dass die erneuerbaren Energien nicht ausreichen, oder, dass der Ausbau der Stromnetze stockt. Der Bau der zusätzlichen 50 kleinen Gaskraftwerke mit einer Wasserstoff-Umstelloption verzögert sich, weil die EU-Kommission diese aus Klimaschutzgründen nicht genehmigt. Die Industrie warnt bereits davor, dass ohne diese Absicherung auch der Kohleausstieg scheitern könnte – und damit auch die deutsche Klimaneutralität bis 2045. Der Abstand zu Schweden ist bereits enorm: Der CO2-Ausstoß pro Kopf lag hierzulande im letzten Jahr bei rund 10,8 Tonnen, in Schweden dagegen bei „nur“ noch 3,8 Tonnen.
Ob der Bau moderner Atomkraftwerke in Deutschland in Jahren vorstellbar wäre – oder zumindest eine gezielte CO2-Reduktion mehr Sinn ergeben würde? Die britische rechtsliberale Nichtregierungsorganisation Net Zero Watch wirbt zum Beispiel für den schwedischen Weg im eigenen Land. „Die Nähe zu Russland schärft den Geist“, schreibt die Organisation, – und das schwedische Volk möchte nicht nur der Nato beitreten, sondern auch seine Wirtschaft mit der Atomkraft auf eine Energiequelle stützen, die im Gegensatz zu erneuerbaren Energien „physisch gesund und sicher ist“.
„Rechtskonservative sehen in der Kernenergie seit Jahrzehnten den heiligen Gral“, kommentiert der Ingenieur und Professor für erneuerbare Energiesysteme an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin, Dr. Volker Quaschning, gegenüber der Berliner Zeitung. „Für sie bietet die Kernenergie die Möglichkeit, zu erzählen, es könne alles so bleiben wie es ist und brauche kaum Veränderungen, wenn wir nur weiter auf die Kernenergie setzen.“ Das habe aber noch nie so gestimmt und werde auch künftig nicht stimmen, darauf besteht der Energieexperte.
Quaschning stützt seine These mit dem Hinweis auf die weltweit installierte Leistung an Kraftwerken bis 2020: „Es gibt seit den 1990er-Jahren praktisch keinen Zuwachs, während deutliche Steigerungen bei den Erneuerbaren und (leider auch) bei den Fossilen zu verzeichnen sind“, erklärt Quaschning. Sein Urteil: Die Diskussionen über die Kernkraft würden uns nicht weiterbringen. „Es gibt derzeit keinen plausiblen Grund, warum sich das ändern sollte“, ist Quaschning überzeugt.
Berliner Ingenieur kritisiert: „Keine Zeit mit sinnlosen Diskussionen verlieren“
Der Ingenieur berechnet: Möchte Deutschland, ähnlich wie Schweden, die Hälfte seines Gesamtenergiebedarfs durch die Kernenergie decken, bräuchten wir jetzt etwa 100 neue Kernkraftwerke. Der Primärenergieverbrauch in Schweden liegt bei gut einem Sechstel des deutschen Verbrauchs, und trotzdem würde das Land eine große Zahl an Kernkraftwerken benötigen. „Diese müssten in den nächsten 15 Jahren ans Netz gehen: Eine reine Illusion.“
- Kernkraftwerke sind erheblich teurer als erneuerbare Energien;
- Erneuerbare Energien liefern stark fluktuierenden Strom, während Kernkraftwerke in der Regel durchlaufen. Die aktuelle Kraftwerkstechnik, so der Energieexperte, eigne sich nicht zum Ausgleich großer Fluktuationen der Erneuerbaren. Reaktoren, die das leisten könnten, würden die Kosten weiter deutlich nach oben treiben und die Kernenergie unbezahlbar machen;
- Die Rohstoffreserven von Uran sind sehr begrenzt, und Russland kontrolliert zudem einen Großteil des weltweiten Uranabbaus und der Urananreicherung. Der Ausbau der Kernenergie würde derzeit auch die russische Politik und die russische Regierung unterstützen, so Quaschning. Ein Boykott russischer Nuklearprodukte stehe in Europa zudem gar nicht zur Diskussion, da diese nicht durchsetzbar wäre;
- Die Kernenergie hat ein hohes Sicherheitsrisiko, wie wir das auch aktuell wieder bei der Sorge um die ukrainischen Reaktoren in Saporischschja erleben.
„Darum sollten wir jetzt endlich die erneuerbaren Energien im nötigen Tempo ausbauen als weiter Zeit mit sinnlosen Diskussionen um ein paar wenige Kernkraftwerke zu verlieren“, fordert Quaschning. Alternative Möglichkeiten sieht er für Deutschland nicht.
Energieberater über Deutschlands Weg: „Wir haben keinen Mangel an ehrgeizigen Zielen“
Der Diplom-Ingenieur für Energie- und Verfahrenstechnik Dr. Dr. Håvard Nymoen sieht das Thema etwas differenzierter. Nymoen ist geschäftsführender Partner bei der Berliner Energieberatungsfirma Conenergy Consult und ein Kenner der europäischen und deutschen Energiewirtschaft. „Ich würde Schwedens Fokus auf die Kernkraft nicht als einen Sonderweg beschreiben“, sagt Nymoen der Berliner Zeitung. Es sei aber Deutschlands Sonderweg gewesen, aus der Atomkraft auszusteigen und den Fokus auf die erneuerbaren Energien zu legen. Ob dadurch ein Mangel an Alternativen entsteht? „Wir haben jedenfalls keinen Mangel an ehrgeizigen Zielen, die zur Klimaneutralität führen. Aber ich glaube, es wird sehr herausfordernd sein, diese Ziele zu erreichen“, sagt Nymoen.
Fairerweise muss man erwähnen, dass auch Italien bereits vollständig aus der Atomkraft ausgestiegen ist. Belgien und die Schweiz planen das auch – in Tschechien, Ungarn, Slowenien, Rumänien und Bulgarien laufen die Atomkraftwerke jedoch deutlich länger als in Deutschland. Spannenderweise war es gerade die schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg, die Deutschland für die Abschaltung der AKWs zugunsten der Kohle kritisierte. In Schweden ist Deutschland übrigens über den verstaatlichten Energieversorger Uniper an drei Atomanlagen beteiligt: Man will sie nur nicht im eigenen Land haben.

Das Problem mit der zusätzlichen Absicherung in Deutschland entstehe, bemängelt unser Gesprächspartner, weil die Stromerzeugung in Deutschland zwar richtigerweise stark in Richtung der erneuerbaren Energien gehe. Aber durch den Ausstieg aus Atom und Kohle fehle es perspektivisch an regelbaren Kraftwerken. Für den Bau der Gaskraftwerke mit einer Gesamtkapazität von mindestens 15 Gigawatt, die auf Wasserstoff umrüstbar sein sollen, gebe es mit dem aktuellen Marktdesign keine ausreichenden Anreize. Und auch der grüne Wasserstoff, dieses Produkt der erneuerbaren Energien, wird keine schnelle Lösung werden: Laut Bundesregierung müssen 50 bis 70 Prozent des in Deutschland benötigten Wasserstoffes per Schiff oder Pipeline ebenfalls importiert werden. Nymoen glaubt trotzdem nicht, dass es zu kurzfristigen Engpässen kommt. Eine Absicherung sei auch die Vernetzung im europäischen Stromsystem, sprich: Stromimporte aus Nachbarländern. Eine Absicherung, die im Übrigen durchaus in beide Richtungen gehe, wie der letzte Sommer mit großen Stromexporten aus Deutschland nach Frankreich gezeigt habe.
Der schwedische Weg hat allerdings auch eine andere Seite der Medaille. Die schwedische Koalition plant, den Biokraftstoffmix in Benzin und Diesel zu reduzieren, was zu höheren CO2-Emissionen führen würde. Die Regierungskoalition begründete die Entscheidung damit, dass die Beimischungsquote zu teureren Preisen für Verbraucher führe, für den Klimaschutz aber unwirksam sei. Auf den Plan der bisherigen Regierung, eine weitgehende Umrüstung der Pkw auf Biokraftstoffe und E-Fuels zur Hälfte zu fördern, hat die neue Regierung verzichtet. Umweltschützer kritisieren zudem eine Vereinfachung von Umweltgenehmigungen: So will die Regierung den Ausbau der Windkraft beschleunigen und den Bergleuten ermöglichen, auf große Vorkommen Seltener Erden zuzugreifen, unter anderem für die Herstellung von Elektromotoren.





